Brief vom 2. März 1763, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 2. März 1763

den 2ten März 63.

Ohne Zweifel wissen mein liebster freund, daß Grebel aus unserm immediaten und mediat land auf ewig verwisen, sein wapen in Grüningen ausgelöschet, von selbst um zweytausend mark gelöst, und die restitution des Raubes erkannt worden. Hhn statthalter Hirzel und Escher haben sich wol gehalten. Der erste hat wie ein Cicero gegen den Verres geredet. Man hat es aber nicht höher bringen können. Einige wolgesinnte aber schwache herren haben behauptet, daß mehr formalien und eine neue Untersuchung der Klagen müßen vorgenommen werden, damit alles auf das punctlichste ausgemeßen und calculirt werden könne. Sie wollten ihm gern etwas von seinen Crimes nachgelaßen haben, wenn er statt 10.000. nur 9999. gestolen hätte. Man hat zu des übelthätigen mannes Entsündigung gesagt, daß er dem fisco mehr profit als schaden gebracht, ohne Zweifel weil er auch für den fiscum geraubt hat. Ich weiß nicht ob der fiscus finden werde, daß er auch restituiren müße, was ein andrer für ihn gestolen hat. Die Commission ist XXX, und soll die repartition der Ersezungen machen. Was mich bey disem Rath und Bürgerstag freut, ist daß auf meine bewegung erkannt worden, die Commission soll ein gutachten über das Fallgeld machen. Ich gedenke izt meine eigenen Gedanken davon aufzusezen, und Hrn. statthalt. Hirzel zu bringen daß er sie der Commission vorlege, und wenn es ihm gutdünkt dem großen Rath so wie sie sind vorlege.

Die jungen patrioten sind ohne hoffnung abgewisen worden, als sie von Hrn. statth. Escher und Hr. bürgermeister Landolt gebeten, daß ihr geschäft disen morgen vor Rath gebracht wurde. Hr. Landolt ist nicht im Amt. Hr burgerm. Leu wird sie vermuthlich nach seiner unedeln Empfindlichkeit plagen wollen. Hr. Nüscheler drohet noch mit einem stand. Einige Hhn haben gestern ihre handlung offentlich gesezlos und strafwürdig betitelt. Es gehet wider ein geschriebener Bogen herum, der sie auf den grund des burgereides gar stark und offenbar absolviret. Aber dise schriften sind in den augen gewißer Hhn lauter unordnung und sie seufzen darüber mehr als über Grebels sechs landsverrätherische Jahre.

Man sagt Meyer habe zu Luzern eine Commission von sechs Herren verordnen laßen, an welche jedermann seine Klagen und Vorschläge bringen kann, ohne daß er dürfe bekanntgemacht viel weniger der accusator werden. Wir sind noch lange nicht so weit gekommen. Wir wollten zufrieden seyn, wenn man uns nur die pflichten der obersten Meister erklärete. Es gehet mir viel im kopf herum, wie ich dieses zuwege bringen könne, versteht sich durch den geradesten unschuldigsten Weg. Doch mir selbst fehlt feuer, wolredenheit und muth. Man darf leugnen daß die gnädigen Hhn pflichten zum vergaumen haben. Und ein solcher, hat den Weidspruch behauptet, wo kein Kläger ist, da ist kein Richter. Er hat auch den Lavater und Füßlin zur last geleget, daß sie geblasen haben, was sie nicht gebrannt habe. Sie denken wol, daß dises seine phrasis gewesen sey.

Montags im versammelten großen rath hat einer die fehler des landschreibers für bloße peccata omissionis gegeben, und vermeint, daß dise sehr verzeihungswürdig seyen.

Es sind viel wolgesinnte leute, bey welchen mehr Mangel an Einsichten und Logik ist als Bosheit.

Einige haben so böse meinungen von dem menschlichen geschlecht, daß man denken könnte, sie haßten dasselbe, oder müsten es haßen.

Könnten sie nicht durch den braven Hrn. von Beroldingen einen Conventual von der Abtey Santgallen ausfinden, der Geschiklichkeit hätte die alten deutschen Codices abzuschreiben? Der verehrungswürdige, verstorbene Bibliothecarius, pater Kolbe hätte es gekonnt. Vergeßen Sie in Santgall den französischen prediger und professor Wegelin nicht, und geben ihm doch zu verstehn daß seine schreibart rebutiren muß. Ich fürchte zwar, daß er nicht anders schreiben kann, ob er gleich wollte.

Es war ein großes versehen, wann unser Chorherr ihnen die Zeichnungen und Blasons nicht gezeiget hat, die wir aus dem Manessischen Codice haben machen laßen. Wenn sie einen Verleger künftig dazu antreffen, so haben wir zu einem dritten Band Materie.

Ich habe noch immer ein starkes verlangen nach der Aeneis des von Veldegg, die in der sachsen gothaischen Bibliothek im staube liegt. Veldegg ist Eschilbachs contemporaneus, und beyde haben schon unter Friedrich dem Rothbart einen großen nahmen gehabt. Gottsched hat eine Abschrift davon. Laßen sie ihm per tertium beybringen, daß er sie publiciren soll.

Sie haben doch vor zehn tagen den brief empfangen den ich ihnen zugleich mit dem schnupftobak geschikt habe. Bald schreibe ich wider.

Adieu.
Bod.

Den Augenblik kommt mein petit neveu Hr. Felix Heß zu mir, und sagt mir, weil er künftigen sonntag das lezte Examen aushalten könne, worauf ihm nun die probpredigt übrig bleibe, so gedenke Er dise bis auf seine zurükkunft anstehn zu laßen, und wenigstens für sich allein mit ihnen zu reisen, wenn sie es erlauben wollen. Ich habe ihm insinuirt, daß Er seine Entschlißung Ihnen eigenhändig und positive überschreiben solle, damit sie ihm in antwort eben so positive sagen können, wo Er zu ihnen stoßen könne. Ich dachte sie könnten ihm den rendezvous, z. E. auf einen gewissen tag in Elg, oder Santgallen bestimmen und zugleich melden, wie sie reisen wollen.

Wenn durch eine günstige Wendung künftigen Sammstag auch Füßli und Lavater liberirt würden, so könnte es seyn, daß auch diese mit Hr. Heß kommen würden, wie wol sie izo noch nichts determiniren können. Ich fürchte, daß ihr geschäft erst künftigen Mittwoches geendiget wird, wenn es nur auf 2–3 tage ankommt, daß sie mit Ihnen hätten reisen können. Aber unsere Herren sind wie das fatum so unumstößlich.

Ich bitte den brief an Hn Zachariä in ihre brieftasche zu steken, und in der nächsten Postamt bey Braunschweig auf die post zu legen. Ich kann nichts für ihn thun. Sie dürfen ihm wol sagen laßen, wenn sie Gelegenheit haben, daß die verunglückten prænumeration, die auf seine Clavierstücke hier in starker Anzahl gemacht worden, ihm aber nicht zugekommen sind, schuld sind daß ich für ihn nichts thun kann.

Ein Herr von Salis in Bünden hat allein 3 neue Doppie für Füßlin eingeschikt. Wir machen die prænumeration erst nach beendigung ihres geschäftes, sie könnten aber für ihn zahlen, wir sind Ihnen Gut für das Remboursement.

Adio.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Brief Bodmers an J. F. W. Zachariae.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite: »2 März. 63.«

Stellenkommentar

aus unserm immediaten und mediat land auf ewig verwisen
Vgl. die verabschiedete Rathserkantnus: die Herren Autores der Klageschrift betreffende. Sub 2do Marty 1763 (Lavater Jugendschriften 2008, 1, S. 182).
Cicero gegen den Verres
Vgl. Brief letter-sb-1762-12-07.html.
dem fisco
Fiscus: Staatskasse bzw. Steuerwesen.
eine Commission von sechs Herren
In der Republik Luzern hatte es zuvor einen Prozess wegen Staatsbetrugs und fahrlässiger Amtsführung gegeben, worauf der Seckelmeister im Amt, Jost Niklaus Schumacher, am 29. März 1762 seiner Stelle enthoben und verbannt worden war (vgl. dazu Wicki Luzerner Patriziat in der Krise 1992). In der Folge des Gerichtsverfahrens erreichte der profilierteste Gegner Schumachers, der Richter und Ratsschreiber Joseph Rudolf Valentin Meyer, die »Schaffung einer ständigen Staatsökonomie-Kommission von sechs Mitgliedern, deren Aufgabe die verwaltungsmässige Überwachung sämtlicher Amtsleute war« (ebd. S. 101). Diese Lösung, die Bodmer hier begrüßt, fungierte in den folgenden Unruhen als wichtiges Organ der Aristokratie. Der 1725 in Luzern geborene Joseph Rudolf Valentin Meyer von Schauensee hatte sich nach einer militärischen Karriere der Politik zugewandt und war 1760 Ratsschreiber geworden. Ab 1762 unternahm er mehrere Staatsreformen und beteiligte sich als Präsident maßgeblich an der Entwicklung der Helvetischen Gesellschaft zu Schinznach. Zur weiteren Entwicklung des sogenannten Schumacher-Handels vgl. Brief letter-bs-1764-05-26.html.
vergaumen
Bewahren.
Weidspruch
Alte Redensart der Jäger.
des landschreibers
Hans Rudolph Ulrich (1696–1771), seit 1733 Landschreiber in Grüningen. 1765 trat er von seinem Amt zurück. (H. J. Leu, Lexicon, 1795, Suppl.-Bd. 6, S. 195).
peccata omissionis
Übers.: »Auslassungssünden«.
pater Kolbe
Der Bibliothekar der Abtei St. Gallen, Pius Kolb (1712–1762), verfasste einen ausführlichen Katalog der in der Stiftsbibliothek aufbewahrten Manuskripte.
Zeichnungen und Blasons
Vgl. Debrunner Der unveröffentlichte dritte Band von J. J. Bodmers und J. J. Breitingers Sammlung von Minnesingern 1996 sowie Tafel 17.
contemporaneus
Übers.: »Zeitgenosse«.
Friedrich dem Rothbart
Friedrich I. Barbarossa, deutsch-römischer Kaiser aus dem Adelsgeschlecht der Staufer.
eine Abschrift
Gottsched ließ bereits 1745 eine kurze, lateinische Nachricht über die Gothaer Handschrift des Eneasromans unter dem Titel Ad capessendos in philosophia et lib. artib. honores summos invitat, et de antiquissima Aeneidos versione Germanica Henrici de Veldeck drucken. Darin erwähnte Gottsched, dass er über mehrere Wochen den Text übertragen und abgeschrieben hatte (S. III).
per tertium
Übers.: »durch Dritte«.
mein petit neveu Hr. Felix Heß
Bodmers Großneffe Felix Hess.
positive sagen können
Sulzer äußerte seine Reisepläne im Brief an Lavater vom 3. März und fügte hinzu: »Hr. Heß schreibet mir, daß er Lust hätte, auch ohne Sie mit mir zu reisen. Da ich unmöglich Zeit habe ihm selbst zu antworten, so bitte ich Sie ihm diesen Brief zu weisen, damit er seine Einrichtung danach machen könne.« (ZB, FA Lav Ms 528.268).
liberirt
Befreit.
erst künftigen Mittwoches
Mittwoch, 9. März 1763. Sulzers Abfahrt war spätestens auf den 8. März festgesetzt.
brief an Hn Zachariä
Bodmer an Zachariae, Zürich, vor dem 2. März 1763. Nicht ermittelt.
die verunglückten prænumeration
Siehe Brief letter-bs-1761-03-04.html.
Ein Herr von Salis in Bünden
Nicht ermittelt. Eventuell Karl Ulysses von Salis-Marschlins.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann