Brief nach dem 11. August 1764, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: nach dem 11. August 1764

Herrn profess. Sulzer.

Ich muß gestehn daß ich nicht auf den Einfall gerathen wäre, die Thorheiten des Weisen Koenigs zu schreiben, wenn nicht K. den Salomo geschrieben hätte. Salomos Abfall zum moloch dünkt mich noch izt keine materie für die tragische Muse. Die Aufopferung der Knaben kann bey einem parterre und bey logen, wo die gemüther und nicht nur die gesichter menschlich sind, nichts anders als einen allgemeinen unwillen verursachen. Wer kann, wer muß den widersinnigen mann nicht verabscheuen, der an den Wegen Gottes mit den Menschen, und mit seinem Vater David, zweifelt, aber dafür einen so starken Glauben an Moloch hat, daß er die menschlichsten Empfindungen darüber vergißt? Und durch diesen Unsinn will der poet eine situation glaubwürdig machen, in welcher Salomo niemals gewesen ist! Es soll eine Folge von Betrachtungen seyn, denen er sich nicht selten überlassen hat?

Wie elend, wie ausschweifend müssen nicht Salomos Zweifel und Glaubenssätze und handlungen seyn, da sie in der person und dem munde Molochs solche anständigkeit haben? Die gewöhnlichen parodien geben die ernsthaften Rollen Goguenarden, und die lustigen scenen legen sie Catonen zu; damit sie die Tugend aus ihrer Fassung heraus lachen, und dem laster eine gute Mine geben. In meinem drama wird Salomo genommen, was seiner person angehängt war, und dem Moloch, der ein Recht darauf hat, zugestellt.

Ich finde indessen nicht, daß mein stück für die Bühne zugerichtet sey. [→]Die Verwandlung des Einsiedlers in den Königlichen Salomo, die im Angesicht der Logen geschiht, ist eines von denen Dingen, von welchen Horaz sagt:

[→]Quæcumque ostendis mihi sic, incredulus odi.

Noch hat Klopstoks Drama hier einen Fehler mehr als das meine; man wird da mit keinem worte vorbereitet, daß die zween Einsiedler Teufel seyen. Der Zuhörer muß es in dem gedrukten Buch und in den Anmerkungen lernen.

Ich habe den Tod des Britannicus geschrieben, in welchem ich den Nero in Unruhe und Zweifel seze, die des Salomo seinen ganz ähnlich sind; [→]aber die des Nero Charakter nicht übel anstehn.

Noch hab ich in disem jahr mehr politische dramata gemacht, die sie noch nicht kennen; in jedem sind situationen, die starke Affekte haben. Ich könnte glauben, daß diese bey einer Nation, die ein freyer denkendes, edelmüthigeres parterre hätte als die deutsche, den ernsthaften Maximen, so in dem stüke sind, den Weg und Eingang bereiten würden.

Klopstoken gehört das Lob vor allen deutschen poeten, daß er sich mehr um das, was schön ist, als um den beyfall, bekümmert. Andere modellieren sich nach der großen und der artigen Welt, und erwarten von da ihr Urtheil; zu klein dasselbe zu lenken. Daher wird ihre Poesie eine Kupplerinn der Venus und des Bacchus. Daher kommen die Tändelnden Herrchen in die Lieder, und die rumorischen Helden in die Epopöe, und das Trauerspiel. Es ist allzu viel schweres, niederdrükendes, wüstes, ungefälliges in den deutschen herzen, als daß sie stürmerische, hinreissende Freuden und brausende Spiele nicht sollten nöthig haben und mit begierde aufsuchen. Es wird noch lange währen, bis man Ernst und Verstand für Wollust halten wird.

Ein poet, der nicht tändelt, nicht grob scherzet, mag sich mit Geduld darein schiken, daß er von sehr wenigen wird gelesen werden. Euripides und Sophocles selbst haben unsere leser nicht vermögen zu rühren, die [→]von den Amazonenliedern, von Philotas und Edwarden in Erstaunen gesezt worden. Leute, die sonst wolgesittet sind, loben Wielands Endymion und Ganymeden mehr als sie [→]seine Hymnen und Briefe der Abgestorbenen lobeten; wiewol sie bekennen daß diese dinge von Leichtsinn und Ausschweifung zusammengesezt seyn. Liegt die ursache davon nicht in einem heimlichen hang nach sinnlicher Wollust, welche das Gemüth eingenommen hat, und dem Verstand nicht Zeit läst zu würken?

Ich verlange zwar nicht daß Klopstok meinen Salomo zu sehen bekomme, wenn er ihn doch ungefähr sähe, so ist er nicht so klein, daß er sich beleidiget halten würde. Diese art Beleidigung kenne ich ganz und gar nicht. Was würde es mir thun, wenn ich die thorheiten des weisen Königs und den Tod des ersten Erschaffenen vor Klopstoks Salomo und Adam geschrieben, und er seine beyden stüke oben darauf verfertigt hätte? Ich würde es für Achtung und Aufsehen halten, wenn K. meinem Cicero oder Brutus einen andern an die seite zu sezen würdigte.

Im August. 1764.

Gegenwärtig sind wir vornehmlich besorgt die Jgfr. Meist. bequem und sicher nach Berlin zu bringen. Unser Director Schuldheß nimmt sich dieser Sache mit der ihm gewöhnlichen ängstlichkeit an, und ich bin in dergl. Dingen so unerfahren, daß ich mich auf ihn verlassen müste, wenn ich auch von seinen sorgfalten den hohen begriff nicht hätte.

Von Füßli hat Lavater einen Brief empfangen. Der ganz munter, ganz poetisch, ganz in Füßlis laune geschrieben ist. Er schreibt von keinem mangel, aber auch von keinem Etablissement. Er scheint verwundert und beynahe verlegen, daß ihm Geld geschikt wird, wovon er die erste Quelle nicht kennt. Damit er doch nicht in den Wahn falle, die Quelle fliesse beständig so glaube, werden sie, mein liebster Hr., wol thun, wenn sie ihm deutlich genug sagen, daß sie nichts mehr für ihn im Vorrath haben. Ich habe ihm durch Lavater schreiben lassen, wie empfindlich ich bin, daß er in der distraction, in welche ihn die fremde Londoner Welt sezen muß, Musse und Laune genug gefunden hat, die Figuren zur Noachide zu zeichnen. Seitdem hat er noch mehr gethan, er hat eine Klopstokische Ode für mich geschikt, und will sie bey uns publicirt haben, welche Klopstokische Empfindungen für mich athmet. Wir schliessen daraus daß er nicht bloß ohne sorgen sondern zufrieden ist. Doch wünschten wir sehr positive zu vernehmen, daß er würklich versorget sey. Wir hoffen dises izt bald innen zu werden, da der briefwechsel zwischen Lavater und ihm eröffnet ist.

Sie wissen, daß es Füßli ein beschwerlicher gedanke ist, daß er durch fremde Mittel hat müssen unterhalten werden; Wenn er in Umstände kömmt, daß er diese schuld auslöschen kann, so wird er vielleicht Klopstokisch genug seyn, sie bis auf den lezten pfenning tilgen zu wollen.

Wieland hat der Mle. Bondeli seine Apologie geschikt, die eine förmliche Abschwörung des [→]Enthousiasme en fait de Religion, de metaphysique et de morale ist. Er giebt seine sympathien und Empfindungen des Christen für [→]accès de vivacité etourdie naturelle à un jeune home. Er bittet Rost und Uz ihre Beleidigungen mit zerknirschtem Herzen ab. – für die Metaphysik bleibt ihm nichts als plaisanteries übrig. Er will wie ein gewöhnlicher Mensch gerichtet werden. und glaubt es sey in der menschlichen Natur, schwachheiten zu haben welche er belles passions nennt. Wenn dise Apologie vor seine Empfindungen des Christen gedrukt würde, so wäre sie seine prostitution selbst vor den debauchés. Hier hat man seinen Ganymedes in Manuscript, er wird aber unter der Hand würklich gedrukt; und ist eine wahre Satyre auf seinen Autor. Das ist es, was wir mit unserer arbeit an disem unsinigen ausgerichtet haben.

Es kränkt mich immer mehr, daß Wegeli, Steinbrüchel, Hirzel, den unmenschlichen Salomon so mit ecstase loben. Ich hatte nicht geglaubt, daß der geschmak diser Herren so unbefestigt wäre. Und wo bleibt ihre menschliche Empfindung. Mle. Bondeli hat gerade zu davon geurtheilt, [→]qu’aucun deiste est jamais parti du doute de la providence pour arriver à la croiance des dieux subalternes. Sie gesteht daß beautés de details in dem stüke sind, und ein paar schöne situationen, aber sie sagt [→]l'ensemble de l'interêt et le plan philosophique est foible et mal lié.

Sie fürchtet, daß man ihr für dises urtheil in Zürch einen process an den Hals werfen möchte. Von mir hat sie nichts zu befürchten. Ich bin nur zu kleinmüthig oder zu polit meine wahren gedanken davon jedermann zu offenbaren.

Orell und Geßner führen schwere Klagen, daß Sophocles und Euripides ihnen ligen bleiben. Kein Wunder daß Marcus Brutus keinen Verleger findet! Man muß Ganymeden und Endymions schreiben wenn die grosse und artige Deutsche Welt uns lesen soll.

Breitinger ist acht Tage bey den patribus von S. Blasius gewesen.

Gleich izo bekomme ich bessere Dinte, als die ich von einem unserer Zunftm. gekauft. Wir sind diese tage mit ausserordentlichen Regen gestraft, die grosse Verwüstungen, vornehmlich in dem Oberlande angerichtet haben.

Was ich izt schreibe hat ein Recht wässerigt zu werden. Doch bin ich mit Hize Ihr eig XXX

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.

Anschrift

pour Mr. le professeur Soulzer.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Der Brief war vermutlich Julie Auguste Meister auf die Reise nach Berlin mitgegeben worden, zusammen mit Bodmers Thorheiten des weisen Königs.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen Rand der ersten Seite: »Aug 64.«

Eigenhändige Korrekturen

aber die des Nero
aber ⌈die⌉ des Nero
edelmüthigeres parterre
edelmüthige⌈re⌉s parterre
an die seite zu sezen
an die seite ⌈zu⌉ sezen
innen zu werden, da der briefwechsel
innen zu werden, nachda⌉ der briefwechsel
Wegeli, Steinbrüchel, Hirzel
Wegeli, ⌈Steinbrüchel,⌉ Hirzel
à la croiance
à la croire croiance

Stellenkommentar

die Thorheiten des Weisen Koenigs
J. J. Bodmer, Thorheiten des weisen Königs, erst 1776 als Parodie auf Klopstocks 1764 veröffentlichtes Drama Salomo publiziert.
Goguenarden
Übers.: »Spöttern«.
Catonen
Ernsthafte, ehrenwerte Figuren, nach dem römischen Politiker Marcus Porcius Cato d. J.
Die Verwandlung des Einsiedlers
Vgl. Bodmer, Die Thorheiten des weisen Königs, 1776, S. 59–64.
Quæcumque ostendis
Hor. ars, 188. Übers.: »Was du mir so handgreiflich zeigst, erregt Unglauben nur und Widerwillen.« (Horaz, Von der Dichtkunst, 2014, S. 241).
den Tod des Britannicus
1768/69 unter dem Titel Nero in Bd. 2 der Politischen Schauspiele veröffentlicht.
Amazonenliedern
C. F. Weiße, Amazonen-Lieder, 1762. – G. E. Lessing, Philotas, 1759. – J. J. Bodmer, C. M. Wieland, Edward Grandisons Geschichte in Görlitz, 1755.
Endymion und Ganymeden
C. M. Wieland, Comische Erzählungen, 1765, S. 59–101 und S. 103–159.
seine Hymnen und Briefe
C. M. Wieland, Hymnen, 1754. – Ders., Briefe von Verstorbenen, 1753.
einen Brief
J. H. Füssli an Lavater, London, 30. Juli 1764. (Federmann Füssli 1927, S. 132).
keinem Etablissement
Übers.: »Niederlassung, feste Anstellung«.
Figuren zur Noachide
Vgl. Briefe letter-sb-1764-02-07.html und letter-sb-1764-11-25.html.
eine Klopstokische Ode
J. H. Füssli, An Herrn Bodmer. London am 20ten Julius 1764 (ZB, Ms Bodmer 31, 14). Erstdruck in: Lindauer Journal 8, 1764, S. 639–643. Vgl. auch Federmann Füssli 1927, S. 86–89.
seine Apologie
C. M. Wieland an J. Bondeli, Biberach, 16. Juli 1764 (Wieland Briefwechsel 1973, Bd. 3, S. 289–291). Ein Auszug des auf französisch verfassten Briefes Wielands an Julie Bondeli befindet sich auch in der ZB unter den Briefen Wielands an Martin Künzli: »Extrait d'une lettre de Mr. Wieland à Madell Bondeli du 16 juillet 1764« (ZB, Ms Z II 447.8, Nr. 17).
Enthousiasme en fait de Religion
Übers.: »Anfall von leichtsinniger Lebhaftigkeit, die bei einem Jüngling natürlich ist«.
accès de vivacité etourdie
Übers.: »Enthusiasmus in Hinsicht auf Religion, Metaphysik und Moral«.
seine Empfindungen des Christen
Wielands Empfindungen eines Christen erschienen 1764 erneut im zweiten Band seiner Sammlung prosaischer Schriften.
debauchés
Übers.: »Wüstlingen«.
davon geurtheilt
J. Bondeli an Leonhard Usteri, Koenitz, 28. Juli 1764. Abgedr. in: Bodemann Julie von Bondeli und ihr Freundeskreis 1874, S. 333 f.
qu’aucun deiste est jamais parti
Übers.: »Dass kein Deist je vom Zweifel an der Vorsehung ausgegangen ist, um zum Glauben an die subalternen Götter zu gelangen.«
beautés de details
Übers.: »Schönheiten in Details«.
l'ensemble de l'interêt
Übers.: »Das Gesamte der Absicht und der philosophische Plan ist schwach und schlecht verknüpft«.
polit
Übers.: »höflich«.
Sophocles und Euripides
J. J. Steinbrüchel, Das tragische Theater der Griechen, 1763.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann