Brief vom 8. Juni 1765, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 8. Juni 1765

den 8 Junij

Mein theürester Freünd.

Ich schreibe Ihnen aus meiner Meyerey und weyhe hiemit dieselbe ein. Denn dieses ist der erste Brief, den ich hier schreibe und es geziehmet sich, daß er an Sie gerichtet sey. Ich habe vergeßen ihre drey lezten Briefe mit mir herauszunehmen, und bin nicht gewiß, ob ich Ihnen auf jeden Artikel derselben antworten werde.

Wegelin ist angekommen, und findet bey unsern besten Leüthen die Achtung die er verdienet. Der König hat ihn nicht gesehen, weil seine Ankunft in die Zeit der Revüen und der meisten Geschäfte gefallen ist. Ihm gefällt es hier sehr wol und den beyden neü angekommenen Zürichern Escher und Keller komt es ungemein wol zustatten, daß sie ihm in der Nähe wohnen und an seinem Tisch speisen können.

Es wäre mir sehr leicht zu zeigen, daß die in die Noachide eingeschliechene Fehler mir nicht können zur Last gelegt werden. Ich habe die beste Veranstaltungen getroffen die mir möglich waren. Franke in Halle wurd mir als der beste Druker empfohlen. Ich machte ihm zum ausdrüklichen Bedingnis, daß er jedes Blatt, das einen merklichen Fehler haben würde auf seine Kosten umdruken soll. Er drukte die vier ersten Bogen in meiner Abwesenheit ab; sie waren so voll Fehler, daß ich auf dem Umdruk bestuhnd, da er sich deßen weigerte, ließ ich den Umdruk auf meinen Kosten thun und bestellte einen zweyten Corrector, der gewiß in Halle der beste war. Es wäre doch gut, wenn Sie die Fehler auszögen und in den Crit. Nachrichten die Verbeßerungen bekannt machten. Ich konnte es nicht thun, weil der Druker das Manuscript nicht wiederschiken wollte, bis die ganze Auflage abgeliefert wäre, das ist bis zu Ende der Meße. Diese und viel andre Umstände habe mich in die Unmöglichkeit gesezt, das Werk beßer zu liefern. Man wird oft bey den besten Anstallten und bey der größten Sorgfalt in der Ausführung der Sachen betrogen.

Was die Jfr. Meisterin gegen Sie in Ansehung der Erziehung meiner Töchter geäußert hat, hat sie anfänglich ofte gegen mich selbst geäußert, daß Sie aber nach allen meinen Vorstellungen noch nicht eingesehen hat, daß die ungekünstelte, einfacheste Erziehung die einzige sey, die ich suche, befremdet mich doch. Sie ist mit großen Vorurtheilen hierüber hergekommen und hat sich eingebildet, ich werde mit meinen Kindern wollen vornehm thun, ich werde sie in vornehme Gesellschaften schiken, sie in den Ton der großen Welt stimmen, zu Hause aber Gelehrte Frauenzimmer aus ihnen machen. Diese Vorurtheile hat sie gewiß nicht von Ihnen bekommen, denn Sie wißen am besten, wie sehr eine solche Erziehung mir zuwieder seyn würde. Ich habe eben darum, damit ich mich am weitesten von dieser Art entfernen könnte eine Gehülffin zu der Erziehung aus der Schweiz haben wollen. Indeßen werden sich diese Vorurtheile, wie ich hoffe nach und nach legen. Ich wollte in der That lieber ein recht braves BauerMensch, als eine vornehm denkende Dame zur Hofmeisterin meiner Kinder haben. Man muß der guten Jfr. M. sehr falsche Begriffe von meiner eigenen Person beygebracht haben, da ich sie so oft in Verwundrung gesehen, wenn ich ihr etwas von meiner Art zu denken entwikelte. Ihr Vetter von Küßnacht, ich meine den Sohn und vielleicht ihr Bruder, haben sie darin vermuthlich hinters Licht geführt. Ich müßte bisweilen lachen, wenn ich merkte, daß sie eine Verstellung von meiner seite vermuthete, wenn ich den geradesten weg, meine wahre Meinung äußerte. Es wird allerdings Zeit dazu gehören, daß sich alles in meinen Plan hineinschikt.

Ich bin begierig zu vernehmen, wie die verschiedene LandesGemeinden werden abgelauffen seyn. Ich wünsche Hauptsächlich darum, daß alles wieder ruhig werden möge, weil ich befürchte, daß die Herrn Cantons bey gewißen Critischen Umständen ihre Schwachheit und Blöße entdeken möchten. Denn unter uns gesagt, ich traue ihnen nichts zu. Sie würden vielleicht die ersten seyn, die bekennen würden man müße die groben Ländler züchtigen und ihnen mit Stokschlägen beßere Sitten beybringen. Denn sie fürchten sich für nichts so sehr, als dafür, daß man sie selbst nicht für große Herren halte, die mit andern großen Herren zu leben wißen. Der gute Director hat in seinem lezten Brief an mich auch Gelegenheit gesucht, mir die Fürtrefflichkeit einer Zürcherischen und Bernerischen Aristokratie anzurühmen.

Ich habe wieder ganz kürzlich von meinem würdigen Freünd aus London dem Dr. Murdoch einen Brief gehabt, der unserm Füßli ein fürtreffliches Zeügnis giebt. Nun wird er bey seinem jungen Lord seyn. Wenn die Probe Monate nur gut sind, so ist er geborgen.

Auch in Neufchatel scheinen die gemeineren Leüthe, die dem ehrlichen Rousseau ihr Bürgerrecht gegeben haben beßer zu denken, als der vornehmere Pöbel. Es ist doch ein greülicher Schimpf für unser philosophisches Jahrhundert, daß das Schiksal dieses Mannes, so ist, wie es ist. Was für einen Glanz hätte es über meine Dunkle und verborgene Meyerey verbreitet, wenn ein Man von diesem Glänzenden Verdienst seine Ruhe da genommen hätte?

Es ist wahr, daß man hier gesucht hat durch ein Edict den Schimpf von der unehelichen Liebe weg zunehmen. Die Absicht ist das abscheüliche Kinder Morden zu verhindern, welches meistentheils zweyen das Leben kostet. Jedes Mädchen kann ohne Straff und Vorwurff ein unehliches Kind haben, wenn es selbst seinen Zustand angiebt; hingegen sind die Härteste Straffen darauf gesezt, wenn sie ihre Schwangerschaft zuverbergen sucht, und die Mutter, die heimlich ein todtes Kind gebiehrt, wird ohne Untersuchung, ob sie das Kind umgebracht hat oder nicht, am Leben gestraft.

Mich verlangt zu vernehmen, was Ihro Hochwürden noch mit noch über den Armen Hudibras beschließen werden. Kann unser Waser sich izt enthalten eine Bittschrift an die Hrn. Censoren zumachen, die den Pendant zu der ehemaligen Bittschrift an U. G. H. ausmachen würde? Aber ich vermuthe ein gewißer Freünd würde ihn izt nicht mehr so eyfrig vertheidigen, als er ehemal gethan hat.

Die Hrn. Escher und Keller finden in Berlin ihr Gefallen weit beßer als ehedem Lavater und Heß, die, wie ich gehört habe uns nicht viel Ehre übrig laßen. Sie hatten aber die Köpfe zu voll aus ihrem Vaterland gebracht um hier die Sachen ordentlich zu beobachten.

Leben Sie wol mein theürester, ich umarme Sie von ganzem Herzen.

Bey welcher Gelegenheit sind Sie auf den B. Bielefeld gekommen und aus was für Ursachen sind Sie ihm so gewogen? Es scheinet mir kein Ey dem andern so gleich, als sein Kopf und Gottscheds. Ich kann ihm ihren Gruß nicht ablegen, denn er hält sich izt in Sachsen auf.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers am unteren Rand der letzten Seite mit rotem Stift: »Landi heißt der italienische Hofpoet des preußischen Königes«.

Lesarten

Kinder Morden
Kinder morden

Eigenhändige Korrekturen

weil seine Ankunft
weil er ebenseine⌉ Ankunft
schiken, sie in den Ton
schiken, ⌈sie in⌉ den Ton
darin vermuthlich hinters
darin |vermuthlich| hinters

Stellenkommentar

meiner Meyerey
Vgl. Brief letter-sb-1765-03-26.html.
Wegelin ist angekommen
Wegelin war am 7. Mai mit seiner Familie in Berlin eingetroffen.
Revüen
Militärische Paraden.
Escher und Keller
Vgl. Brief letter-bs-1765-03-25.html.
ich meine den Sohn und vielleicht ihr Bruder
Julie Auguste Meisters Cousin Jacques-Henri Meister und ihr Bruder Leonhard Meister.
in seinem lezten Brief an mich
Nicht ermittelt. Zur artistokratischen Position Hans Kaspar Schulthess' und Bodmers Kritik vgl. Brief letter-bs-1765-03-25.html.
meinem würdigen Freünd aus London dem Dr. Murdoch
Patrick Murdoch, Gelehrter und Mathematiker aus Edinburgh, der 1756 Andrew Mitchell nach Berlin begleitete und sich dort etwa ein Jahr aufhielt. Briefe Murdochs an Sulzer nicht ermittelt.
bey seinem jungen Lord
Lord Waldegrave, Viscount Chewton.
ein Edict
Das von Friedrich II. erlassene Edikt trug den Titel Edict wider den Mord neugebohrner unehelicher Kinder, Verheimlichung der Schwangerschaft und Niederkunft und war auf den 8. Februar 1765 datiert.
den Pendant zu der ehemaligen Bittschrift an U. G. H.
Gemeint ist Wasers 1742 gedruckte Satire Einicher wohlgesinnter vaterländischer Burger deemüthige und unterthänige Bitt-Schrifft an Uns. Gn. H. Herren und Oberen, wider den in hiesiger Stadt sich aufhaltenden sächsischen Oculisten oder Augen-Artzet Meiners.
ein gewißer Freünd
Johann Jakob Breitinger.
Escher und Keller
Salomon Escher und Hans Kaspar Keller.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann