Brief vom 13. September 1760, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 13. September 1760

den 13 septemb. 1760.

Ihr wehrtestes vom 23sten hat uns aus einer gedoppelten sorge gerissen; wir waren für Sie und für den König besorget. Izt sind sie beyde wieder auf die weite gestellt. – urtheilen sie mein theurer aus diesen Hexametern, ob ich nicht wahr gesagt habe, als ich über den frost geklagt der meinen poetischen garten entstellt hat. – Brun hat mehr verdienste von der politik als von der muse. Er ist nur für das Cabinet, und ich würde mir das volle maß des Zornes unserer Zunftmstr. zuziehen, wenn sie das ding zu sehen bekämen. Doch habe ich es einem von ihnen vorgelesen, auch Rathsherrn haben es gesehen und haben mich nicht bescholten. Belieben sie es mir durch eine gute gelegenheit zurückzusenden.

Wir müssen es dann mit Gleim aufgeben wiewol wir nicht aufhören werden [→]den naifen dichter, den grenadierpoeten, und der deutschen nicht unzüchtigen Anacreon hochzuschäzen. An diese kömmt der Fabulist und der übersezer des philotas bey hundert meilen nicht. Wir können schier errathen was man zur vertheidigung des philotas sagt. Die dichtkunst, sagen sie, hat eine andere idealschönheit als die sittliche vollkommenheit der Charakter. Ich wünschte daß unser Chorhr. Br... sich über diesen punkt erklärte, der auch von Youngh nicht zum geschiktesten ausgeführt wird. Wie oft bedaure ich daß jener lieber in die schenkhofs Rebruthen schneidet, als geschmaksuntersuchungen schreibet.

Wir sind begierig zu vernehmen wie Lessing sich zu den lessingischen fabeln gebehrde. Wird er die verfasser nicht für autorstiere ausschreyen, und sie ihr gebrülle noch einmal zu brüllen bitten. Wir glauben daß mein wehrtester freund die untersuchung der lessingischen fabeltheorie in ihrem Wörterbuche werden nuzen können.

Ich bin mit dem Noah, wie er izt in meinem pult aussiehet, wol zufrieden. Ich will es machen wie der wizige Lessing; die dem Noah ihren beyfall gegeben sollen wenigstens nach der Hand recht bekommen. Ich will so viel gutes in ihn hineinlegen daß sie es im voraus darinn bemerkt zu haben scheinen mögen. Noahs brüder sind weniger der feile bedürftig; und mich hat oft wundergenommen daß die Colombona die doch nicht patriarchalisch ist, nicht mehr aufsehens gemacht hat. Ich bin mit Zachariä verl. Par. wol zufrieden, wiewol sein hexameter oft sanfter fließen könnte. Aber seine eigenen Anmerkungen sind schwach, und die andern sind gröstentheils denen bekannt qui nondum ære lavantur...

Hier hat ein junger mensch, den ich noch nicht entdekt habe, das Fragment einer neuen Colombona gelifert, und damit verdient, daß er Bodmers Rival sey.

[→]winning cheap the high repute
Which I through hazard huge must earn.

[→]Unser Rector hat ihnen einen tag früher geschrieben als ich ihren brief empfangen. Ein vortrefflicher gedanke, daß sie zu uns kommen wollen, und in dem vortrefflichen ist vortrefflich daß sie mit einem der besten männer von berlin kommen wollen. Gebe der himmel nur bald dem heerführer, dem gesezgeber Ruhe, gebe er Sulzern stärke bey seinen gerechten schmerzen. Izo horchen wir hoch auf, die neuen Siege zu hören; wir jagen die Russen nach Pohlen und die öster: nach böhmen. Und unter disen angenehmen vorstellungen segne ich meinen Sulzer der sanften fühlenden vielleidenden Zufriedenheit; als der ersten einer von seinen wolwünschenden.

B...r

Diese sachen kommen durch einen hiesigen Kaufmann nach Leipzig zu Hrn. Reich, der sie ihnen schon zufertigen wird.

Voltaire hat eine wolverdiente lauge empfangen, so sollte er längst tractirt worden seyn; so sollte Lessing und seinesgleichen tractirt werden. [→]Er hat sich neulich vor ganz genf stinkend gemacht, indem er einem schwachen nachbar ohne den geringsten grund rechtens seinen acker angesprochen, eingesammelt und gedreschet hat. Der arme mann muste alles leiden; aber da Hr. Vernet es innen geworden, gab er einem procurator commission, gegen den poeten zu procediren. Dieser wollte accordiren, und restituiren, weil man aber auch die kosten prætendirt, ward der process fortgesezt. Er gehört in die Baillissage von Gex.

Lochmann lobet mit vollem mund den Prinz Ferdinand, und den Prinz von Braunschweig, aber die Englischen gemeinen Reuter hält er für kleine teufel. Er ist wieder bey uns, und munter.

Hr. Wegelin, französischer prediger in Santgallen, der Übersezer von Dalemberts abhandl. von der Verbindung der Wissenschaften und der Verfasser der lezten gespräche Socrates hat politische betrachtungen über die spartanische Staatsverfassung geschrieben, die er mir in der handschrift zugeschickt, welche ich für recht wol und tief gedacht halte. Das werk ist von ganz anderer denkungsart, philosophischer stärker und tiefsinniger als Iselis versuche sind.

Izt ist [→]Rousseau contre le theatre von ihm verdeutscht mit einer abhandlung von der politik einer kleinen kaufmännischen stadt unter der presse.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Zwei Blatt Hexameter Freund, den die vorsicht mir spät in meinen alternden jahren (ZB, Ms Bodmer 12a, S. 521–524). – Handschriftliches Manuskript von Bodmers Rudolf Brun. Ein politisches Trauerspiel.

Eigenhändige Korrekturen

und sie ihr gebrülle
und ⌈sie⌉ ihr gebrülle
sein hexameter oft sanfter
sein hexameter ⌈oft⌉ sanfter
accordiren, und restituiren
accordiren, aber und restituiren

Stellenkommentar

aus diesen Hexametern
Siehe Einschluss. Die Verse, die Bodmer als Trostgedicht dem Brief an Sulzer beilegte, wurden unter dem Titel An Sulzer, als seine Gattinn starb. 1760 leicht verändert abgedr. in: Bürkli (Hrsg.) Schweitzerische Blumenlese , Bd. 3, S. 243–248.
als ich über den frost geklagt
Vgl. Brief letter-bs-1760-08-09.html.
Brun
Handschriftlich überliefertes und zu Lebzeiten Bodmers nicht publiziertes Drama. Vgl. auch Brief letter-bs-1758-03-29.html und Rudolf Brun. Ein politisches Trauerspiel (1759). In: Bodmer Vaterländische Dramen 2017, S. 7–62.
den naifen dichter
Anspielung auf die lyrischen Hauptwerke Gleims – den Versuch in Scherzhaften Liedern, 1744/1745, die Lieder, 1749 sowie die Preussischen Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757, 1758 --, die Bodmer gegenüber dessen erzählerischen und dramatischen Arbeiten anpreist. Vgl. zu Gleims Philotas Kommentar zu Brief letter-bs-1760-08-09.html.
sich über diesen punkt erklärte
Der zweite Teil der im Herbst 1760 erschienenen Lessingischen, unäsopischen Fabeln stellt unter dem Titel Untersuchung von Herrn Lessings Abhandlungen eine eingehende literarische Kritik dar, welche Johann Jakob Breitinger zugeschrieben wird. Vgl. [J. J. Bodmer/J. J. Breitinger], Lessingische unäsopische Fabeln, 1760, S. 189–349.
die verfasser nicht für autorstiere ausschreyen
Anspielung auf den provokanten und Nicolai zugeschriebenen 91. Literaturbrief vom 27. März 1760. Dort ist offensichtlich Bodmer Ziel des Angriffs. Auf die Erwähnung eines schlechten Schriftstellers, der auf die Kritik an seinem Werk hitzig reagiert, folgt die Darstellung des Verletzten: »Sie kennen ihn doch, den Autorstier, der nun schon ein paarmaahl freymüthig herausgebrüllet hat, aber seines gewaltigen Schüttelns ohngeachtet, das Beil nicht hat los werden können, welches in der tiefen Wunde sitzt, und immer tiefer drückt, und hindert, daß sie nicht zuheilet. Ihm freilich muß dabey nicht gut zu Muthe seyn, das merkt man wohl, aber das Publicum wird dadurch sehr belustiget, und man möchte wohl, wie die Königin im Peter Squenz ausrufen: o lieber D. – brülle noch einmal!« (Briefe, die Neueste Litteratur betreffend 5, 1760, S. 195).
Zachariä verl. Par.
J. F. W. Zachariae, Das Verlohrne Paradies, aus dem Englischen Johann Miltons in Reimfreye Verse übersetzt, und mit eignen sowohl als andrer Anmerkungen begleitet, 1760.
qui nondum ære lavantur
Iuv. sat. II, 152: »Nec pueri credunt, nisi qui nondum ære lavantur.« Übers.: »das glauben nicht einmal Knaben – bis auf diejenigen, die für das Baden noch nicht bezahlen müssen.« (Juvenal, Satiren, 2017, S. 133).
das Fragment einer neuen Colombona
Vgl. das so betitelte anonyme Fragment in den Freymüthigen Nachrichten, 27. August 1760, St. 35, S. 279 f.
winning cheap
Leicht abgewandeltes Zitat aus John Miltons Paradise Lost (Milton Paradise lost, a poem, in twelve books. The last edition 1754, II. Ges., Vers 472 f., S. 44). Dabei handelt es sich um eine Bemerkung über die kriegslüsternen, machtgierigen Teufel, Rivalen des Satans, gegen die dieser die Verantwortung eines Monarchen annimmt, wodurch er ihnen zugleich Ruhm unter seiner Führung anbietet.
Unser Rector hat ihnen [...] geschrieben
Brief Künzlis an Sulzer vom Sommer 1760 nicht ermittelt.
die neuen Siege zu hören
Zum Verlauf der kriegerischen Züge in Sachsen, in denen sich die Armee Friedrichs II. durch die Belagerung Dresdens im Juli und durch den Sieg bei Liegnitz am 15. August wieder gegen österreichische und russische Truppen behaupten konnte, vgl. Bremm Der Siebenjährige Krieg 2017, S. 288–291.
Er hat sich neulich vor ganz genf
Voltaire wohnte seit Anfang 1758 auf dem Schloss Ferney, das er zusammen mit dem Schloss Tournay erworben hatte. Bodmer bezieht sich scheinbar auf ungenaue Berichte über Voltaires ab 1760 geführten Prozess mit Charlot Baudy, dem Verwalter von Tournay. Dieser erhob Besitzrechte auf eine Parzelle Wald, die ihm der frühere Eigentümer Charles de Brosses zugesprochen hatte. Nachdem sich Voltaire weigerte, das dort gefällte Holz an Baudy zu bezahlen, wurde er vor das Lokalgericht der Vogtei Gex zitiert. Vgl. Orieux Das Leben des Voltaire 1968, S. 665–670.
die Baillissage von Gex
Ferney und Tournay gehörten nicht zur Republik Genf, sondern zum Pays de Gex, einer Vogtei, die sich wechselweise vor dem Kanton Bern, der Republik Genf und Frankreich verantwortete.
Lochmann
Zum Basler Oberst Ulrich Lochmann siehe Brief letter-bs-1757-05-19.html.
Dalemberts abhandl.
J.-B. le Rond d'Alembert, Discours préliminaire de l'Encyclopédie, 1751. Das Vorwort wurde von Jacob Wegelin übersetzt, kommentiert und veröffentlicht als Abhandlung von dem Ursprung, Fortgang und Verbindung der Künste und Wissenschaften, 1761.
der lezten gespräche Socrates
J. Wegelin, Die lezten Gespräche Socrates und seiner Freunde, 1760. Der 1721 in St. Gallen geborene Jacob Wegelin hatte sich dort und in Bern zum Lehrer gebildet und in Vevey Französisch gelernt. 1747 wurde er Prediger an der französisch-reformierten Kirche in St. Gallen. Seit 1753 stand er im Briefwechsel mit Bodmer und wurde durch ihn mit Laurenz Zellweger und Sulzer bekannt. Dieser setzte sich 1764 für die Berufung Wegelins als Professor für Geschichte an der neu errichteten Ritterakademie in Berlin ein (siehe dazu Brief letter-sb-1765-01-26.html). Durch seine Werke und Vorlesungen prägte Wegelin maßgeblich die Geschichtsphilosophie der Aufklärung in Preußen. Infolge seiner Übersiedlung nach Berlin im Jahr 1765 avancierte er zu einem engen Freund und Vertrauten Sulzers.
politische betrachtungen
J. Wegelin, Politische und moralische Betrachtungen über die spartanische Gesez-Gebung des Lykurgus, 1763.
in der handschrift zugeschickt
Vgl. den dazugehörigen Brief Wegelins an Bodmer, St. Gallen, 5. September 1760 (ZB, Ms Bodmer 6.7, Nr. 24).
als Iselis versuche
Vgl. Brief letter-bs-1759-10-06.html.
Rousseau contre le theatre
Mit »contre le theatre« bezeichnet Bodmer Rousseaus sogenannte Lettre à d'Alembert sur les spectacles (siehe dazu Brief letter-bs-1759-06-30.html). Wegelin veröffentlichte die Übersetzung unter dem Titel: Patriotische Vorstellungen, gegen die Einführung einer Schaubühne für die Comödie, in der Republik Genf, 1761. Der Publikation fügte er das eigene Schreiben, eines Bürgers von Sanct Gallen: Von den wahren Angelegenheiten einer kleinen, freyen, kaufmännischen Republik hinzu.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann