Brief vom 7. Juli 1764, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 7. Juli 1764

Wie glüklich bin ich wenn sie mir philocles seyn wollen, dem ich gewohnt war meine unreifsten Gedanken zur Wertung zu übergeben! Ich will ihnen statis temporibus schreiben, ohne zu fodern daß sie mir antworten sollen, wiewol ich es immer wünschen werde.

Gewiß haben sie an der Jgf. Meisterin was sie suchen. Ich habe davon immer mehr Anzeigen. Wir werden mühe haben ihr eine anständige Reisegesellschaft zu finden. Füßli hat aus London noch nicht einen Buchstaben an jemanden hier geschrieben, wir sind seinetwegen sehr verlegen. Ich gebe seine Vignettes zur Noachide schon für verlohren. Gott gebe, daß sie bald unter ein gutes dach kommen, mein theuerster, damit ihr werk und ihr gemüth nicht mehr unter disen distractionen soviel leiden müssen. Ich denke, daß Winkelmanns Geschichte der Kunst mit ihrem Werk cooperiren werde, eine umkehrung zum besten des geschmakes zu verursachen. Die Idee des schönen wird nicht mehr willkührlich heissen. Man wird begreifen, wie eine gemeine bildung eines lebenden mädchens für sinnliche leute mehr Reiz hat, als die schönste todte antike, also ein wollüstiges stück mehr beyfall findet, als ein sittsames und patriarchalisches. Man wird erkennen, daß das schöne nicht ohne das gute, und Genie nicht ohne verstand seyn kann. Kant und Maynhart reden hierüber sehr unbestimmt. Man will bald das genie von allem Zwang der Regeln und der vernunft dispensiren. Wer ist der bekerjunge, der einen grossen Kunstrichter in Erstaunen sezet, weil er an ihm einen der grösten heutigen poeten entdeket?

Unser Geßner siehet in Klopsts. Salomo mehr abscheuliches als tragisches, in dem profanen elendes, in der poesie plattes und gekünsteltes. Aber Klopstoks bewunderer finden Salomo sogar erbaulich. Er hat uns Fragmente von liedern der Auferstandenen geschikt, welche Geßnern Kopfschmerzen verursachen. Sie müssen meinen Tod Adams nur als ein Spiel ansehn, und zufrieden seyn, wenn es einige guten Winke giebt. Ich glaube wenn es ad unguem ausgearbeitet wäre so würde es in gegenwärtigem Weltalter nur desto weniger gefallen. Es ist schwer die Gränzen zwischen ausgearbeitet und übertrieben zu finden. Unter diesen beyden ist mir ein unausgearbeitetes stück angenehmer. Ich habe würklich mehr solche unausgearbeitete werke in meinem Pult, die ewig unausgearbeitet bleiben werden.

Lambert hat allemal mit seinen Erfindungen geheimnißreich verfahren, als ob er fürchtete, daß man ihm die Ehre davon rauben möchte.

Wegeli hat ein großes werk von der auslegungslehre der heiligen schriften geschrieben, welches von Breitingern, Lavatern – sehr gepriesen wird. Er hat etwas von des Werthheimers Geschmak.

Rousseau hat sein pöeme, die XXX genannt, vollendet, man kan nicht mehr Affekt fodern als darinnen liegt. Unser Usteri und Meister von Küßnacht, des Camerers sohn, haben es in Manuscripto gelesen. Beyde sind bey Rousseau gewesen, und er hat viel Freundschaft für sie. Sie haben aus seinem Munde eine menge Anecdota aufgefasset.

In zehn Tagen gehe ich nach Winterthur, dann schreib ich ihnen meine Reisegeschichte.

Luzern hat den Rathshr.[→] Meyer nach Zürch geschikt, uns für das getreue aufsehn zu danken. Er hat alle Zweyhundert charmirt. Unsere Capitulation ist gedrukt, ihr fehlt nichts als ein garant gegen Infractionen. Unser Antistes prediget heftig den Glauben, und unser Lavater heftig die Werke. Lieben sie immer, und erhalten mich auch in Hr. Spaldings liebe.

Bo.

den 7den Juli. 64

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers auf der ersten Seite: »17 Jul. 64.«

Eigenhändige Korrekturen

gewohnt war meine unreifsten
gewohnt |war| meine unreifsten
welche Geßnern
welche demselben Geßnern
Luzern hat den Rathshr.
Luzern hat unsernden⌉ Rathshr.
Lieben sie immer
Lieben sie mich immer

Stellenkommentar

statis temporibus
Übers.: »zu bestimmten Zeiten, regelmäßig«.
seine Vignettes zur Noachide
Vgl. die Briefe letter-sb-1764-02-07.html und letter-sb-1764-11-25.html.
Winkelmanns Geschichte der Kunst
J. J. Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums, 1764.
Kant und Maynhart
Bodmer bezieht sich hier auf Immanuel Kants Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen und Johann Nicolaus Meinhards Versuche über den Charackter und die Werke der besten Italienischen Dichter, beide 1764 veröffentlicht.
Fragmente von liedern der Auferstandenen
Im März 1764 ließ Klopstock eine erste Teilfassung seiner Lieder der Auferstandenen, den 20. und letzten Gesang des Messias, in einer kleinen Auflage als Fragmente aus dem XXten Ges. des Mess. als M. S. für Freunde. im März 1764. zum Triumphgesange bey der Himmelfahrt drucken. Siehe Bodmers Exemplar in der ZB (Sign. 25.41,8). Klopstock sandte bei Gelegenheit der Ostermesse Exemplare für Bodmer, Breitinger und Lavater nach Zürich (vgl. Klopstock an Lavater, Quedlinburg, 15. April 1764. In: Klopstock Briefe 2003, Bd. 4/1, S. 215).
ad unguem
Wörtl.: »bis zum Nagel«. Redewendung für »mit größter Genauigkeit, bis ins Einzelne«.
ein großes werk von der auslegungslehre der heiligen schriften
Unter den ungedruckten und verschollenen Manuskripten ist eine »Auslegung über die vier Evangelien« nachgewiesen, die Wegelin in St. Gallen verfasste. Vgl. Geldsetzer Ideenlehre Jakob Wegelins 1963, S. 121.
des Werthheimers Geschmak.
Anspielung auf die Wertheimer Bibel, Bibelübersetzung von Johann Lorenz Schmidt.
die XXX genannt
Unklare Lesart. Gemeint ist das Gedichtfragment Les Solitaires, das erst nach Rousseaus Tod publiziert wurde. Zur Entstehungsgeschichte siehe Eigeldinger Histoire d'une œuvre inachevée 1992.
den Rathshr. Meyer
Joseph Rudolph Valentin Meyer. Vgl. zu seiner politischen Karriere Brief letter-bs-1763-03-02.html. Seit 1763 saß er im Luzerner Kleinen Rat, doch sein Besuch in Zürich und im dortigen Großen Rat (Rat der Zweihundert) ist nicht belegt.
Unsere Capitulation ist gedrukt
Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1764-05-26.html.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann