Brief vom 10. Oktober 1761, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 10. Oktober 1761

Ich schreibe Ihnen, mein theürer Freünd, in Antwort auf ihren Brief vom 19 Sept. Denn ich habe das, was Sie mir über Leipzig zuschiken noch nicht empfangen. Unsre Dichterin ist gegenwärtig in Magdeburg, wohin ich ihr ihren Brief nachgeschikt habe. Vielleicht bekomme ich vor abend, da dieser Brief abgeht noch Antwort von ihr. Sie bleibt noch immer darin bewundrungswürdig, daß ihre beste Sachen sie gar nichts kosten. In einem einzigen Augenblik ergreift sie eine Gelegenheit zu einer Ode, und in eben demselben erschaft sie den Haupt Gedanken dazu. In wenigen Minuten aber ist die Ode da. Sie sagt, das einzige Nachdenken, welches ihr dabey nöthig ist gehe auf die Wahl der Versart. So bald sie diese fest gesezt hat, fließt alles, wie ein ströhmender Bach aus einer reichen Quelle. Sie hat schon unzählige Oden gemacht, die aber sehr zerstreüt sind, weil sie selbst sehr selten eine Abschrift behält. Denn die meisten macht sie an den orten, wo sie in Gesellschaft ist. Gleim giebt sich Mühe alles zu sammeln, und wird das Vornehmste davon bald heraus geben. Indeßen schike ich Ihnen hiebey einige Sachen, ohne Wahl, wie sie mir in die Hände fallen zur Probe.

Es fehlte wenig, daß Sie mir nicht durch ihre wie wol kurze Erzählung von der Reise nach Winterthur das Heimwehe gemacht hätten. Unter den wenigen Wünschen, die ich für mich selbst thue, ist würklich dieser der ernsthafteste, noch einmal mitten unter meinen Vaterländischen Freünden etliche Tage zu leben. Noch schmeichle ich mir immer den redlichen Philokles zu sehen. Meine hiesige Reisen und Besuche auswertiger Freünde scheinen mir blos Schattenbilder von denen zu seyn, die Sie genießen. Ich fange allmählig an, mir ein einsames Leben anzugewöhnen, und mir die Musen zu Freündinnen zu machen, daß sie mir in meinem Alter ihre angenehme Gesellschaft nicht versagen. Denn ich sehe, daß ihre Gesellschaft doch die beste von allen ist. Ich fange an zu glauben, daß ich meine übrige Lebenszeit allein mit Verfertigung meines Werks über die schönen Künste zubringen werde. Die Arbeit wird mir immer wichtiger, und es kommt mir vor, daß ich weder für meinen Ruhm, wenn anders dieser etwas anders, als Rauch ist, noch für das beste der Gesellschaft nichts größeres hätte unternehmen können. Denn meine Arbeit hat nach und nach einen Gang genommen, daß die schwersten und wichtigsten Materien der Moral der Philosophie und Politik, sich mit einflechten. Sie, mein Werthester, haben den Vorzug das schon auszuführen, was ich blos angeben werde. Und dies nenne ich ein glükliches Alter, worin man sich die meiste Verdienste erwirbt. Sie könnten mir doch wol von ihrem verbeßerten Noah wenigstens einige Fragmentte zu schiken. Mich verlangt zu wißen, ob die Sprache, die mir hier und da zu wortreich und an Beywörtern etwas überflüßig, an langen Perioden aber etwas schwerfällig scheinet, merklich verändert sey. Ferner möchte ich wißen, ob an einigen Stellen, die Sprache des Herzens etwas einfältiger und von Subtilitäten gereinigter sey. Wenn Sie sich selbst des Künstelns halber anklagen, so kann ich diese Anklag nur über diesen lezten Punkt gegründet finden, und ich glaube; daß die Klopstokische Künsteleyen und allzu subtile Zergliederung der Empfindungen, Ihnen dazu Anlas gegeben haben. Wenn Sie mit dem Noah fertig sind, so hoffe ich, werden Sie auch ihre andre epische Gedichte wieder vornehmen. Was Sie mir von der Würkung ihrer politischen dramatum sagen, ist mir nicht unerwartet. Es ist der eigentliche Beruff der Dichter die Politik und Sitten ihres Landes zu beßern. Dieses aber ist eine Wahrheit, die kaum in eines neüen Dichters Verstand gekommen ist. In meiner Abhandlung über die Dichtkunst sage ich sehr viel und wo ich nicht irre starke und noch nie gesagte Dinge hievon. Was Sie mir von ihrem alten Antistes sagen, hat mich nicht befremdet. Ich habe ihn nie für den Man gehalten, deßen Einsichten ins Große gehen. Von Wegelin erwarte ich sehr viel und möchte deßwegen gerne in einiger Verbindung mit ihm stehen. Mit Iselin, den ich persönlich kenne, habe ich niemal große Lust gehabt mich einzulaßen. Die Todte Gespräche aus der clerischen Welt scheinen mir glüklich ausgedacht. Aber dieser Orden hat noch zu viel Autorität, als daß ich eine freye Ausführung dieses Projekts erwarten sollte. Der Mann in Biber... muß vielleicht sein siebendes Stufenjahr überlebt haben um recht reiff zu werden.

Mit Rabnern stehe ich in keiner Verbindung. Was ich von ihm weiß macht mich glauben, daß er das, was man für ihn thun möchte, irgend bey einer Gelegenheit mit einer Satyre beehren würde. Daß Sie das Denkmal unsrer Verstorbenen Freündin vom Nachdruk verwahrt haben, nehme ich als einen großen Dienst an. Warum wollte man mir nicht selbst die Sorge überlaßen, es so weit bekannt zumachen, als ich es für gut finde. Es ist freylich nicht der Vergeßenheit bestimmt, dies leidet meine Liebe und Hochachtung für die Verstorbene nicht. Es ist aber wenig daran gelegen, ob es etliche Jahr früher oder späther bekannt werde.

Meine Lust zum studiren ist so groß, daß ich mich nicht verdrießen laße Griechische Grammatiken und Lexica um mich zu haben. Ich lese iezt die gr. tragicos mit ihren Scholiasten. Denn ich mag gerne überall aus der Quelle Schöpfen. Wie können doch unsre deütsche Kunstrichter verlangen, daß [→]kein Hexameter eine zweifelhafte Scansion haben soll, da die Lyrischen Metra der Griechischen Chöre ofte so sind, und Verse haben, die man mit gleichem Recht als Anapäste oder Daktylen lesen kann?

Der Herbst scheinet unsern Feinden wieder günstig zu seyn, der Feldzug in Schlesien war geendet, und der König fing an seine Volker cantoniren zu laßen, als die Festung Schweidniz durch Verrätherey der Besazung an die Feinde überging. Dieser wiedrige Vorfall wird den Feldzug verlängern und kann noch zu sehr wichtigen Begebenheiten Anlas geben. Auch ist unsre Unternehmung gegen das Rußische Corps vor Colberg nicht allerdings nach Wunsch ausgefallen. Ich schike Ihnen die Medaillen, welche wir haben machen laßen, aber nur in unedeln Metalle, denn die edlern sind jezo hier sehr theüer. Niemand empfindet die mittelbare Last des Krieges mehr, als Leüte, welche ihre festgesezte Einkünfte haben. Denn sie fallen in einer Münze, die sie über die Hälfte heruntersezen. Hingegen haben eine Menge Leüte, die entweder mit Geld wechseln, oder Lieferungen für die Armee, oder Verfertigung der Kriegsbedürftniße zu thun haben, unermeßliche Reichthümer erworben. Daher Berlin seit diesem Krieg an Reichthum, Pracht und Üppigkeit über die Maaße zugenommen hat.

Ich bin sehr begierig die Beschreibung der socratischen Wirthschaft ihres Bauren zu sehen. [→]Ich kenne hier einen Menschen, der unter meine beste Freünde gehört, der ihrem Hermerschweilischen Bauren gewiß wenig nachgeben wird. Er ist in einem sächsischen Dorffe gebohren, von Profeßion ein Posamentirer und übersieht fast alle Menschen vom Bauren an, bis auf den Papst.

Ich danke Ihnen für die gute Nachricht von meinem Neveu. Vor einiger Zeit bat ich sie ihm einige Bücher für meine Rechnung zu kauffen. Ich wünsche, daß Sie es nicht vergeßen. Unser Hr. Rector wird noch etwas Geld, wo ich nicht irre von mir haben, das er Ihnen zu diesem Behuf schiken kann, und allenfalls kann ich Ihnen auch durch andre Gelegenheiten das ausgelegte wieder erstatten. Ich hoffe, daß er mit der Zeit mir zu meiner critischen Arbeit Hülfreiche Hand leisten soll. Denn es fehlt mir sehr an einem Handlanger hiezu, der ofte für mich lese und schreibe.

[→]Einige Juden haben auf die Schlacht von Torgau eine Medaille prägen laßen, die Ramler angegeben hat. Sie ist eben so übertrieben gekünstelt, als seine Oden sind. Auf dem Avers steht des Königs Brustbild mit der Umschrift Frid. Bor. Rex duodecim Laborib. peractis Divus. Und dieses übersezt er in einen deütschen Zeddel, der zur Enveloppe dienet – nach 12 vollbrachten Arbeiten ein Gott. Welches auch den Theil des publici, der den König enthusiastisch verehrt, gegen ihn aufgebracht hat. Die Exergue zeigt den Hercules der seinen Bogen und Keüle von sich geworffen, und von einem Adler Jupiters Donner Keüle empfängt, mit der Legende Novus incipit ordo.

Ich umarme Sie nebst unsern gemeinschaftlichen Freünden und verbliebe von ganzem Herzen der Ihrige.

S. den 10 Sept.

In fugam vacui.
Die Überfahrt der Königlichen Braut nach England von der Karschin.
NB. Veranlaset durch eine Stelle in der Zeitung wo insonderheit bemerkt worden, daß die Prinz. bey ihrer Einschiffung alle Umstehenden sehr liebreich gegrüßet.

Die Sonne am ätherischen Gewölbe
Stand majestätisch, sah herab
Als Englands Königin auf der beschiften Elbe
Umher sanft lächelnd Grüße gab
Mit ihres Fahrzeügs Purpur Deke spielten
Die Lüfte, ihrer freüten sich
Durchdrungne Herzen, die Anbetungstriebe fühlten
Ihr Blik war mehr als Königlich
So saß nicht Cleopatra, die auf Golde
Den Marc-Anton erobern fuhr,
Wie diese Königs Braut, die Jugendliche Holde
Ganz menschenliebe, ganz Natur.
Das Meer empfieng Sie; Ehrfurcht in den Bliken
Wies rund um Sie ein Nymphen Heer
Agänors Tochter fuhr auf Jovis Rinder Rüken
Nicht so bewundert durch das Meer.
Vor ihrem Schiffe scherzten die Delphine
Und im Erstaunen rief Neptun
Sie hat der Juno Auge, hat der Pallas schönste Mine
Bey welchem Gotte wird sie ruhn?
Auf Muscheln bliesen festlich die Tritonen
Die Wellen wurden selbst ein Lied.
Glükwünschend an das Volk, bey welchem Sie zu wohnen
Kühn übers Meer zu Schiffe zieht
Und Jupiter verschloß izt Sturm und Regen
Still, wie ihr Herz, blieb Luft und See.
Nur Wünsche flatterten von London ihr entgegen
Daß ihre Schiffahrt schneller geh.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a. – E: Anonym Über Friedrich den Großen II 1807, S. 334 f. (Auszug).

Datierung

Der Brief ist von Sulzer fälschlicherweise auf den 10. September datiert worden. Er ist am 10. Oktober als Antwortbrief auf Bodmers Schreiben vom 19. September 1761 verfasst worden.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Abschriften von Gedichten Anna Louisa Karschs. – Zwei Medaillen.

Vermerke und Zusätze

Von einer weiteren Schreiberhand auf der letzten Seite »Sept.« korrigiert in »Octob.«.

Eigenhändige Korrekturen

an langen Perioden
an ⌈langen⌉ Perioden
dazu Anlas
dazu GelegenheitAnlas
es etliche Jahr
dieses etliche Jahr
Hexameter eine
Hexameter auf eine
Novus incipit ordo
Novus incipit rebus ordo

Stellenkommentar

ihren Brief
Bodmer an Anna Louisa Karsch, [Zürich, Mitte September]. Nicht ermittelt.
einige Sachen, ohne Wahl
Darunter war das Gedicht Daß ungewitter in der nacht vom 31 august zu Berlin (ZB, Ms Bodmer 3.3, Nr. 5), das mit dem Datumszusatz 1761 gedruckt wurde in: Karsch Auserlesene Gedichte 1764, S. 10–13.
Erzählung von der Reise nach Winterthur
Vgl. Brief letter-bs-1761-09-19.html.
Fragmentte
»Fragmente«. Verschreibung Sulzers.
Abhandlung über die Dichtkunst
Das im Jahr 1760 vor der Berliner Akademie vorgetragene Memoire Réflexions philosophiques sur l´utilité de la poésie dramatique (vgl. Kommentar zu Brief letter-sb-1759-05-19.html) stützt sich auf Sulzers zeitgleiche Beschäftigung mit den antiken Tragödien im Rahmen seiner Arbeit an der AT.
die gr. tragicos mit ihren Scholiasten
Vgl. die Artikel »Aeschylus«, »Euripides« und »Sophokles« in der AT.
kein Hexameter eine zweifelhafte Scansion haben soll
Darauf zielte etwa die Kritik am Hexameter in Friedrich Nicolais Rezension von Zachariaes Versübersetzung Das Verlohrne Paradies in der Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste 6, 1761, St. 2, S. 311–323, wo es u. a. heißt: »Die meisten dieser Hexameter lassen sich scandiren, wie man will, man hat Noth zu errathen, wie sie der Hr. Verfasser mag scandiret haben, und von der Cäsur weiß er meistens gar nichts.« (ebd. S. 315).
die Festung Schweidniz
Die preußische Besatzung der Festung Schweidnitz in Niederschlesien (heute Świdnica) kapitulierte vor der österreichischen Armee des Generals Laudon am 1. Oktober 1761.
Unternehmung gegen das Rußische Corps
Russische Truppen umlagerten seit Juni 1761 dauerhaft die Festung Kolberg, die von der Armee Friedrich Eugens von Württemberg verteidigt wurde. Die heikle Lage der dortigen Besatzung verschlimmerte sich durch die zunehmende Versorgungsnot und die Festung kapitulierte schließlich am 14. Dezember 1761. Vgl. Bremm Der Siebenjährige Krieg 2017, S. 309, 312.
die Medaillen
Vgl. Brief letter-sb-1761-02-10.html.
die mittelbare Last des Krieges
Die durch die Kriegskosten entstandenen finanziellen Schwierigkeiten in Preußen veranlassten Friedrich II. zu wiederholten Währungsmanipulationen, bei denen der zum Teil durch Betrug von den Bankiers erzielte Gewinn immer größere Summen betraf. Vgl. dazu Treue Wirtschafts- und Technikgeschichte Preußens 1984, S. 91–97.
Ich kenne hier einen Menschen
Johann Hohlfeld, der ursprünglich Posamentierer war und seit 1756 in Berlin mit verschiedenen Erfindungen in Erscheinung trat. Für den Grafen Podewils in Gusow erfand er eine Häckerlingsmühle sowie eine Dreschmaschine und im Auftrag Leonhard Eulers eine Noten-Schreibmaschine, die Sulzer 1771 erwarb.
Vor einiger Zeit bat ich sie
Im Brief letter-sb-1761-02-10.html. Gemeint ist Sulzers Neffe Johann Conrad Sulzer.
Einige Juden [...] Schlacht
Die auf den 3. November 1760 datierte Medaille ist nachgewiesen in: GStA PK, VIII. HA, D 2, Nr. 198. Das Porträt Friedrichs II. wird von dem Satz umrahmt: »Fridericus Bor[ussorum] Rex Lab[oribus] XII peractis Divus«. Übers.: »Friedrich König der Preußen, Gott nach zwölf vollendeten Arbeiten«. Vgl. auch P. Formey, Recueil [des] Médailles Pour servir à L'Histoire de Frédéric le Grand, 1764, Bl. 39 sowie Tafel 18.
Avers
Vorderseite einer Münze oder Medaille.
Exergue
Übers.: »Inschrift«. Hier als Bezeichnung für die Rückseite der Medaille, oder »Revers«.
Novus incipit ordo
Übers.: »Eine neue Ordnung beginnt«.
In fugam vacui.
Übers.: »In der Flucht vor der Leere«.
Überfahrt der Königlichen Braut nach England
Das Gedicht erschien in überarbeiteter Fassung als Die Fahrt der Königlichen Braut nach Engelland (Im August 1761.) in: A. L. Karsch, Auserlesene Gedichte, 1764, S. 85 f.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann