Brief vom 25. November 1764, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 25. November 1764

Berlin den 25 Nov. 64.

Mein theürester Freünd.

Ich bin vor 8 Tagen von meiner Reise glüklich wieder hier angekommen, und habe Ihnen so viel zu sagen, daß ich kaum weiß wo ich anfangen und wie ich in der Zerrüttung meiner Vorstellungen es machen soll um Ihnen alles zu sagen. Es war die höchste Zeit, daß ich hier eintraf, weil sonst zu befürchten gewesen, daß die Jfr. Meisterin mich nicht abgewartet hätte, so sehr fieng das Heimweh an bey ihr überhand zu nehmen, wie sie mir selbst gestanden hat. Die Wahl, welche Sie mein theürester in dieser Person getroffen haben, scheinet mir so glüklich, daß ich meinen Kindern und mir von ganzem Herzen Glükwünsche, und daß ich mein äußerstes thun werde, ihr den hiesigen Aufenthalt angenehm und auch für sie selbst nüzlich zu machen. So viel ich nur seit zwey Tagen, da sie mit meinen Kindern bey mir ist habe sehen können, so scheinet mir daß diese sich schon sehr fest an Sie halten und sich gerne von ihr werden ziehen laßen. So bald ich nun aus der ersten Verwirrung meiner Gedanken werde zu mir selbst gekommen seyn, werde ich Ihnen einen Plan von ihrer Lebensart und Beschäftigungen entwerffen, der, wie ich hoffe beyden theilen angenehm und nüzlich zugleich seyn soll.

Man hat mich wieder hieher beruffen, ehe ich den ganzen Plan meiner Reise erfüllen konnte. Ich bin nicht nach England gekommen, sondern habe den fürtrefflichen Engländer, den ich in sein Land begleiten wollte in Brüßel müßen verlaßen, weil man mir schrieb, daß der König noch vor Ausgange dieses Monats die neüe Stiftung, wozu ich beruffen bin, zu stande bringen würde. Es haben sich aber Hinterniße dabey gefunden, welche die Sache wenigstens noch ein paar Monate verzögern werden. Indeßen habe ich unsern Füßli dem Hrn. Mitchell auf das beste empfohlen. Er hat mir versprochen nach Möglichkeit sich seiner anzunehmen. Seit bald 6 Monaten weiß ich gar nichts von ihm, das für ihn gesammelte Geld ist schon längstens ausgegeben und ich habe seit dem (welches aber Ihnen allein gesagt sey) 200 Gulden vorgeschoßen, die aber gegenwärtig auch schon müßen verzehrt seyn. Nun erwarte ich mit nächstem von dem Hrn. M. selbst umständliche Nachricht über das, was wir etwa seinethalber zu hoffen haben.

Bey meiner Zurükkunft fand ich zu meinem größten Verdruß, daß der Noah gegen das ausdrüklichste Versprechen, nicht nur nicht fertig, sondern beynahe noch da war, wo ich ihn gelaßen habe; nur der Kupferstecher allein hatte sein Wort gehalten, und seine arbeit gemacht. Auch Füßli selbst hatte die noch fehlende 4 Zeichnungen nicht geschikt. Izt müßen wir bis auf das Neüe Jahr warten um welche Zeit das ganze Werk wird fertig seyn. Doch glaube ich, daß der Buchführer es nicht vor Ostern auf die Meße bringen wird, weil die Neüjahrsmeße allzuwenig bedeütet. Mit den Kupfern bin ich wol zufrieden, für Kenner sind sie gewiß gut. Den Füßli habe ich ernstlich getrieben die noch fehlende Zeichnungen mit ehestem herzuschiken. Geschiehet es nicht, so habe ich hier einen Mahler an der Hand, der sie machen soll, so daß dieses uns nicht länger soll aufhalten.

Durch die Jfr. Meisterin habe ich ihren Salomo erhalten, der freylich ein ganz andrer Man ist, als Kl. seiner, aber ich fürchte doch, daß die Oeconomie des Stüks keine genaue Prüffung ausstehen würde. Wenn ich ihren Entwurff recht gefaßt habe so ist er dieser. Salomons Thorheiten geben dem Moloch Gelegenheit den Anschlag zufaßen ihn seinem ganzen Volk abscheülich zu machen. Dieser Anschlag fängt an ihm zu gelingen, aber der Betrug wird entdekt und dieses führt den König in sich selbst zurüke, er erkennt seine tolle Vergehungen und kehrt zur Weißheit zurüke.

Gegen diesen Plan kan vieles eingewendet werden. Die Maschine, worauf das ganze Stük beruhet scheinet nicht nöthig. In den Außschweiffungen des Königs liegt schon ein hinlänglicher Grund ihn verhaßt und verachtet zumachen. Diese Verachtung kann natürlicher Weise schon soweit ausbrechen, daß Salomo anfängt zu stuzen, in sich selbst zu gehen, auf eine sehr tragische Weise den Abgrund seines Elends zufühlen und denn zurükzukehren. Nach diesem Plan, wird er unser Mitleiden stärker erregen, und wir werden beßere Gelegenheit bekommen, die Abscheühlichkeit seiner Stellung vor seiner Wiederkehr zur Weißheit, einzusehen. Zweytens wird man Ihnen sagen können, daß ihre Maschine an sich zu wiedrig sey, als daß sie eine gute tragische Würkung hervorbringen könnte. Drittens, daß ein solcher teüflischer Anschlag auch gegen den besten König hätte können vorgenommen werden. Denn wenn Salomo so weise, wie Nathan gewesen wäre, so war es doch möglich, daß eine rechtmäßige Zärtlichkeit ihn eben so lange bey einer gesezmäßigen Gemahlin gehalten hätte, währender Zeit ein Dämon unter seiner Gestallt die abscheülichsten Gottlosigkeiten ausführen können. Sie wären zwahr alsdenn dem Volke unglaublich gewesen, aber wer kann sich erwehren seinen Augen zuglauben? Viertens wird man Ihnen sagen, warum sich die göttliche Macht gegen die Teüffel erst bey der Aufruffung des Schattens und nicht vielmehr, bey der weit ernstlichern Gelegenheit, da die unschuldigen izt in Molochs Glüende Arme sollten gelegt werden, geoffenbaret habe. Und ich fürchte, daß Sie kaum auf diese Frage eine andre antwort würden geben können, als die von dem Zwang ihres Plans hergenommen ist. Überhaupt scheinet mir dieses eine der wesentlichsten Regeln des Trauerspieles zu seyn, daß die Hauptverwiklung aus dem Charakter oder den Umständen der Hauptperson nothwendig entstehe und nicht durch etwas blos Zufälliges veranlaset werde. Denn sonst fällt nothwendig die Hauptwürkung weg. Wie soll mir das Laster oder die Thorheit darum abscheühlich werden, daß sie nicht nothwendig, sondern ganz zufällig abscheühliche Würkungen gehabt hat? Sie müßten hierauf sagen wollen, Gott würde dergleichen Teüffelsche Anschläge, wie gegen Salomo gemacht worden, nicht erlaubt haben, wenn er nicht so tieff vorher gefallen wäre. Dieses aber könnte, als ein noch unausgemachter Saz, aus der Schultheologie angesehen werden.

Indeßen sind dieses Zweifel, die mir beym Lesen eingefallen sind, vielleicht können Sie dieselben heben. Übrigens finde ich die Charaktere der Personen freylich der Natur sehr viel gemäßer, als sie durchgehends bey Kl. Sal. sind, aber dieses allein ist zur guten Tragedie noch nicht hinreichend.

Kl. hat für seine Freünde das Ende der Meßiade, welches in Lyrischen VersArten geschrieben ist und meistens aus Antiphonien Zweyer Chöre besteht, druken laßen, um ihre Gedanken über die Versarten zu vernehmen. Man hat mir keine Abschrift davon erlauben wollen. Es hat mir geschienen, daß er darin die Versezung der Wörter, die Auslaßung der uns gewöhnlichen Artikel und Vorwörter und fast die ganze deütsche Syntaxis bis zur Barbarey verkehrt habe. Ich kann mir nimmer mehr vorstellen, daß ein Mensch solche monstrueüse Veranderungen der Sprach, da sie auf einmal vorgenommen werden, gut heißen sollte. Und so, wie er das mechanische der Sprach darin übertrieben hat, scheint er mir auch den Ausdruk und die Empfindung selbst ins Abentheüerliche getrieben zu haben.

Die Zurechtweisung des Armen Sünders, deßen Bibliothek andern Armen Sündern ein so wichtiges Buch scheinet, hat mir ungemein wol gefallen. Mich dünkt, daß darin gerade der Ton herrscht, den man gegen diese Leüthe annehmen muß. Von allen den neüen thorheiten Wielands, habe ich nichts gesehen. Meine Academische Arbeit, und mein Wörterbuch laßen mir würklich keine Zeit übrig mich in der neüen Literatur umzusehen, zumahl da so wenig daraus zu lernen ist.

Zur Verminderung ihrer Befremdung, daß Marcus Brutus hier zu Lande keinen Verleger gefunden hat, muß ich Ihnen sagen, daß Lambert eine Metaphysik geschrieben hat, die sein Organon noch übertrifft, und daß er in Berlin und Leipzig auch auf die gelindeste Foderungen keinen Verleger gefunden hat und ihn izt in Halle sucht, noch ungewiß ob er ihn finden werde. Aber Formey und Gottscheden hat es noch niemal gefehlt.

Ich habe mit Betrübnis den Artikel ihres vorlezten Briefes gelesen, darin Sie der Controversen zwischen unsern Freünden, dem weltlichen und Geistlichen Rectori erwähnen. Ich habe leider dergleichen Scenen erlebt, ohne sie mildern zu können. Man fehlt, wie insgemein auf beyden Seiten, aber unser K. ist von einer Heftigkeit die alle Maaß überschreitet und auf eine unter so vernünftigen Menschen unerhörte Weise eingenommen, so oft persönliche oder Familien Angelegenheiten abzuhandeln sind. Es scheinet bald, daß die Freündschaft, die ich mit dem einen unterhalte, das Zutrauen des andern gegen mich geschwächt habe. Aber ich liebe sie gewiß beyde, und keiner hat über mich zu klagen. Ich umarme Sie vom ganzen Herzen, und empfehle mich der Fr. Profeßorin, und sage ihr den verbindlichsten dank, daß Sie geholffen hat der Jfr. Meisterin Muth einzuflößen.

Leben Sie vergnügt mein theürer Freünd und fahren Sie fort mich zu lieben.
JGS.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a.

Eigenhändige Korrekturen

daß er darin
daß ⌈er⌉ darin

Stellenkommentar

vor 8 Tagen von meiner Reise
Zu Sulzers Reise nach Spa und Brüssel siehe Kommentar zu Brief letter-sb-1764-08-14.html.
in sein Land begleiten
Der Frieden zwischen den europäischen Nationen erlaubte dem britischen Gesandten Andrew Mitchell, nach England zurückzukehren. In seiner Funktion als Botschafter hielt er sich ab 1765 wiederholt in Berlin auf und verstarb dort am 28. Januar 1771.
die neüe Stiftung
Die von Friedrich II. gestiftete Ritterakademie nahm ihren Betrieb in der Burgstraße schließlich 1765 auf. Vgl. Nicolai Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam 1779, Bd. 2, S. 522 f.
der Kupferstecher
Der Berliner Maler und Kupferstecher Christian Gottfried Matthes.
noch fehlende 4 Zeichnungen
Vgl. Brief letter-sb-1764-02-07.html. Die fehlenden vier Vignetten zum sechsten, siebenten, elften und zwölften Gesang wurden später von Bernhard von Rode gezeichnet und von C. G. Matthes erst 1765 kurz vor dem Druck gestochen. Siehe auch Tafel 26.
ihren Salomo
Zur Diskussion um Klopstocks und Bodmers »Salomo«-Dramen vgl. die Briefe letter-bs-1764-02-18.html, letter-bs-1764-08-11.html und letter-bs-1764-08-30.html.
das Ende der Meßiade
F. G. Klopstock, Fragmente aus dem XXten Ges. des Mess., 1764. Vgl. dazu Kommentar zu Brief letter-bs-1764-07-07.html.
Zurechtweisung des Armen Sünders
Nicht ermittelt.
eine Metaphysik
J. H. Lambert, Anlage zur Architectonic, 1771. Vgl. Brief letter-sb-1764-06-26.html.
den Artikel ihres vorlezten Briefes
Zur Kontroverse zwischen Johannes Sulzer und Martin Künzli siehe Brief letter-bs-1764-08-11.html.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann