Brief vom 30. April 1765, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 30. April 1765

Die Noachide hat izt schönheiten, die mir gefährlich scheinen. Ein schalkhafter Kunstrichter wird sagen materiam superiori ab opere. Aber wenn sie, mein liebster, zufrieden sind, was bekümmer ich mich um einen schalkhaften Nicolai? Ich könnte ihnen in der Aufwallung meines Herzens viel Verbindliches sagen, wenn ich nicht fürchtete, in unsers Doctors Gericht zu fallen. Als ich doch seine sünde mit einigem Kaltsinn wiederlas, murmelte ich leise, der doctor hat nicht viel gelogen. Ich lasse ihren lob nicht gern abbrechen. Sie sind unter wenigen, die etwas aus der Noachide gemacht haben, Einer von dem ich innerlich versichert bin, daß er mit völliger Einsicht davon zu urtheilen wisse. Meine mäßige meinung von diesem Gedichte zu unterstüzen, habe ich den mann nöthig, der einem Heere von Tadlern die stange hält. Es ist mir wolbekommen, daß ich bis in dieses alter gelebt habe. Wäre ich vor dem 67sten jahre von dem schauplaz getreten, in welcher schlechtern, äusserlichen und innerlichen, Gestalt wäre die Noachide geblieben. Ich halte mich nicht gern bey diesem Gedanken auf. Und sie wollen ich solle populare Gespräche machen; rufen sie mir lieber zu solve senescentem. Alles was applicabel ist, wird bey uns für personal gehalten, und beleidiget. Wir müssen zufrieden seyn, wenn uns erlaubt wird, den Tiberius und Nero anzugreifen. Mit jedem besondern Zug kommen wir in gefahr zu J. J. Rousseau verurtheilt zu werden. Dann käme uns wol zustatten, wenn wir uns wie er auf das Weltgericht berufen könnten. [→]Juge supreme, daigne juger dans ta clemence un homme foible! j'ai publié tel ecrit. Man hat diesen Einfall ungeheuer hochmütig gescholten. Aber o könnt ich mich an dem selben Tage des Zorns mit derselben Bewustheit auf die Noachide berufen!

Ich habe von dem Wachstum der stadt Zürich Abschriften nehmen lassen, gewisse leute danken mir nicht dafür, doch weil sie in den Cabineten bleibt, so läst man es gelten.

Ich hoffe, eh ich zu meinen Vätern gehe, kann ich Ihnen noch etwas geben, das beweiset, ich habe in dem 67sten Jahr noch mehr als animalisch gelebt. Doch dieses jahr ist so nahe bey den jahren, da die leute radotieren, daß ich zittere, indem ich dieses verspreche.

Wir müssen die Individua besser machen, wenn wir eine glükliche Regierung haben wollen. Von schlimmen Materialien kann kein gutes gebäude gemacht werden. Und durch mündlichen unterricht, der immer nur die Mine von discurs haben muß, kann man mehr ausrichten als durch Bücher. Die popularen Gesinnungen werden sehr langsam umgebildet, seit funfzig jahren seh ich sie sehr gebessert, noch in funfzig jahren werden sie dreymal besser seyn; wenn sie nur einmal den Schwung nehmen.

Ramlers Glaucus hat wenig nahrung für die seele. Ich bedaure ihn, daß er so übersehen wird. Es ist für mich ein angenehmes phenomenen, daß Eine Mutter zween Poeten gebohren hat. Ist der poetische Keim in dem Vater oder der Mutter der Klopstoke gewesen? Werden wir einen popischen oder einen griechischen Homer bekommen? Unser Tobler hat würklich viel gesänge der Ilias in Hexameter übersezt, aber mit einer platten Härtigkeit.

Könnten sie nicht ein Fragment von Klopstoks arbeit bekommen ut ex ungue leonem? Ich vernehme mit Vergnügen, daß Bielfeld noch lebt. Da er ein Gönner Gottscheds ist, könnt er nicht ihm beybringen, daß er Veldeggs Eneis publicirte, ich weiß daß Gottsched eine Abschrift davon hat. Das Original liegt in der sachsengothaischen Bibliothek.

Escher vom Wollenhof wird ihnen etwas von mir bringen. Er ist ein sittsamer, vernünftiger, jüngling, und er wollte gern in der neuen stiftung studieren. Sie haben an ihm keinen Bürkli zu befürchten. Sie, mein Freund, haben durch den Schuz den sie dem Etourdi ertheilt haben, unsers doctors lob unvorsichtig beglaubiget. Man glaubt hier, daß sie des Königs Ohr haben. Wenn bald Ott und Escher vom Pfau zu Ihnen kommen, so beurtheilen sie dieselben nicht nach dem Roke. Ich werde dann durch Einschluß mit ihnen plaudern, wie ich sonst geradezu thue, ohne daß es den porto werth sey.

Der Doctor ist bekümmert, daß er sie verdrüssig gemacht hat, er findet daß das gänzliche vertrauen des grösten Königs das übertriebene seyn möchte, worüber sie klagen. Ich hatte ihren brief noch nicht, als er den Hhn Spalding, Sak und andern das denkmal geschikt hat.

Der große Haller würde mit dem Doctor nicht so übel zufrieden seyn, der dem Albin so oft vorgerükt, daß er ihn verabsäumt habe zu loben. Albin macht Hallern in dem schönsten Latein sehr klein.

Unser kleine Rath hat drey Exemplaren von Damms übersezten Evangelien, die man bey unsern Buchhändlern gefunden die sentenz gemacht, daß sie in der stille sollten unnüze gemacht werden. Und Hr. Groß hat sie auf seinem Herde zu Asche verbrandt. Unser Chorherr hat sehr geschürt. Man hat in dem rath über Irreligion geschrien, als ob die stadt und die Buchläden voller La Metrie wären. Man hat aber nur die Rousseaus gemeint, und die stadt ist allein voll von Übelthätern und Heuchlern. Wir haben wakere stationirte Männer, welche die Tugend zum Glauben predigen. Das gefällt gewissen leuten nicht, welche nur glauben und die Werke auf den Heiland abstellen wollen. Diese fangen an zu fragen, ob wir noch einen Heiland haben, und ich glaube, sie wollen es noch von der Regierung untersuchen lassen.

Rousseau verläst Motiers und gehet nach Chouai, einem Fleken, der ihm das Bürgerrecht geschenkt hat; auch ein Neufchatelois. Ist es wahr, daß ein Edict zur Impunität der Hurer und Ehbrecher gemacht worden, und daß man damit die population befödern will?

Wir sind noch nicht gewiß, daß unser Antistes sich erbitten lasse den Hudibras publiciren zu lassen. Unserm Diacon wird bisweilen darüber recht bange.

[→]Die Schwyzer fahren fort ihre malversanten auf der Landsgemeinde zu richten, wo es nicht möglich ist die Formalitäten zu beobachten. Sie sind sehr argwöhnisch und fertig böses zu glauben. Kaum kommen sie daran, wenn ein Angeklagter von unsern standeshäuptern Attestata hat, daß er in Solothurn oder Frauenfeld nach Instructionen gehandelt habe. Sie träumen, daß unsere Musterungen, die wir jeden Frühling vornehmen, ihnen gelten. Der Landrath von zug, der doch beynahe von neuen Herren besteht, hat nöthig gefunden dem stand Schwyz Vorstellungen zu machen, daß er ihnen ihre landleute nicht unruhig mache, und sich selbst fasse.

Unser Salis hat auch einen harten stand gehabt. Er ward angeklagt, daß er ein standesmehr verfälscht habe; Man sezte ein Tribunal, ihn zu examiniren, sein Kopf wankete. Aber er rechtfertigte sich durch urkunden und Zeugen vollkommen. Izt ist ihm das leben der Demagogen sehr widrig geworden, und er hat gute lust zu uns nach Zürich zu sizen, weil er hier das Bürgerrecht hat. Bisher trieb er die Künste der Demagogen mit der grösten Geschiklichkeit.

In Genf libelliren die representanten und Tronchin immer. Aber die Regierung esquivirt den Hauptpunkt wie anguem in herbã; nämlich: Welche Geschäfte für den Conseil general als den Souverain gebracht werden müssen, durch wen und wie das geschehen müsse.

Ich dächte, daß man in einem Buch wie des SaintFoix essais historiques sur Paris, maximen und observationen anbringen könnte, welche durch ihre sonderbare gestalt und Neuigkeit die würkende Kraft erhalten würden. Man würde die beleidigenden Wahrheiten veralterten Zeiten und verstorbenen in den mund legen, welche sie haben denken können, und oft gedacht haben.

Ich habe in der Noachide ein halbes duzend Fehler entdeket, die ein gutherziger Kunstrichter auf meine Rechnung sezen möchte:

S. 46. Z. 18 unter dem staub statt stab.
47. 3. Wasserfluten statt Wasserstuffen.
60. 18. lebten statt bebten.
61. 3. Faust statt Haupt.
70. 4. wölkenden statt wölbenden.
91. 24. Eltern für Altern.
100. 1. saugen statt hangen.
116. 15. ein Band ein Geblüt statt ein Geblut.
119. 15. Zu der Anzahl statt In der Anzahl.
158. 17. Gewölke statt Gewölbe.
und an einem Ort die thiere der Erde statt
die thiere des Feldes.
Seite 27. ist nach der 15ten Zeile eine weggefallen.
51. ist eine nach der ersten ausgelassen
157. auch eine nach der 17ten Zeile.

Was ist Kant in Königsberg für ein sonderbarer scribent? In seinen Beobachtungen des Schönen fallen die epischen Gedichte des Virgils und Klopstoks ins Edle, Homers und Miltons ins Abentheuerliche. Er machet Lycurgus zu einem Wilden, und die Deutschen zu Halbfranzosen, HalbEngelländern.

Noch einmal, sehen sie, daß sie durch Gleim ein Echantillon von Klopstoks Ilias bekommen.

Ich denke von Füßli immer besser als ich sollte. [→]Multa non facit, quare ei, si fas esset, succensere possem. [→]Ita vero de me meruisse puto ut ἀχαριστίας crimen subire non audeam. Er hat doch izt etliche monate aus seinem Eigenthumlichen gelebt, es scheint er habe seine Ressources, ich erwarte, daß er an einem schönen tage alle seine Gutthäter belohnet.

Man sagt, die prediger der blut und wundentheologie wollen in disem Synodus einen anfall auf die Prediger der Rechtschaffenheit thun. Einer hat in den gelehrten Anzeigen druken lassen, daß er bey der Wunden- und Bluttheologie leben und sterben wolle. Unser Doctor ist Assessor, und ein Champion für die gute sache. Er hat im vorigen Synodo den Antistes zur Verstummung niedergeschlagen.

Die Zusammenkunft in Schinznach auf den 20sten May soll brausend werden. Der Prinz Ludwig von Würteberg kömmt und eine Menge Berner um seinetwillen, mit ihm sich Ehre zu machen. Wir erwarten sie auch in Zürch.

Der grosse Haller hat hoffnungen in den Kleinen Rath zu kommen. Das ist der Gipfel seiner bernerischen wünsche.

Unser Schuldheß von Stetfurt hat des Arrianus stoische Weisheit übersezt, und läst ihn izt druken. Er ist ihm so gut gerathen, als dem Reiske der Demosthenes.

Sagen sie der Jgfr. Meisterinn, daß auf den heutigen Tag Hr. Camerer von Küßnach die Frau Doctorin mit Hn Hessen von Stadelhofen copulirt. Er hat eine gute station in Hauptwyl.

Ich umarme sie.
Bo.

den 30sten April 1765.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen Rand der ersten Seite: »30 Aprill 65.«

Eigenhändige Korrekturen

zufrieden seyn, wenn
zufrieden ⌈seyn⌉, wenn
Menge Berner um seinetwillen
Menge Berner sch um seinetwillen

Stellenkommentar

materiam superiori ab opere
Übers.: »der Stoff sei größer als das Werk«.
seine sünde
Zu Sulzers Kritik an der Würdigung, die Hirzel ihm widmete, vgl. Kommentar zu Brief letter-sb-1765-03-26.html.
solve senescentem
Hor. epist. I, 1, 8. Übers.: »spanne rechtzeitig das alternde Pferd aus«. (Horaz, Buch 1 der Briefe, 2018, S. 447).
den Tiberius und Nero anzugreifen
Zwei wichtige Akteure des autoritären römischen Kaisertums, die Bodmer im Totengespräch zwischen Claudius Tacitus und Tiberius, 1765, sowie im Trauerspiel Nero, 1768, thematisiert hatte.
Juge supreme, daigne juger
J. J. Rousseau, Lettres écrites de la Montagne, 1764, Bd. 1, S. 21. Übers.: »Höchster Richter, mögest Du in deiner Milde über den schwachen Menschen richten! ich habe diese Schrift veröffentlicht«.
Wachstum der stadt Zürich
J. J. Bodmer, Ursachen des Ursprungs und Wachsthums der Statt Zürich, Manuskript, 1764/1765. Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1764-12-26.html.
Eine Mutter zween Poeten
Vgl. zum Bruder F. G. Klopstocks, Carl Christoph Klopstock, der ab 1764 Teile der Ilias übersetzte, den Kommentar zu Brief letter-sb-1765-03-26.html.
popischen oder einen griechischen Homer
Alexander Popes Übersetzung von Homers Ilias wurde nach ihrer Veröffentlichung in den Jahren 1715–1720 zum Klassiker der neueren englischen Literatur. Darüber hinaus spielt Bodmer auf die Entgegensetzung von Antike und Moderne in der Poetik an.
viel gesänge der Ilias in Hexameter
Johannes Tobler beendete erst in den 1770er Jahren seine Übersetzung einiger Gesänge der Ilias.
Veldeggs Eneis publicirte
Vgl. Brief letter-bs-1763-03-02.html.
Escher vom Wollenhof
Salomon Escher vom Glas (1743–1806).
Etourdi
Übers.: »leichtsinniger Mensch«.
Ott und Escher vom Pfau
Hans Konrad Ott und Hans Conrad Escher. Vgl. Brief letter-bs-1765-03-25.html.
daß er sie verdrüssig gemacht hat
Vgl. Brief letter-sb-1765-03-26.html. Ein entsprechender Brief Sulzers an Hirzel konnte nicht ermittelt werden.
Albin
Der Chemiker, Botaniker und Anatom Bernhard Siegfried Albinus, bei dem A. von Haller und später H. C. Hirzel in Leiden studiert hatten.
Damms übersezten Evangelien
C. T. Damm, Das Neue Testament, 1764–1765.
Hr. Groß
Nicht ermittelt.
Chouai
Siehe Kommentar zu Brief letter-bs-1765-03-25.html.
Edict zur Impunität der Hurer und Ehbrecher
Siehe Brief letter-sb-1765-06-08.html.
Die Schwyzer fahren fort
Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1765-03-25.html.
standesmehr
In der föderativ gebildeten Schweizer Eidgenossenschaft verlangte die Annahme einer in der Tagsatzung vorgelegten Abstimmung das Standesmehr, nämlich die Mehrheit der Stimmen der einzelnen kantonalen Gesandten.
libelliren
Beraten.
esquivirt
Übers.: »weicht aus«.
wie anguem in herbã
Übers.: »wie eine Schlange im Gras«.
des SaintFoix essais historiques sur Paris
G. F. de Saint Foix, Essais historiques sur Paris, 1763.
In seinen Beobachtungen des Schönen
I. Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, 1764.
Echantillon
Übers.: »Probe, Auszug«.
Multa non facit
Cic. ad Q. fr. II, 2: »Sine dubio res a Lentulo remota videtur esse, cum magno meo dolore, quamquam multa fecit, quare, si fas esset, iure ei suscensere possemus.« Übers.: »Zweifellos schwimmen Lentulus die Felle weg, und das tut mir sehr leid; freilich hat er allerhand getan, weswegen ich ihm zürnen könnte, wenn das nicht unanständig wäre.« (Cicero, An Bruder Quintus, 1964/2014, S. 75).
Ita vero de me meruisse
Cic. Att. IX, 4: »Sed ita meruisse illum de me puto ut ἀχαριστίας crimen subire non audeam.« Übers.: »daß ich es nicht wage, den Vorwurf der Undankbarkeit auf mich zu nehmen.« (Cicero, Atticus-Briefe, 1980/2013, S. 549)
in den gelehrten Anzeigen
Vgl. den anonymen Beitrag in: Wöchentliche Anzeigen 2 (1765), St. 17 (25. April), S. 198–202.
Zusammenkunft in Schinznach
Die Versammlung der seit 1762 einmal jährlich in Schinznach tagenden Helvetischen Gesellschaft (vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1762-07-00.html).
Der Prinz Ludwig von Würteberg kömmt
Vgl. Brief letter-bs-1765-02-13.html.
in den Kleinen Rath zu kommen.
Albrecht von Haller kehrte 1764 von Roche nach Bern zurück und versuchte insgesamt neunmal in den Berner Kleinen Rat zu kommen, woran er allerdings immer scheiterte.
des Arrianus stoische Weisheit
J. G. Schulthess, Arrians Epictet, 1766.
dem Reiske der Demosthenes
J. J. Reiske, Demosthenis und Aeschinis Reden, 1764–1769.
Frau Doctorin mit Hn Hessen von Stadelhofen
Am Sonntag, 21. April 1765, wurde am Zürcher Grossmünster die Hochzeit zwischen Johann Jakob Hess (1743–1819), Pfarrer zu Hauptwil, und Albertine Charlotte Meister, Tochter Johann Heinrichs Meisters ais Küsnacht und Witwe des Doktors Malvieux aus Leipzig, verkündet. Vgl. Donnstags-Nachrichten, 25. April 1765, St. 17, S. 6.
station
Hier: Stelle, Anstellung.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann