Brief vom 19. September 1761, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 19. September 1761

Zuerst danke ich meinem theuersten freund für die bemühungen mit der angelegenheit des Hrn. Le maitre. Ich bin mit diesem redlichen mann in Wintert. gewesen wo ich ihn mit unsern freunden bekannt gemachet habe. Seitdem ist er ganz von ihnen eingenommen.

Breitinger war bey uns, wir haben stunden von honigter heiterkeit, μελιτοεσσα ἐυδια zusammen gelebt.

Künzli ist in die schule verliebt, er wird seiner vaterstadt männer, seines gleichen, erziehen. Sulzer der schuldheiß, regirt, und der stadtschreiber ist ebenso liebenswürdig als vernünftig. Der alte rechtschaffene Hr. pfr. Ehrhard hat noch nicht alles von seiner sanftmüthigen lebhaftigkeit verlohren. Ich war in Tös, als der pfr. Ringgli einen bauersjungen mit säbel und XXX verfolgete, der zu seiner dienstmagd zu leicht gehen wollen, und ich half sie sondern. Ich habe meinen brutus gelesen und meinen Schöno. Künzli sagte von dem erstern, es wäre nicht wahr daß nichts besser nachkäme. Wir sind diesmal nicht bis Trogen gegangen wiewol unser philocles noch lebt und denkt und fühlt, und scherzet. Doch thut er dises alles mehr im geist als im fleische. Er machte mir jüngst das compliment: Si javois eté mort vos lettres m'auroient resuscité, vous nous ramenez au tems de notre vigueur et rafraichissez la memoire de nos jeunes ans – Cest à votre amitié que je dois encor le plaisir de vivre ou plutot que le vivre m'est encor un plaisir.

Aber sie mein freund haben die sommer monate nicht weniger im vergnügen gelebt. Und selbst der bloksberg hat sie zu vergnügen eine angenehme, wizige gestalt angenommen. Dennoch stuhnden sie zwischen leben und todt. Aber welcher von den söhnen der Erde stehet nicht so? Wie freut es mich daß sie für ihre liebsten kinder die person gefunden haben, die sie so nöthig hatten! Sie haben auch Gleim gehabt, den mann der mich einmal so lieb gehabt hat, und mir izt abgestorben ist wie Wieland mir todt und begraben ist. Und sie haben die Durbachin, ich nenne sie lieber bey disem tönenden nahmen als des mannes, der ihrer unwürdig ist. Diese blume ist in der dunkelheit zwischen Nesseln gewachsen, am tiefen boden wie die viole. Ramler ist eine blume von seiden, dergleichen die nonnen künsteln, ohne geruch und leben. Geßner ist im schäferischen was sie im lyrischen ist. Rousseau hat mit grossem Elogo von ihm gesprochen, der citoyen de geneve, der unsern gelehrten ein so zweydeutiger geist scheint; der izt sur leducation schreibt. Er erzieht zwey Kinder bis ins 25ste jahr, er führt sie durch alle scenen der jugend mit seinem unterrichte und das geht in dem buch ganz gut. Ich hoffe, daß ich nicht so ein Künstler sey wie Ramler, aber ich habe doch nicht so viel Natur als Kunst. Ich bin zuweilen nicht sehr mit meinen gedichten zufrieden. In einem andern gesichtspunkt gefallen sie mir wieder. Aber izt ist der Noah ein andrer und doch der vorige. [→]Eine brave Frau von hier, die Wittwe des sohnes unsers gottseligen lehrers, profess. Nüschelers, hat meinen friedrich von Tokenburg und meinen Ulysses französisch übersezt, sie sollen aus einem echantillon davon urtheilen.

Reich wird ihnen zwey päckgen von mir zufertigen. Im ersten liegt Wegelin wider Iseli für Montesquieu. Iseli ist gerade dise woche bey uns. Er ist ein guter mensch und ich bin so gefällig daß ich weder Montesquieu, [→]noch die orientalische, biblische poesie, noch die guten Hexameter gegen ihn gedenke. In dem andern pack liegt Wegelins vertheidigung des moralischen Geschmakes in den schönen Wissenschaften. Diese schrift hat hier gedrukt werden sollen, aber der Antistes Ecclesiæ hat sie supprimirt, weil er von dem geschmak überhaupt übel denkt. Izt hat er ein Nez long d'un aune. Wir haben hier unsere Mißgünstigen, wir sind ihnen aber stark genug an worten und an leiblichen kräften. Wir haben hingegen freunde in Zug, Luzern, dem catholischen Thurgau. Der Brigadier zur Lauben hat meinen stüssi und brun gesehen, und sich nicht beleidiget gehalten. Ich habe die tellische conjuration entworfen die mir Altorf, Schwyz und Unterwalden zu gönnern machen soll.

Wegelin meditirt gespräche ansehnlicher todten aus der clericalischen welt. Augustinus und Pelagius; Arius u. Socinus; Eutyches und Nestorius; Photius und Simon der stylit; Coccejus und Saurin; Origenes und Gregorius magnus; Zwingli und bruder Claus; Heidegger und Werenfels; Menno und Foster; Theodor Beza und Claude; Arminius und Prinz Moriz; Tillotson und Tindal; Baxter und Rochester ... sollen zusammen auftreten. Ihre gespräche sollen nicht lang, aber desto wichtiger werden.

[→]Man berichtet mich so ungeschiktes Zeug von meinem Mann in Bieb... daß ich mich zwingen muß es nicht zu glauben wenn ich nicht viel von meiner achtung für ihn verlieren muß. Mir selbst schreibt er nicht. –

Der junge Sulzer ihr neveu hat gute Anlagen, wir sind ganz mit ihm zufrieden.

Das denkmal ihrer verstorbenen freundin, und der meinen circulirt durch hiesige stadt. Ich habe Mühe gehabt zu verhüten, daß es nicht nachgedruckt wurde. Man hat es mir auf das gewissen geleget.

Unser unterschreiber Hirzel, Iselin, und andere wollten gern dem wackern Rabner ein don gratuit schicken, weil sie glauben seine finances seyn durch den brand von Dresden sehr geschwächt worden. Er hat aber über sein Unglük so stark gescherzet, daß sie glauben, er habe gnugsame Ressources und würde vielleicht eine gratification für eine beschimpfung halten. Haben sie etwan besondere nachrichten, und glauben sie, daß er eine verehrung, wie redliche particularen sie geben können ohne beleidigung annehmen würde?

Der pfarrer von Feldheim hat den Chorhr. Breit. und mich bey dem h. antistes verklagt, daß wir verbunden, pasquillenbeförderer und unglaubige wären; dieser und noch ein paar herren haben ihn darüber verhört und mit Indignation heimgeschikt.

Man erzählt die position des königs in schlesien sey unüberwindlich; der frieden zwischen England und Frankreich sey geschlossen, die Engelländer haben bey Guadaloupe den Jesuiten eine beute von entsezlich viel millionen abgenommen. – Wiewol dise Zeitungen unerhört sind, so schmeichelt sich die phantasie etliche stunden damit so sanft, als ob es historische wahrheiten wären.

Wielands opera omnia werden von Orell zusammen gedrukt, er wollte es in den vorreden mit Uz und andern wider gut machen. Zu Biberach ist er ein Biberacher. Ich habe erst einen brief von da von ihm empfangen.

Dr. Hirzel ist izt unser erster Stadtarzt. Er schreibt die socratische Wirthschaft eines bauern von Hermeswyl.

Ich umarme sie und ihre liebsten kinder. Ein schönes compliment an die ausserordentliche Durbachin.

Bo.

den 19. Sept. 1761.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Brief an Anna Louisa Karsch (vgl. Brief letter-sb-1761-10-10.html). – Auszug aus Übersetzungen von Bodmer. – Friedrich von Tokenburg. – Ulysses.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite »19 Sept. 61.«

Eigenhändige Korrekturen

Haben sie etwan
Haben sie keine |etwan|

Stellenkommentar

von honigter heiterkeit
Redewendung aus Pindars erster olympischer Ode in der Übersetzung Steinbrüchels. Vgl. J. J. Steinbrüchel, Electra, 1759, S. 113.
Sulzer der schuldheiß
Johannes Sulzer.
der stadtschreiber
Wolfgang Dietrich Sulzer.
Hr. pfr. Ehrhard
Zu dem 1764 verstorbenen Zürcher Pfarrer Christoph Erhard vgl. auch Kommentar zu Brief letter-bs-1747-12-06.html.
pfr. Ringgli
Ludwig Ringgli, Pfarrer in Töss seit 1750.
das compliment
Auszug aus einem Brief von Zellweger an Bodmer, Trogen, 13. Juli 1761 (ZB, Ms Bodmer 6a, Nr. 479). Übers.: »Wenn ich schon tot gewesen wäre, hätten mich Ihre Briefe auferweckt, Sie bringen uns zurück in die Zeit unserer Lebhaftigkeit und frischen das Gedächtnis unserer jüngeren Jahre wieder auf – Ihrer Freundschaft verdanke ich noch das Vergnügen, zu leben, oder eher, dass mir das Leben noch ein Vergnügen ist.«
die Durbachin
Anna Louisa Karsch war eine geborene Durbachin, trug aber auch nach ihrer Übersiedlung nach Berlin den Namen ihres Ehemannes Daniel Karsch weiter.
sur leducation
J. J. Rousseau, Émile, Ou De L'Éducation, 1762.
Eine brave Frau von hier
Vermutlich Küngold Nüscheler, geb. Steiner. Sie war mit Leonhard Nüscheler verheiratet, dem Sohn des Zürcher Theologen und Professors am Carolinum Hans Heinrich Nüscheler. Übersetzung nicht ermittelt.
echantillon
Übers.: »Probe, Auszug«.
zwey päckgen von mir
Das erste Päckchen ist wohl dasjenige, das vom Brief Bodmers vom 17. August 1761 begleitet wurde.
noch die orientalische
Vgl. Brief letter-bs-1761-04-08.html.
Wegelins vertheidigung
J. Wegelin, Vertheidigung des erhabnen moralischen Geschmacks in den schönen Wissenschaften, 1762.
Nez long d'un aune
Wörtl. Übers.: »eine Elle lange Nase«.
Der Brigadier zur Lauben
Der aus Zug stammende, aber in Paris aufgewachsene Freiherr Beat Fidel Zurlauben (1720–1799), Brigadier der französischen Armee. 1762 wurde er zum Maréchal de camp, 1780 zum Général ernannt. Zu Zurlauben, vgl. Jauch Beat Fidel Zurlauben 1999. Zurlaubens Zürich-Aufenthalt ist dort nicht nachgewiesen. Am 9. Januar 1762 wurde er jedoch in die Naturforschende Gesellschaft in Zürich aufgenommen (Jauch Beat Fidel Zurlauben 1999, S. 154). Seinen Aufenthalt in Zürich belegt außerdem ein Abschiedsbrief an Breitinger, Zug, 14. Januar 1762 (ZB, Ms Bodmer 22.72).
die tellische conjuration entworfen
Zu Bodmers Drama Die gerechte Zusammenverschwörung, das 1775 in einer gekürzten Fassung erschien vgl. Tobler Bodmers politische Schauspiele 1900, S. 144–148. – Beise Bodmers ungedruckte vaterländische Dramen 2009, S. 328–331.
Wegelin meditirt gespräche
Bodmer bezieht sich bei dieser Auflistung auf zwei Briefe Wegelins, in denen dieser über die geplanten Gespräche mit kurzen Inhaltsangaben berichtet. Vgl. Wegelin an Bodmer, St. Gallen, 29. August 1761 und 5. September 1761 (ZB, Ms Bodmer 6.7, Nr. 41–42). Die Totengespräche, in denen abweichende Positionen verstorbener Theologen jeweils in fiktiven Dialogen miteinander konfrontiert werden, erschienen als Religiöse Gespräche der Todten, 1763. Allein der hier angekündigte Dialog zwischen Eutyches und Nestorius blieb unausgeführt.
Man berichtet mich
Woher Bodmer die Informationen über Wieland hatte, konnte nicht ermittelt werden.
don gratuit
Übers.: »unentgeltliches Geschenk, freie Spende«.
Wielands opera omnia
1762 erschien bei Orell, Gessner und Comp. in drei Bänden die Sammlung Poetische Schriften des Herrn Wieland. Siehe dort den auf den 18. August 1761 datierten »Allgemeinen Vorbericht des Verfassers« (Wieland Poetische Schriften 1762, Bd. 1, S. 3–20) sowie die Vorberichte, die Wieland den einzelnen Werken voranstellte.
einen brief von da
Wieland an Bodmer, Biberach, 1. Oktober 1760 (Wieland Briefwechsel 1963, Bd. 3, S. 14–18).
die socratische Wirthschaft
Vgl. Brief letter-bs-1761-04-08.html.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann