Brief vom 11. August 1764, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 11. August 1764

Wir haben in Winterthur die tage des goldenen Weltalters, welche sie vor 18. Monaten zu uns gebracht haben getheilt von schmerz und freude, wiederholet. Lavater und Felix Heß waren bey uns, aber Waser war verreist, sich von der Furcht daß er pfarrer Frieß werden muste, zu erholen. Unsere lieben Männer Hr. Schuldheiß und Hr. Rector haben bisweilen Civilcontroversen mit einander, die sie nicht haben sollten. Der erstere hat mir nicht vertraut was er aus ihnen wollte gemachet haben wenn die Königliche Macht sie uns gegönnet hätte. Er hat seine geheimnisse. Jeder von ihren Freunden in W. würde Sie gerne nach seiner Neigung versorget haben wollen. Wir haben in der Rükreise das vergnügen gehabt dem Hr. amtmann von Husen zu begegnen.

Unser Chorherr hat beyden Rectorn von W. dem politischen und dem scholastischen, Wege zeigen wollen, wie sie zween professores, einen in der Theologie, den andern in der philosophie aufstellen könnten. Der leztere sollte ein politicus seyn, und niemand müste den Zugang zu dem stadtschreiberamt haben, der nicht ein paar jahre dieses professorat bedienet hätte; und dise Anwartschaft müste seine Belohnung seyn.

Das Trauerspiel Salomo hat ein strenges Gericht ausstehn müssen. Gradation in Salomos Verwirrung finden zu wollen, ist so viel, sagte man, als cum ratione insanire velle. Wir bekamen gleich damals den Artikel, in welchem das stük so übertrieben gelobt wird. Man kann auf diese art alles loben. Indessen blieb uns das Gute darinnen nicht verborgen. Klop. ist immer in kleinen Schönheiten groß, aber diese sind oft am unrechten Ort; [→]zum Ex. da Chalkol von der Opferung der Knaben kömmt, und Darda ihn fraget, was er neues von dem Ölberge brächte, sagt er: Lieblich weht die morgenluft auf ihm. – Unser Wegelin denkt ganz vortheilhaft von diesem Werk. Er hat ein Gespräche zwischen Salomo und Chalkol gemacht, in welchem er glaubt Salomos trübsinnige gemüthsfassung durch alle grade durchgehen lassen zu haben; er will da einen moralischen und psychologischen Zusammenhang gefunden haben, ohne daß er dem poeten etwas gelehnet habe. Aber er hat uns nur die macht der prædilection verrathen.

Nachdem diese dinge in etlichen Sessionen [→]in welchen auch die Jgfr. Regel ihr Richteramt führete, abgehandelt waren, hatte einer von uns die Kühnheit ein neues trauerspiel von demselben Sujet zu lesen. Salomo ist da nur ein Weibischer Mann, der seinen Königinnen erlaubt den Göttern, die er selbst für undinge hält, Altäre zu bauen; er selbst hat die gefälligkeit in ihre Haine zu gehen. Aber ihn vor Jerusalem stinkend zu machen nimmt Moloch seine Gestalt an; indem Chamos ihn in den Armen einer Königin einschläfert, opfert der falsche Salomo auf die bitte einer andern Königin die Knaben. Er denket und handelt wie bey Klopstok der wahre.

That ich Klopstok nicht unrecht, da ich ihn schwach genug hielt den Tod des ersten Erschaffenen für eine Beleidigung aufzunehmen, wieviel mehr würde der neue Salomo ihn aus der Fassung sezen? Breitinger und Künzli wollen bemerkt haben, daß Kl. die Geschicklichkeit nicht habe seinen personen starke moralische Gründe oder nur sophismen in den mund zu legen. Es ist ein kleines lob daß unsere Dichter in der ausarbeitung groß seyn, die oft so ängstlich ist daß das werk durchbrochner arbeit ähnlich wird. Mich mögen die Weisen dafür züchtigen, daß ich meinen personen die gesezte sinnesart gebe, welche an den Höfen und bey der artigen Welt Chimären sind. Ein poet muß eben so viel stärke haben, das mißfallen dieser leute zu verachten als ein wahrer Tugendhafter. Das elende urtheil, das Gleim von der Heloise gefällt hat, bedeutet nichts Gutes für die Werke die er mit Entzükung gelobet hat.

Das angenehmste, das mir in Winterthur begegnete, war der Empfang ihres liebsten Schreibens vom 21. Jul. Wie viel bin ich ihnen schuldig daß sie sich der verlassenen Noachide annehmen, und mit solchem Nachdruk? Ich muß glauben daß sie einiges verdienst habe, weil sie sich mit ihr so gern bemühen. Ich erwarte alle posttage daß der König sie in den nöthigen Beharrungsstand gesezt habe; mich tröstet indessen, daß sie in ihrem GasthofsLeben ihr Werk so weit gebracht haben, daß sie darüber weg sehen. Ich hatte keine Hoffnung daß Füßli die Zeichnungen schiken würde; es ist eine Anzeige daß er nicht so distrahirt ist wie wir glaubten; er muß in guter laune seyn, wenn er arbeiten soll. Ich sehe daß ich ihm nicht gleichgültig bin, indem mir überaus lieb ist, daß er der Noachide disen schmuk gegeben hat. Er wird uns nicht schreiben wollen bis er uns mit angenehmen Nachrichten erfreuen kann.

Ich habe nicht gefunden daß die Frau Collyer Geßners Abel mehr mißhandelt habe, als Dacier oder Pope Homers Ilias. Aber Geßner und Homer sind sehr mißhandelt. Warum schreit man so daß die Messiade mißhandelt worden, und litt so geduldig daß die Ilias und die Odyssee verkleidet wurden?

Ein gerücht gehet daß der grosse Haller wider nach Göttingen gehen werde.

Breitinger will eine Excursion nach St. Blasi machen, wo gelehrte patres sind mit welchen er briefe wechselt. Der pater Gerbert hat seltene Entdekungen von der Musik der Alten gemacht; Sie haben uns von einem manuscript des Pindarus mit musicalischen Noten gesagt, das in der Königl. Bibliothek liegt; Wenn sie sich darüber in einigen Zeilen erklären wollten, so könnten wir dem wakern Pater damit eine Freude machen.

Vorigen sonntag haben Lavat. und Heß vor den Hhn. Examinatores rationem peregrinationis abgeleget. Sie machten von Hn Spaldings denkungsart und predigten einen Charakter, der mit dem Charakter unserer Antistitum sehr absticht. Sie gaben auch Krugold geradezu für einen Christen. –

Der von poesie und Ernst abgefallene Wieland läst in Ulm Contes drücken, in reimen, in welchen er die Hexameter abschwört. In einem derselben, Juno und Ganymed betitelt machet er tanquam ex professo Socrates und Plato lächerlich. Er übertrift Crebillon an unmoralität. Soll ich mich schämen, daß ich so zärtliche Freundschaft für ihn gehabt? Soll ich, wie Darda, aus freundschaft sein Elend nicht glauben, nicht sehen und nicht hören?

Für die Jgfr. Meisterin wollen so viel möglich ist, sorgen. Von dem Frieß hab ich kein Wort gewust. Izt hör ich daß er unerbittliche blutsverwandten hat.

Lavater hat Füßli von sachen, die ihn sehr interessiren nur halbe Neuheiten geschrieben, er glaubt, daß er ihm damit den mund eröffnen könne.

Der Füßli, der bey Winkelman gewesen, der gegen Eschers Ball geschrieben, hält sich vortrefflich. Leben sie munter, mein theuerster, und geniessen Spaldings für uns.

Bo.

den 11. August. 1764.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite: »11 Aug 64.«

Eigenhändige Korrekturen

getheilt von schmerz und freude
getheilt von schmerz und freude
in Salomos Verwirrung finden
in Salomo⌈s⌉ ⌈Verwirrung⌉ finden
etwas gelehnet habe.
etwas gelehnet zu haben |habe|.
in welchen [...] ihr Richteramt führete,
in welchen auch die Jgfr. Regel ihr Richteramt führete,
einschläfert, opfert
einschläfert, läst opfert
Ein poet muß eben so
Ein ⌈poet⌉ muß eben so
erklären wollten
erklären könnten wollten

Stellenkommentar

dem Hr. amtmann von Husen
Hans Konrad Lavater, der auf Schloß Wyden bei Ossingen (ehemals Husen) residierende Amtmann von Winterthur. Zur Bezeichnung »Husen« vgl. Brief letter-sb-1762-09-13.html.
beyden Rectorn von W.
Anspielung auf die zwei Freunde und führenden Persönlichkeiten in Winterthur, Schultheiß Johannes Sulzer und Schulrektor Martin Künzli.
Trauerspiel Salomo
F. G. Klopstock, Salomo, 1764.
cum ratione insanire velle
Übers.: »mit Vernunft wahnsinnig sein zu wollen«.
den Artikel
Rezension des Salomo. In: Wöchentliche Anzeigen 1, 1. August 1764, St. 31, S. 367–372.
zum Ex. da Chalkol
Klopstock Salomo 1764, S. 77. Die zitierte Stelle lautet allerdings: »Lieblich weht/ Auf ihm die Morgenluft.«
Gespräche zwischen Salomo und Chalkol
Dialog zwischen Salomo und Chalkol, 24-seitiges Manuskript Wegelins, das als Beilage zu einem Brief an Bodmer überliefert ist (ZB, Ms Bodmer 6.7a, Beil. 6). Vgl. Geldsetzer Ideenlehre Jakob Wegelins 1963, S. 120.
prædilection
Übers.: »Vorliebe, positives Vorurteil«.
Jgfr. Regel
Als »Jungfer-Regel« oder »Blindrechnung« wurde eine kaufmännische Rechenregel bezeichnet, bei der nicht die Zahl des Kaufgeldes, sondern die Anzahl der damit erwerbbaren Waren gesucht wird, und Letztere damit nach Belieben eingeteilt werden kann.
ein neues trauerspiel von demselben Sujet
Bodmers Thorheiten des weisen Königs, die jedoch erst 1776 publiziert wurden.
Gleim von der Heloise gefällt hat
Nicht ermittelt. Eventuell Anspielung auf Gleims Petrarchische Gedichte (1764), die die petrarkische Stilisierung in Rousseaus Nouvelle Héloïse aufgriffen.
die Frau Collyer
Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1762-11-27.html.
die Messiade mißhandelt worden
Ebd.
mit welchen er briefe wechselt
Breitinger unterhielt eine Korrespondenz mit Martin Gerbert, der von 1764–1793 Fürstabt im Kloster St. Blasien im Schwarzwald war. Von der Korrespondenz sind 22 Briefe in der ZB überliefert. Breitinger stand auch mit anderen Mönchen der Abtei im brieflichen Austausch (vgl. ZB, Ms Bodmer 21.26, 22.15, 22.42, 22.49, 22.61). Zu Gerbert, der als Musikhistoriker in Erscheinung trat, vgl. auch Brief letter-bs-1771-10-15.html.
Der pater Gerbert
Gerbert hatte auf seinen Reisen durch Frankreich, Italien, Süddeutschland, Österreich und die Schweiz (1765 publiziert als Iter Allemannicum) Noten und mittelalterliche Traktate zur Musikgeschichte gesammelt.
von einem manuscript des Pindarus mit musicalischen Noten
Nicht ermittelt. Vermutlich handelte es sich dabei um eine mündliche Information während Sulzers Aufenthalt in der Schweiz.
rationem peregrinationis
Übers.: »Begründung der Reise«. Nach ihrer Rückkehr von Deutschland reichten J. C. Lavater und F. Hess eine Rechtfertigung ihrer langen Bildungsreise ein. Ein Exzerpt und Kommentar des nicht ermittelten lateinischen Originalmanuskriptes ist überliefert und mit deutscher Übersetzung publiziert in: Rendtel Exzerpte aus dem Rechenschaftsbericht 2003.
Krugold
Martin Crugot, dessen umstrittene Schrift Der Christ in der Einsamkeit Lavater mit Begeisterung gelesen hatte.
Contes
C. M. Wieland, Comische Erzählungen, 1765.
Juno und Ganymed betitelt
Ebd. S. 103–159.
tanquam ex professo
Übers.: »gleichsam auf ausdrückliche Weise«.
Er übertrift Crebillon
Von dem satirischen Schriftsteller Claude-Prosper Jolyot de Crébillon war auch Wielands Roman Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva (1764) beeinflusst.
wie Darda
Darda, Gestalt in Klopstocks Salomo und Bodmers Thorheiten des weisen Königs.
gegen Eschers Ball geschrieben
Zu J. H. Füsslis vom Feuermörser Schrift siehe Brief letter-bs-1763-09-02.html.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann