Brief nach dem 1. November 1761, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: nach dem 1. November 1761

Da ist mein Marcus Brutus; ich mache Sie, werthester Freund, zum Arbitre über sein Leben und seinen Tod. Im Fall sie ihn verurtheilen, so habe ich nichts weiter zu sagen. Aber lassen sie ihn leben, so wollte ich gern, daß sie ihn Herrn Reich in Leipzig gäben, wofern sie mit ihm noch immer gut stehen. Sie müsten aber auch seiner Verschwiegenheit versichert seyn, denn ich halte für nöthig daß das stück ohne bekanntmachung des verfassers gedruckt werde. Die berliner und andere sind auf die Züricher so häftig entrüstet, daß ich diesen Stein gern aus dem wege räumen wollte. Ich denke zwar sie werden starke vermuthungen fassen, doch sind es dann noch nicht gewißheiten.

Ich wollte das stück darum gern H. Reich geben, weil ich mir ihn für meinen umgegoßenen Noah gut machen wollte. Denn ich glaube, wenn diser aus seiner presse käme, daß viele vorurtheile fallen würden. Doch davon sollen sie urtheilen, wenn ich Ihnen erst den neuen Noah werde gezeiget haben; welches gegen die ostermesse geschehen kann.

Da ich in dem Brutus mehr auf seine Rechtfertigung als auf meinen Ruhm gesehen habe, so habe ich mir [→]viel gedanken des Cicero, des Seneca, des Shakespear, des Trenchard, des Gordon eigen gemacht. Da fraget sich, wenn sie das stück publicireten, ob sie nicht nöthig fänden in einem Vorberichte mit wenig worten zu sagen, daß Cicero und die andern dem verfasser geholfen haben arbeiten; damit die beschuldigung des plagiats dadurch erleichtert werde.

Wenn sie eine bequeme stelle in disem stücke fänden wo sie Cäsar könnten sagen lassen:

Rom in fesseln zu zwingen war einer Übelthat würdig;
Aber in kleinern sachen seyd immer getreu den gesezen,

so wollte ich Ihnen sehr danken. Ich gebe Ihnen überhaupt carte blanche nach ihren Einsichten, zu verändern, zu verbessern.

Sehen sie auch ob sie nicht den pollio seite 82. sich etwas mehr wollen ausbreiten lassen. Z. Ex.

Cäsar war der König unter den Helden, er hatte verstand
für mehr als eine Welt, er drehte sich wie die sonne in
seiner eigenen Axe und glänzte in seinem eigenen
lichte, er hatte ihre hize, und ihre flecken. Jahrhunderte
nach uns werden seine höhe und grösse noch erforschen.

Sie müssen aber wissen, daß dise Stelle aus Mosers Herrn und Diener genommen ist, wo sie von einem ganz andern Menschen als Cäsar war, gesagt wird.

Ich habe meine andern gedichte mit derselben sorge bearbeitet, wie ich mit dem Noah gethan habe. Ich finde, daß sie zusammen so viel bogen machen würde wie der Noah; und der Noah würde dreissig Octavbogen machen. Ich entschliße aber nichts bevor sie alles in manuscripto gesehen haben.

Sie sollen urtheilen, ob nichts als mahlerisches darinnen sey, und ob sie der gratien gänzlich beraubet seyn oder nur zu dem Wiz und der phantasie reden.

Sie sollen sehen, daß die Natur zu meinem herzen geredet hat, wiewol nicht stürmerisch und brausend. Der Excursus ad umbilicum perductus ist für H. Hofprediger Sack; – die wage der schönheiten St. XXVII der freymüthigen nachrichten ist von – nicht von mir.

Adieu.

In den ersten Wochen des November 1761.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Manuskript von Bodmers Marcus Brutus.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite: » Nov. 61«.

Eigenhändige Korrekturen

ich mir ihn für meinen
ich mir ihn ⌈für⌉ meinen
Cäsar war der König
Cäsar istwar⌉ der König
er hatte verstand
er hathatte⌉ verstand
nichts bevor sie
nichts ehender bevor sie

Stellenkommentar

Arbitre
Übers.: »Richter«.
viel gedanken des Cicero
Zu Bodmers Rezeption Shakespeares, Senecas und Ciceros vgl. Beise Geschichte, Politik und das Volk im Drama des 16. bis 18. Jahrhunderts 2010, S. 310. John Trenchard und Thomas Gordon, englische Publizisten, die unter dem Pseudonym Cato als Verfasser von Briefen bekannt waren, in denen die republikanischen Werte von Moral, Freiheit und Tugend in den Staatsangelegenheiten thematisiert wurden. Vgl. J. Trenchard, Th. Gordon, Cato's Letters, 1720–23. In Bodmers Bibliothek ist Gellius' Übersetzung Cato, oder Briefe von der Freyheit und dem Glücke eines Volkes unter einer guten Regierung (1756–57) nachweisbar (ZB, Sign. 25.417).
in einem Vorberichte
Im Druck der Politischen Schauspiele von 1768 nicht ausgeführt.
carte blanche
Übers.: »freie Hand«.
den pollio seite 82.
Vgl. die Rede der Figur Pollio (Politiker und Redner zur Zeit Caesars): »Cäsar war der König der Helden, er hatte Geist für mehr als eine Welt. Beym Herkules! ich weiß nichts grössers unter den Menschen.« ([J. J. Bodmer], Politische Schauspiele, 1768–1769, Bd. 1, S. 94).
aus Mosers Herrn und Diener
Vgl. Moser Der Herr und der Diener 1759, S. 19 f.: »Man kan ihm, diesen unzubeschreibenden Geist, Bewunderung und Ehrfurcht nicht versagen, er ist der König unter den Helden, er hat Verstand vor mehr als eine Erde, er dreht sich, wie die Sonne, in seiner eigenen Axe und glänzt in seinem eigenen Licht, er hat ihre Hitze und ihre Flecken, er hat das Maas eines großen Geistes, Jahrhunderte nach uns werden seine Höhe, Grösse und Natur noch mit Sorgfalt erforschen, villeicht findet sich ein Newton unter den Politickern, der seinen innern Gehalt eben so genau zu bestimmen weiß, als dieser Confident des Schöpfers die Welten abgewogen hat.« Mosers Lob war an Friedrich II. gerichtet.
Excursus ad umbilicum perductus
Der zweite Teil des sechsten Bandes von J. C. Hagenbuchs Exercitatio philologico-theologica von 1761 trägt den Titel de Theophylacto Bulgariae archiepiscopo ad umbilicum perductus und handelt vom byzantinischen Exegeten und Erzbischof von Ohrid, Theophylactus, gen. von Bulgarien.
die wage der schönheiten
Anonym, Das innere Gefühl: Die Wage der Schönheiten. In: Freymüthige Nachrichten, 8. Juli 1761, St. 27, S. 210–213.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann