Brief zwischen 21. und 31. Juli 1762, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: zwischen 21. und 31. Juli 1762

Aus ihrem wehrtesten vom 30sten May kann ich nicht klar sehen, ob Sie meinen brief vom 13ten März empfangen haben. Ich wünschte den frieden so sehr, daß ich ihre herkunft gern will verzögern laßen, wiewol wenige Dinge sind die ich sehnlicher wünsche als sie noch einmal mit den leiblichen Augen zusehen. Wie süß muß ihnen die Ruhe dünken nach so vilfältiger Unmuße! Ich habe ihnen den Noah nicht geschikt, weil ich einige Vermuthungen hatte, daß Sie in die Schweiz kommen würden. Izt wartet er auf eine Gelegenheit zu ihnen zu reisen. Hiesige preßen sind so beschäftiget, daß er da nicht unterkommen kann. Wenn ich ihre Beystimmung hätte, so wollte ich den Titel machen: die Noachide. Hr. Ustery in Thalaker, ein reicher Kaufman, hat die meiste mühe für die Karschin übernommen, von ihm bekommen sie die Nahmen der Ueberschreibenden. Geßner hat nichts für sie gethan. Haller soll diese Poetin ungemein loben; warum hat man doch versäumt ihm dergleichen Auftrag zu machen, den man mir unwürdigen gemacht hat? Ich stehe sehr ungereimt neben Uz. Weise hat Geßnern sein Herz angetragen und Geßner ist nicht entfernt es anzunehmen. Es sieht einer Conspiration nicht ungleich. Die Amazonenlieder sind elegante Tändeleyen, wenn Eleganz dort seyn kann, wo alle Weiblichkeiten der Natur verstimmet sind.

[→]Spight of all philosophers
who hold not female stout but bears.
[→]Stripe natur naked to the Skin,
You’ll find about her no such thing.

Nicolai raset gegen meine trauerspiele; noch sind hier leute die ihm seine verdammung nachsprechen. Der übersezer des sophocles lobet ihn übermässig.

Klopstok hat in einem raptu an Schuldheß geschrieben; ich schiene ihm nicht gleichgültig zuseyn. Senden sie beylage in ihrem eigenen oder eines kaufmanns couvert nach Hamburg.

Unser liebe Schuldheiß Sulzer hat eine Apologetique an die Herren von Zürch geschikt, die usque ad invidiam applaudirt wird. In wenig tagen geh ich nach Tös und Winterthur, da versprech ich mir goldene Tage. Sollen unsere Freunde dort, Basler werden, damit sie nicht weniger als Züricher seyn? Mit einer gewissen Aufführung könnten doch die braven W.. sich die Herzen der braven Z... eigen machen. Aber Iliacos intra ... Ich nehme mit mir nach W. den Cäsar, den Cicero, und Staufach. Ich bin vor einigen tagen [→]über die stufe des Alters getreten, in welchem der gute Cicero ermordet worden. Könnte ich in diesem Alter noch Lebhaftigkeit genug haben, ein Drama von seinem tode zu schreiben? Ich habe doch das herz gehabt, die gerechte Zusammenschwörung zu schreiben. Ich schildere die ersten Eidsgenoßen in ihrem schönsten Gesichtspunkte. Izt muß ich fürchten, das [→]Tell und Baumgartner und Staufacher in Rousseaux Gericht gefallen seyn. Rousseau theilt unser Zürich in kleine Factionen. Der Christ in der Einsamkeit wird von unserm Antist. und unsern Theologis verurtheilet und verdammt. [→]Sie hätten Schaden nicht in eine irdische Insel, sondern in den Achäron relegirt Rousseau ein vortrefflicher Mensch und kein Christ; Lessing, Nicolai böse dieben, und Christen. Denn gewiß kommen dise niemals in gefahr verbrandt zu werden denn sie leugnen die Religion nur zum scherz. Wegeli hat beherzigungen der Moserischen beherzigungen geschrieben. Wegelin ist ein logicalischer kopf; Moser ist nur ein Declamator – Sie müßen die Abhandlung von den schönheiten in der mahlerey lesen, die hier herausgekommen sind. Mengs, der große mahler, ist der verfaßer, der izt in Madrit bey dem König ist, aber sehr unzufrieden. Breitinger hält viel auf seiner metaphysischen sprache, Lambert wenig.

[→]Wer hat die Anmerkungen zum Gebrauch der Kunstrichter die socratischen Denkwürdigkeiten, und die Wolcken gemacht? Er hat den Nicolai zerschmettert. Was für ein Dieb ist der bruder dieses Nicolai?

Von der patriotischen Gesellschaft, deren die Literatur Briefe gedenken wuste man hier noch nichts; es mag wol nur eine Erdichtung seyn, die Gelegenheit zu einer solchen geben sollte. Erst [→]im May haben sich in Schinznach etliche wakre, wolgesinnte Herren aus verschiedenen Cantons versammelt, die einmal eine solche Gesellschaft werden könnten. Ich war nicht bey ihnen, doch haben Sie mich auch aggregirt. Es waren auch aus den catholischen Cantons etliche rechtschaffene Männer bey ihnen. Hr. stadtschr. Sulzer hat auch zu ihnen kommen sollen, wenn ein fiebrischer Anstoß ihn nicht daheim behalten hätte.

Allererst endekte ich, daß die freymüthigen Briefe zum theil aus der feder eben des geschikten mannes gefloßen sind, der die Anmerkungen zum Gebrauche der Kunstrichter geschrieben hat. Es wäre sehr vorträglich, wenn Sie mit ihm in bekanntschaft kommen könnten. Dann wollte ich sie bitten, daß sie ihm den umgebildeten Noah in der Handschrift zeigen sollten. Ich wollte ihn nicht gern auf die herausgabe warten lassen, die sich noch sehr lange verziehen könnte. Denken Sie daran.

Ich umarme Sie.
Bo.

Z. den Julius 1762.

Beilage: Gedicht Bodmers auf Zar Peter III.

Grauenvoll war die rolle die Gottes richtende Vorsicht
Friedrich dem grossen gegeben; er nahm sie mit schnellem Gehorsam
Auf sich, wiewol das herz im busen ihm schmolz, denn der himmel
Macht’ ihn zur hecke die brandt und auf die gottlosen loosgieng,
Und sie verzehrte. Dir aber dir mächtiger führer der Russen
Sind in den tafeln des schicksals die angenehmern befehle
Aufgetragen du sollst dem trunkenen schwerdte gebieten
Das es nicht länger das blut der strafbaren und schuldlosen schöpfe.
Wieder zurückgekommen soll unsere hütte der frieden
Gottes umzäunen, wir sollen noch einmal im schoosse der Ruhe
Blühen und sollen die Wunden, die uns der rasende krieg schlug,
Heilen. Der leuchtende stern, der des abends am horizonte aufgeht,
Soll die neue vermählte mit wollust athmendem herzen
Sehn in die Kammer schleichen, dem vaterland söhne zu pflanzen,
Die den verlust ersezen den wir an bürgern erlitten.
Künftig sind wir nicht mehr landes flüchtige, welche das Unglük
Auf die sandbank geworfen, die von dem nächtigen schreken
Ganz geschwächt und erschöpfte sind, wir sollen auf eigenem herde
Unsere Mahlzeit kochen, das Eingeweid soll uns vor hunger
Nicht einschrumpfen, wenn niemand zu seiner tafel uns einladt.
Das ist des himmels Entschluß und ihn soll Peter vollziehen.

[→]en voici d’autres qui viennent de Vienne:

Græca fides titubat, sed nos solatur id unum
Post Galli cantum pœnituisse Petrum.

Es wäre uns sehr lieb particularitäten von dem sonderbaren Menschen zu vernehmen, der die Anmerkungen zum Gebrauch der Kunstrichter verfertiget hat. Er kann eine gute Reformation in der literatur machen. Es ist schade, daß er nicht mit ihnen bekannt ist. Man erwartet daß die Nahmen der subscribenten publicirt werden. Das thut seine Würkungen.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.

Anschrift

A Monsieur le professeur Soulzer de Berlin presentement à Magdebourg dans la maison de Mr. Bachman.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Brief Bodmers an Klopstock. – Gedicht »Auf Peter den III.«.

Vermerke und Zusätze

Blatt an Siegelstelle abgerissen. – Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite: »Jul. 62.«

Eigenhändige Korrekturen

nicht weniger als Züricher seyn
nicht⌉ weniger als Züricher werden |seyn|

Stellenkommentar

ihrem wehrtesten vom 30sten May
Vgl. Brief letter-sb-1762-05-30.html.
Hr. Ustery in Thalaker
Die Kaufmannsfamilie Usteri hatte seit dem Bau des sogenannten »Neuenhof« durch Paulus Usteri im Jahre 1684 ihren Stammsitz im Zürcher Stadtteil Talaker. Hans Martin Usteri (1738–1790), älterer Bruder von Leonhard Usteri (1741–1789) und hier als Förderer Anna Louisa Karschs genannt, war der Erbe des Unternehmens.
Weise hat Geßnern sein Herz angetragen
Nicht ermittelt. Zum Austausch zwischen Christian Felix Weiße und Salomon Geßner vgl. die zwei überlieferten Schreiben Weißes vom 24. Mai 1764 und vom 10. Mai 1765 (ZB, Ms V 522a.III.137).
Spight of all philosophers
S. Butler, Hudibras, Part I, Canto II, Vers 381 f., S. 41.
Stripe natur naked to the Skin
Ebd. Part I, Canto II, Vers 401 f., S. 42.
Nicolai raset gegen meine trauerspiele
Der Verfasser der Rezension von Bodmers Drey neue Trauerspiele in der von Nicolai herausgegebenen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (Bd. 7, 1762, St. 2, S. 318–333) war Heinrich Wilhelm von Gerstenberg.
an Schuldheß geschrieben
Siehe dazu den nur als Auszug überlieferten Brief Klopstocks an Johann Georg Schulthess, wahrscheinlich Hamburg, zwischen Mitte Mai und Mitte Juni 1762 (Klopstock Briefe 2003, Bd. 4/1, S. 144).
beylage
Bodmer an Klopstock, Zürich, 2. Juli 1762 (ebd. S. 147–149).
usque ad invidiam
Übers.: »bis zur Feindschaft«.
Iliacos intra
Lat. Sprichwort: »Iliacos intra muros peccatur et extra.« Übers.: »Innerhalb und außerhalb der Mauern Trojas wird gefrevelt.«
den Cäsar, den Cicero, und Staufach
[J. J. Bodmer], Julius Cäsar, 1763. – Ders., Marcus Tullius Cicero, 1764. – [Ders.], Die gerechte Zusammenschwörung (siehe unten).
über die stufe des Alters
Bodmer wurde am 19. Juli 1762 64 Jahre alt. Cicero starb im Jahre 43 v. Chr. etwa einen Monat vor seinem 64. Geburtstag.
die gerechte Zusammenschwörung
Bodmers Die gerechte Zusammenverschörung wurde in einer gekürzten Fassung erst 1775 in vier Einakter aufgeteilt und als Schweizerische Schauspiele publiziert. Vgl. Beise Bodmers ungedruckte vaterländische Dramen 2009, S. 327–331.
Tell und Baumgartner und Staufacher
Wilhelm Tell, Conrad von Baumgarten und Werner Stauffacher.
Der Christ in der Einsamkeit
M. Crugot, Der Christ in der Einsamkeit, 1762 (verb. Aufl.).
Sie hätten Schaden nicht
Zu Georg Schade vgl. Mulsow Schades geheime Aufklärungsgesellschaft 1998.
beherzigungen der Moserischen beherzigungen
J. Wegelin, Beherzigungen der Beherzigungen, 1762.
die Abhandlung von den schönheiten in der mahlerey
A. Mengs, Gedanken über die Schönheit und über den Geschmak in der Malerey. Herrn Johann Winkelmann gewidmet, 1762.
in Madrit bey dem König
Vgl. Hollweg Mengs' Wirken in Spanien 2008.
die Anmerkungen
Bodmer nahm irrtümlich Hamann als Verfasser der 1762 von Gellius verfassten Anmerkungen zum Gebrauche deutscher Kunstrichter an. Hamann hatte 1761 Wolken. Ein Nachspiel Sokratischer Denkwürdigkeiten veröffentlicht.
der bruder dieses Nicolai
Friedrich Nicolais älterer Bruder Gottlob Samuel (1725–1765), seit 1753 Professor der Philosophie in Frankfurt an der Oder und 1760 Prediger in Zerbst.
der patriotischen Gesellschaft
Anonym, Von einer patriotischen Gesellschaft in der Schweitz, zum Besten der Sittenlehre und der Gesetzgebungswissenschaft. In: Briefe, die Neueste Litteratur betreffend 13, 1762, S. 169–176.
im May [...] in Schinznach
Die Mitgliederversammlung der 1761 von Isaak Iselin initiierten Helvetischen Gesellschaft fand ab 1762 einmal jährlich auf einer Jahrestagung in Bad Schinznach statt. Zu den Mitgründern gehörten u. a. die Zürcher Hans Caspar und Salomon Hirzel, S. Geßner, die Berner D. Fellenberg, J. R. Tschiffeli und S. A. Wilhelmi sowie J. G. Zimmermann. Vgl. zur Geschichte und Bedeutung der Helvetischen Gesellschaft Ohne Autor Struktur und Tätigkeit der Helvetischen Gesellschaft 1983, hier v. a. S. 13–45. – Schmid Schinznacher Helvetische Gesellschaft 1917. – Morell Die Helvetische Gesellschaft. Aus den Quellen dargestellt 1863.
die freymüthigen Briefe
J. G. Gellius (Hg.), Freimüthige Briefe über die neuesten Werke aus den Wissenschaften in und außer Deutschland, 1756–1761.
Auf Peter den III.
Abgedr. in: Bürkli (Hrsg.) Schweitzerische Blumenlese , Bd. 2, S. 286 f.
en voici d’autres
Übers.: »Hier sind weitere [Verse], die aus Wien kommen«. Die Quelle des zitierten, vermutlich in einem Wiener Periodikum veröffentlichten Gedichts konnte nicht ermittelt werden.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann