Ihr Brief vom 4 Sept. mein theürester Freünd, hat mich so sehr ermuntert, als ich fürchte, daß der meinige, der fast um eben diese Zeit geschrieben worden ist, sie niederschlagen wird, da ich Ihnen von meinem Häuslichen Kummer eine so lebhafte Abbildung gemacht habe. Es kommt mir dabey sehr zustatten, daß ich seit 5 Jahren, da ich von der Gehülffin meines Lebens verlaßen worden, Geduldig zu seyn, habe lernen müßen.
Des Rectors Klagen könnte ich ganz unbillig nennen, wenn sie nicht eben so viel Freündschaft gegen mich, als unbilligkeit enthielten. Denn gewiß ist er der, der durch sein Stillschweigen das meinige veranlaset hat. So viel Zärtlichkeit sein Herz für mich hat, so viel Heftigkeit und Bitterkeit hat es gegen meinen Freünd, den politischen Rector und es war mir nicht schweer zu bemerken, daß mein Vertrauter Umgang und der darauf erfolgte Briefwechsel mit ihm den Verdrus erwekt, aus welchem das Stillschweigen entstuhnd. Verschiedene Unternehmungen des leztern, sind Folgen von unsern Unterredungen, und ich nehme es nicht gleich auf das bloße wort eines andern an, daß sie so einfältig seyen, als man sie ausgiebt.
Ich wünschte daß unser R. anstatt sich in Policey Sachen zu mischen mit dem Eyfer, den er am unrechten Orte zeiget, sich der einreißenden Pracht wiedersezte, die an unserm Ort nicht blos tödtlich, sondern noch dazu höchst lächerlich ist. Ich habe meinen Mitbürgern mehr als einmal gesagt, daß sie Gefahr lauffen aus ihrer Statt nach und nach einen Ort zu machen, wie Bülach ist, da ihr häuslicher Fleis ab und die Pracht zunimt. Mein Wunsch wäre für Winterthur wie für Zürich, daß nur außer den wenigen Magistrats und andern öffentlichen Personen, die nöthigsten Handwerker und eine kleine Anzal Kaufleüthe in der Statt blieben, die andern auf kleinen Meyerhöfen lebten, und sich dort unter einfältigen, aber nicht Bäuerischen Sitten, von ihrem kleinen Land nährten. Ich habe gerathen, daß die Väter, die so bekümmert sind, was sie aus ihren Söhnen machen wollen, jedem einen ganz kleinen Meyerhof ankauffen und ihn darauf seinem Fleis überlaßen sollten. Es fällt mir ofte ein es zu bereüen, daß ich nicht standhaft genug auf meinem Vorsaz beharret bin, selbst ein Beyspiel hievon zugeben. Hier sehe ich eine jährliche Einnahm von 3000 Gulden mir durch die Hände fallen und lebe elend dabey. Dort hätte der 10 Theil davon mir mehr wahren überflus geben sollen. Izt gehe ich damit um jenen Entschluß wenigstens hier auszuführen, denn ich kan mein Amt verwalten und doch in meiner kleinen Meyerey wohnen. Befürchten sie nicht, daß der izige Geschmak den einige ihrer jungen Leüthe am Landbau haben, mehr ein impetus, als ein überlegter Entschluß sey? Hr. Escher und Keller geben mir mehr Anlas Ihnen alle meine Gedanken über die Sitten und Veranstaltungen ihres Landes zu eröffnen, als die drey, die vor einiger Zeit von hier abgereißt sind, und die ich in keiner andern Gestallt, als in der Gestallt junger aus Paris kommender Hrn. gesehen habe.
Von der Schinznacher Gesellsch. sind meine Hoffnungen auch noch nicht fest. Ich sehe den Plan, auf den sie arbeitet noch nirgend. Unsre kleine Staaten scheinen mir zwahr in einer großen, aber noch nicht unheilbaren Krankheit zu liegen. Die Heilung kann aber meines Erachtens durch keine öffentliche anstalten geschehen. Sie muß blos durch übereinstimmende Bemühungen einzeler Häupter der Familien geschehen. Kleine Staaten haben den Vortheil, daß ein einziger Privatman, durch sein Beyspiel etwas ausrichten kan; dies ist in Großen unmöglich. Aber die kleinen Bedienen sich dieses vortheils nicht. Ich halte es für eben so möglich Zürich durch ein Triumvirat Rechtschaffener Häupter der Familien zuheilen, als es möglich war Rom durch ein Triumvirat Böser Männer zu Grunde zurichten. Sie hätten den Vortheil, daß der Züricherische Cicero, denn für diesen, mein theürester habe ich sie schon lange gehalten, sich zu ihm schlagen würde, da die Römische ihren Cicero gegen sich hätten. Suchen Sie diese Männer zusamen zu bringen. Aber ich wünschte, daß es nicht Jünglinge sondern Männer wären, und Männer, die schon Söhne und Töchter hätten.
Es ist ein unauslöschlicher Schimpf für unsre Zeiten, und beweißt, wie tödtlich krank unsre Staaten sind, daß Rousseau über NebenSachen, die fast gleichgültig sind, wenn er auch darin unrecht hätte, als ein Mißethäter verfolgt wird, von dem großen Hülfsmittel, das er den Menschen zu ihrer Errettung gezeiget hat, ein fast allgemeines Stillschweigen beobachtet wird. Laßen sie sich durch keinen falschen Schein verblenden, mich gottlos zu nennen, wenn ich sage, daß mir in der Gegenwärtigen Verfaßung der Welt, ein großer moralischer Saz, wichtiger scheint als viele Lehren der Speculativen Theologie. Nicht glaubenslehren, sondern große LebensRegeln müßen unsre Sitten von dem gänzlichen Verderben retten. Ihr Reformations Collegium ist mir wichtiger, als das collegium der Examinatoren, oder der Bewacher des Rechten glaubens. Und die Verbeßerung ihrer Schulen, die Br. vorschlägt halte ich unendlich höher, als die feinsten Entwürffe ihre Handlung und ihre Fabriken weiter auszudehnen. Aber es scheint, daß ein ganz Schimärischer Wolstand, der im Grund verderben ist, und eine eingebildete Orthodoxie izt die einzige Sachen seyn, worauf ihre Regenten arbeiten, wenn ich ja noch zugeben soll, daß sie auf einen Plan arbeiten.
Von ihrer Gesellschaft auf der Gerberzunft, erwarte ich erst als denn die besten Früchte, wenn sie zu der Zeit noch bestehen wird, da die Mitglieder Männer und Väter geworden. Denn es scheint daß doch die Erziehung das gewißeste Mittel sey, den Sitten einen andern Schwung zu geben. Was für Tohren sind meine Mitbürger sich einzubilden, daß sie die Sitten aus Neufchatel herholen müßen! Eher würden sie dieselben in dem Dorff des Kleinjoggs finden. Ich werde zulezt der Versuchung nicht mehr wiederstehen, meine schon gar lang entworffene Gedanken, von einer kleinen Republik zu entwerffen, die auf den zwey Hauptgrundsäulen, der Armuth und der Unwißenheit fest stehen würde. Denn ich stelle mir eine Armuth ohne Dürftigkeit und eine Unwißenheit ohne Unverstand gar deütlich vor. Bey Armuth kann man sehr im Wolstand und bey Kräften und bey der Unwißenheit sehr Verständig und wolgesittet seyn. Für kleine Republiken scheinet mir mein Plan, der einzige gute zu seyn.
Der herannahende Herbst giebt mir wegen der kürzern Tage nach und nach wieder etwas Muße an meinem Werk zu arbeiten, das doch unvermerkt heran wächßt. Die Grundsäze, worauf es gebaut wird, geben mir immer Mehr Gelegenheit beyläuftig Moral und Politik mit in meinen Text zu weben; so daß wenig Artikel darin vorkommen werden, wo ich nicht ohne Zwang, etwas gutes von dieser Art sagen kan. Ich streüe solche anmerkungen unter meine Untersuchungen, ohngefehr so, wie die Redner und Dichter, Sittensprüche in ihre poetische Vorstellungen einmischen. Ich fange an eine so gute Meinung von dem Werth dieses Werks zu haben, daß es mich beynahe verdrießen sollte zu sterben, ehe ich es ganz ausgeführt habe.
Leben Sie wol, von ganzem Herzen umarme ich Sie.
JGSulzer
den 17 Septemb.
H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.
Vermerk Bodmers auf der letzten Seite: »Epistolam præcedentem suppressi.« (Übers.: »Den vorherigen Brief habe ich unterdrückt«).