Brief vom 26. Juni 1764, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 26. Juni 1764

Berlin den 26 Junij.

Künftig werde ich genauer seyn, mein theürester Freünd, den richtigen Empfang ihrer Briefe zu melden. Es fehlt mir von allen, die Sie von Anfang dieses Jahrs bis auf den 26 May geschrieben haben keiner. Folglich habe ich auch alle Zusäze und Verbeßerungen zur Noachide. Wenn ich Ihnen meine äußere und innere Umstände abbilden könnte, so würden Sie daraus sehr wol begreiffen, daß mir verschiedene Nachläßigkeiten müßen übersehen werden. Seit dem ich mein verkauftes Haus verlaßen habe, lebe ich wie in einem Gasthof, und von meinen Sachen habe ich nichts in der gehörigen Ordnung um mich, als die Noachide und mein Lexicon. Ich konnte mir keine ordentliche Wohnung miethen, weil der König versprochen hat mir eine zugeben, und seit 3 Monaten hoffe ich jede woche sie zu bekommen. Dieses hintert mich an einer ordentlichen Einrichtung. Der Mangel derselben zieht so viel andre unbequämlichkeiten nach sich, daß ich nur wenige Stunden des Tages recht bey mir selbst bin: Jede gute Stunde aber wende ich auf mein werk, weil es mich dünkt, daß die dazu nöthige Begriffe und Gedanken izt sich so sehr angehäuft und zugleich so angeordnet haben, daß ich nicht mehr viel umsonst arbeite.

Zum Druk der Noachide, denn so werde ich dies werk nun immer nennen ist nun alles veranstaltet. Ich habe Füßli geschrieben, daß ich die Zeichnungen zu den Vignetten binnen 3 wochen erwarte und wenn sie denn nicht kommen, sie nicht mehr brauchen werde. Mit ehestem sollen Sie die Probe des Formats u. Druks erhalten. Seit dem Füßli mir durch zwey Zeilen seine Ankunft in London gemeldet, weiß ich so wenig von ihm, als wenn er nicht mehr in der Welt wäre. Er hatte bey seiner Abreise noch 20 Louis d’or in meinen Händen gelaßen, und Millar hatte ordre ihm solche, so wie er etwas benöthiget seyn würde zu geben. Seit dem habe ich Millar geschrieben, er soll ihm allenfalls überdies noch 20 Pfund Sterl. geben. Aber, wie gesagt, ich vernehme gar nichts von ihm, ob er gleich die Bequämlichkeit hat alle wochen 2 mal ohne Umkosten zu schreiben, weil seine Briefe mit den depechen des Hofes herüber kommen können. Ich fange an sehr für ihn besorgt zu seyn. Es ist ihm beynahe unmöglich sich etwas außer sich selbst umzusehen.

Ich bereüe es sehr, daß ich dem jungen Schulth. die exempl. der Karschischen Gedichte mit gegeben habe, da ich vorher gewußt mit was für einem schlechten Menschen ich zu thun hatte. Aber der Tropf versprach mir das Paquet in die Kutsche zu nehmen und alles bestens zu besorgen. Indeßen sollen Sie an statt der verdorbenen Exemplare andre haben; aber es geht vor der Michaelis Meße nicht an.

So ist den der ehrliche Philokles von uns gegangen! O! daß ich Ihnen diesen Verlust ersezen könnte, so weit er zu ersezen ist! Aber ich begreiffe, daß weder ich noch sonst irgend ein andrer einen solchen Man ersezen könnte. Ich hingegen habe einen neüen Freünd bekommen. Denn nun ist Spalding hier, und seine Gegenwart wird einen merklichen Einfluß auf mich haben. Denn außer Germershausen, der allzusehr mit Geschäften überhäuft ist, habe ich einen solchen Freünd noch nicht in der Nähe gehabt. Auch seine Frau ist so, daß sie allemal die dritte in der Gesellschaft seyn kan, und von seinen töchtern verspreche ich mir, daß sie die beste Gesellschaft für die meinige seyn werden.

Wir müßen die lezte Verabredung wegen der Jfr. Meisterin so lange verschieben, bis ich zuverläßig weiß, wenn ich meine Neüe Wohnung werde beziehen können. Vor Michaelis wird ohne dem aus ihrer Reise nichts werden können. Es versteht sich von selbst, daß ich die Umkosten der selben tragen würde.

Hr. Lambert arbeitet izt an einer neüen Metaphysik, die gewiß eben so fürtrefflich, als sein Organon seyn wird. Es thut ihm doch sehr viel Schaden, daß er sich so gar wenig in die Moden der Welt schikt. Sein äußerliches Ansehen und seine Manieren haben etwas an sich, das ihm Nachtheilig ist. Ich erinnere mich izt, daß Sie mir ehedem von ihm geschrieben es steke ein Leibniz und noch dazu ein halbes Duzend Eüler in ihm. Je mehr ich ihn kennen lerne, je weniger finde ich dies Urtheil übertrieben. Ich habe dem engl. Gesandten Lust gemacht ihn zu unterstüzen. Er biethet sich an, ihm alles zu verschaffen, was nöthig ist die weitläuftige experimenta zu seiner pyrometrie zu machen. Als ich ihm dieses ankündigte mußte ich doch über ihn lachen, als er mir nach einem Augenblik eines ernsthaften Nachdenkens sagte. „Er wird es so verstehen wie es in England mehr oder weniger Mode ist, daß ich das Werk bey ihm ausarbeiten und denn unter seinem Namen herausgeben soll.” Als ich ihn sehr nachdrüklich versichert, daß man unendlich weit von diesen Absichten entfernt sey und blos aus Liebe zur Wißenschaft den Antrag machte, konnte er doch noch nicht über diese kindische Vermuthung roth werden.

Wenn ich Ihnen von dem Tode des ersten erschaffenen meine Meinung ohne alle Rükhaltung sagen soll; so wird sie darauf hinauskommen, daß diese Schrift mir als ein Gerippe zu einem sehr guten Stük vorkomt. Sie enthält den Plan, einige schon etwas ausgeführte, andre blos angelegte Scenen, aus denen man ein sehr gutes Stük machen könnte. Aber so wie es ist, ziehe ich es dem Tod Adams vor, ob ich gleich nicht glaube, daß es in seiner Gegenwärtigen Gestallt viel Beyfall finden würde. Mir scheint überhaupt die Zeit gekommen zu seyn, daß man in der deütschen Dichtkunst nicht mehr Proben, Versuche p. sondern ausgearbeitete Werke geben muß. Klopstoks Salomo ist zwahr ein solches; aber doch gefällt es mir nicht. Es ist an gar zu vielen orten übertrieben und man muß eben so enthusiastisch in der Freündschaft und Religion seyn, als er um das dabey zufühlen, was er im Gefühl erweken will. Ich kann mich nicht überwinden dies Trauerspiel noch einmal zu lesen um es näher zu beurtheilen. Mit dergleichen Werken, werden wir uns bey den Ausländern wenig in Credit sezen. Der große mänliche Verstand der alten, ihr gesezter Sinn, und auch ihr Fleis scheinet gar ofte zufehlen. Wir übertreiben bisweilen die Empfindungen und suchen eine gewiße Üppigkeit des Herzens einzuführen, die der Natur entgegen ist. In diesem Stük hat Klopstok meines Erachtens einige Verdorbenheit in den Geschmak eingeführt.

Ihre Todten Gespräche sind nach meinem Sin fürtrefflich und gehen über alle von dieser Art, die mir bekannt sind. Diese Art scheint mir bequähmer, als das politische Trauerspiel, gewiße politische und moralische Wahrheiten in ein rechtes Licht zu sezen. Wegelin ist und bleibt ein rechtschaffener Man und trefflicher Kopf. Es ist ein Unglük für ihn, daß er so sehr weit über seine Mitbürger heraus sieht.

Ich weiß nicht, wie ich es aufnehmen soll daß der Dr. Hirzel mir nichts auf einen Brief antwortet, darin ich ihm zu seiner Zwölfer würde Glük gewünscht, und meine Erwartungen von ihm geäußert habe.

Der Hr. Füßli vom FeüerMörsel hätte mir also die Mühe spahren können, seinem Sohn eine Condition zu suchen. Überhaupt wünschte ich, daß die Leüthe wüßten, daß ich so wenig geschikt bin ein commisionarius andrer zu seyn, daß ich selbst hier auf der Stelle, verschiedene Geschäfte durch andre thun laße. Es versteht sich von selbst, daß ich mich in nothwendigen Fällen, wo sich die Sache sonst nicht thun ließe, sehr gerne brauchen laße. Nur möchte ich nicht gerne als ein Censal angesehen werden, den man brauchen kann, wenn es einem einfällt, es sey nothwendig oder nicht. Ein einziger Gang, an einem so weitläuftigen orte, wie Berlin ist, kostet oft einen ganzen Tag, der dadurch zu andern Verrichtungen unbrauchbar wird. Dieses aber soll Sie gar nicht abhalten mir Sachen aufzutragen, die sonst nicht könnten anders bestellt werden.

Ich weiß kaum noch ob unsre Freünde in W. leben oder nicht, so sehr lange laßen Sie mich ohne Nachricht. Durch Hrn. Rahn habe ich erfahren, daß unser Pr. Fr. in Wint. wieder beßer ist. Es ist gut daß der ehrliche W. nun eben so nöthig nicht hat nach einer Abändrung sich umzusehen.

Ich wünschte, daß Sie nun die Zeit, die Sie auf den Briefwechsel mit Philokles gewendet haben mir vergönneten und daß ich wenigstens alle 6 Wochen einen von Ihnen bekäme. Unser Hr. Rector, der mir sonst sehr ordentlich geschrieben, wird hierin auch sehr nachläßig. Grüßen Sie alle unsre Freünde herzlich von mir.

Sie mein theürester umarme ich von ganzem Herzen.
JGS.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a.

Eigenhändige Korrekturen

Als ich ihn sehr
Als ich ich ihn sehr
daß diese Schrift
daß es diese Schrift

Stellenkommentar

mein verkauftes Haus
Vgl. Kommentar zu Brief letter-sb-1763-02-17.html.
ordentliche Wohnung
Sulzer bezog schließlich eine Wohnung in der Heiliggeiststraße 7. In der Straße lebte auch Karl Wilhelm Ramler und nicht weit davon entfernt befanden sich die Wohnungen von Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai.
Füßli geschrieben
Nicht ermittelt. Vgl. zu Füsslis Zeichnungen zur Noachide den Kommentar zu Brief letter-sb-1764-02-07.html.
durch zwey Zeilen
Vgl. Brief letter-sb-1764-05-08.html.
Millar geschrieben
Nicht ermittelt.
seine Frau
Maria Dorothea von Sodenstern wurde am 2. März 1764 Spaldings zweite Ehefrau.
Jfr. Meisterin
Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1764-04-14.html.
an einer neüen Metaphysik
Johann Heinrich Lamberts metaphysische Schrift erschien als Anlage zur Architectonic, oder Theorie des Ersten und des Einfachen in der philosophischen und mathematischen Erkenntniß, 1771.
ehedem von ihm geschrieben
In Brief letter-bs-1761-12-08.html.
weitläuftige experimenta zu seiner pyrometrie
J. H. Lambert, Pyrometrie oder vom Maasse des Feuers und der Wärme, 1779.
dem Tode des ersten erschaffenen
J. J. Bodmer, Der Tod des ersten Erschaffenen, 1776.
über alle von dieser Art
Zur Gattungsgeschichte der Totengespräche vgl. Suitner Die philosophischen Totengespräche der Frühaufklärung 2016 und Rutledge The dialogue of the dead in eighteenth-century Germany 1974.
einen Brief
Sulzer an Hirzel, Berlin, 3. Dezember 1763 (ZB, FA Hirzel 237, Nr. 98).
Der Hr. Füßli vom FeüerMörsel
Bei der Angabe des Namenzusatzes »vom Feuermörser«, der auf die Familie des Zünfters zum Meisen Hans Rudolf Füssli (1709–1793), Vater des Johann Heinrich, angewandt wurde, handelt es sich um einen Irrtum Sulzers. Die Glockengießer Füssli (vgl. Brief letter-bs-1763-12-15.html) gehören einem unterschiedlichen Familienzweig an. Darauf verweist Bodmers Nachtrag »Zeugherr« am Seitenrand. Bodmer strich jedoch den irreführenden Zusatz nicht durch, sondern unterstrich ihn mit einer Wellenlinie.
Censal
Häufiger »Sensal«. Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1764-01-21.html.
unser Pr. Fr. in Wint.
Pfarrer Jakob Frieß in Winterthur. Siehe die Erwähnung seines Anfalls in Brief letter-bs-1764-05-26.html.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann