Brief vom 12. März 1773, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 12. März 1773

Mein theurester Sulzer.

In den Besuchen die ich von Hrn Sulzer empfangen, waren Sie der beständige Inhalt unserer reden. Ich fragte ihn um alle Kleinigkeiten Ihrer person; ob Sie nach ihrer Krankheit nicht noch so fett wären, als ich ohne Krankheit bin; ob sie nicht schon zwanzigmal in ihren garten gegangen; ob das Kind das Sie zum großpapa gemachet hat, die schönheit der Mutter und der großmutter verkündige; ob Hr. Graf Sie gemahlet habe; ob sie den buchstaben X in der theorie vollendet haben. A propos man sagt daß Hr. Garve mit Ihnen an diesem werk arbeite. Ich höre viel gutes von diesem manne. Ist es wahr daß er den verfasser des dankbaren sohnes, Engel, in der psychologie unterrichtet? Die Journalisten sagen daß er damit sein genie verderbe. Das sind die leute die in den Frankfurter anzeigen so heftig gegen Ihre grundsäze der künste ausfallen. Ich fürchte immer Wieland habe Antheil an diesen Zeitungen. Er hat es so weit gebracht, daß Ihn niemand mehr tadeln darf. Ich hatte immer gehoffet, daß die Zeit nicht entfernt wäre, da man Wieland, Lessing, Schiras, Herder ihre Wahrheiten sagen dürfte. Meine lezte hoffnung beruhet auf dem Wörterbuche. Von Ihnen selbst möcht ich gern vernehmen, daß sie mit macht und stärke nicht nur des Hauptes sondern des Körpers daran arbeiten. Das gerücht gehet Klopstok gehe nach Wien; wir wollen sehen wie er sich mit Sonnenfels, Mastallier und Denis vertrage. Sonnenfels ist ein handfester Scribent. Denis ist ein rechtschaffener Mann von Wissenschaft und talenten. Bisher hat Klopst. von der Gnade der Gräfin von Bernsdorf gelebt, einer passionirten Schülerin. In Tübingen lebt ein junger autor, der einen Wieland verkündiget, mit weniger genie, aber einem geseztern Gemüthe. Unser londoner Füßli ist immer noch in Rom, wo er historische stücke mahlet, und in die fußstapfen der besten tritt. Er hat von da eine Excursion nach Venedig gemacht, nur um das Colorit der Venedischen schule zu beurtheilen.

Hier hat Herr Lav. von seinem Glaubens- und Wunders-rigorisme nachgelassen. [→]Einer seiner ersten jünger, Weiß beym Entlein, Hr. Müller kann ihnen von disem wunderlichen bursche erzählen, hat Lavaters plaz eingenommen und steht an dem haupt einer sekte, die von Walisellern, Schwamendingern, Mägden und einigen Weiblein besteht. Füßli der jüngste Bruder des Londoner-Füßlis ist sein Ali. Man läst sie unverfolget den Narren spielen.

Hrn Spaldings Nuzbarkeit des predigtamtes thut hier vortreffliche würkungen, ich habe auf seine grundsäze in meiner helvetischen gesellschaft den beweis gebaut, daß man die prediger von des staats wegen anhalten sollte, nach seiner Vorschrift zu predigen. Ich habe es damit bey unserm Cammerer Meister von Küßnach verderbt. Sie kennen den Schwazer, er versteht beynah buchstäblich daß es Gott gefalle, die Welt durch thörigte predigten selig zu machen.

Vor der neuen ausgabe unserer Biebel steht ein kleines real-wörterbuch in Töllners Tone, welches den dechant Schmuz, den Cammerer Meister, den Onkle von Rikenbach, den Pfr. Schinz von Altstetten p. nicht wenig ärgert. Man sagt sie wollen ein synodalgravamen daraus ziehen, einen sturm zu erregen. Man wird aber wissen Ihnen den mund zu stopfen. Der große beschüzer der orthodoxey der blinde Rathshr. Hirzel ist nicht mehr.

Unsere Erneuerungen der Classen, und das neue Institut der Kunstschule sind von dem Rath angenommen und werden in wenig tagen vor den grossen Rath gebracht werden, wo sie die lezte salbung bekommen sollen. Dann wird die Reforme an das Collegium Humanitatis und das gymnasium Carolinum kommen. Hier haben sie, m. freund

die Noachide
die sittlichen Erzählungen
die unterredung von der stadt Zürich. die Geschichte der stadt.
die anfangsgründe zum denken
die anleitung zum gesellschaftlichen leben.

Geben sie die doubleten unserm professor Wegelin. Die anfangsgründe zum denken sind von Chorherr Breitinger, und für 11. 12 jährige Kinder nicht die angemessensten. Die anleitung zum gesellschaftlichen leben ist Dr. Hirzels. Man sezet immer bey Kindern fähigkeit zum schliessen voraus, da sie nur noch ein paar sinnliche bilder combiniren können. Und sie sollen die schiksale und maximen der staaten lernen, da sie noch nicht wissen was ein staatsglied, was ein Mensch für Rechte hat.

Vorigen donnerstag hab ich in der physicalischen Gesellschaft einem bauerngespräch beygewohnt, die Interlocutores waren beyde bürgermeister, Hr. Dr. Hirzel, Hr. Amtmann Schinzen, sechs vernünftige männer von Wädischwyl und Richterschwyl. Die materie war die landesart und die Wirtschaft dasiger berggegend. Von dergl. verträulichkeit und freymüthigkeit hat man von Cleve bis Thorn und Königsberg keine Idee.

Wissen sie daß [→]Gleim mich in dem allmanach der musen hat singen lassen:

Noch ist mir der Kopf nicht schwer
Alt, nicht schwach bin ich,
Wenig nur erquiket mich
Rebensaft, Scherz mehr p.

Doch meine Scherze selbst sind Ernst. Im Christmonat schrieb ich Maria von braband, im Jenner Evadne, im Februar Kreusa. Fürchten sie darum, mein liebster, nicht für meine poetische Ehre. Dise stüke sollen nicht vor die augen der welt kommen. In beyden lezteren sind griechische personen. Ich singe an der Hippocrene und nicht am Mimer. Sie kennen den Mimer, den Glasor, die Nornen, die Skulda – aus Klopstoks Oden. Es ist ein barbarischer Einfall des poeten, der die teutonische mythologie statt der griechischen einführet. Ich wollte noch zufriden seyn, wenn er Helden, handlungen und dise so menschlich hätte wie Ossian. Aber er hat nur Nahmen ohne geschichten, ohne handlung, ohne menschlichkeit, ohne Klang. Es ist erstaunlich mit welchem stolz er den Ruhm des genie in Anspruch nimmt. Man glaubt diesen Titel zu verdienen, wenn man sich von dem Ton der Griechen, der Römer, der franzosen von Ludwig des XIV Zeiten entfernet. Es scheint man fürchte sich ihnen ähnlich zu werden. Man will original seyn, man ist es würklich und es ist nur desto schlimmer für dise, die es seyn wollen und sind.

Sie wissen, daß ich nichts auf die mythologisten halte, die keinen schritt thun können, ohne daß sie fünf oder sechs götter in ihrem gefolge nachschleppen. Ich glaube doch daß man seine handlung und seine personen aus den fabelhaften zeiten der griechen nehmen darf, und daß man dann sich der mythologie bedienen darf. Gewiß ist es kein verbrechen ein sujet des Homers oder des Euripides von neuem abzuhandeln.

Stärken sie Sich, mein freund, und machen mir in dem fünf und siebzigsten sommer des lebens nicht den Verdruß, daß ich sie überleben müsse. Mein leben nach Ihnen wäre eines der wichtigsten Theile seines Wehrtes beraubt.

Ihr
Bodmer.

Zürch den 12ten März 1773.

Hiesiger Rath hat dem stift insinuirt, daß es auch etwas beytragen möchte das Institutum der Kunstschule zu unterstüzen. Er hätte gern jährlich 1500. Gulden gehabt. Das stift hat ihm lieber Gulden 20.000. auf einmal als ein don gratuit geschenkt. Man hat sie angenommen aber nicht sehr mit Zufriedenheit. Sie wissen, daß das stift vor der Glaubensreformation Jurisdictionen gehabt, und selbst von dem Rath unabhangend gewesen. Daß es diese dem Rath überlassen die Emolumenta aber, zinsen, zehnten, häuser, XXX ... sich als sein Eigenthum hat bedungen. Welche ihm auch fide publica durch urkunden reversirt worden, beynah wär ihm doch befohlen worden an das Institut zu contribuiren was man haben wollen. Wir ahmen mit starkem muth den herrschern nach.

Ich muß Klopstoken sagen, daß der Verfasser des lebens Jesu die Schinzin mit den schwarzen augen geheurathet hat, die er selbst auf dem Zürchersee bedient hat.

Ich freue mich Klopstoken das Recht widerfahren zu lassen, das ihm gehört. Als ich den brief schon geschrieben hatte, empfing ich einen von ihm vom 24 febr. Er berichtet mich daß der Messias vollendet ist. Er will gern von mir wissen wie ich mich in dem hohen Alter befinde, wie Breitinger sich befindet, und womit wir uns beschäftigen. Er weiß noch nicht daß Heß gestorben ist. Er glaubt daß ich gott mit ihm für die Vollendung des messias danken werde. Das thu ich wahrhaftig. Er hat mich lange darauf warten lassen.

Izt sage ich nicht mehr daß Er mich nicht mehr liebe. Er liebt mich gewiß mehr als Wieland, der Weissen und Riedeln mehr liebet als mich. Da er nichts von Wien schreibt, so glaube ich daß es ein Conte sey. Von seinen Oden schreibt er nichts. Vielleicht hat er gehört, daß ich auf die scandinavische mythologie nichts halte.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b. – E: Zehnder-Stadlin 1875, S. 434–437.

Anschrift

pour Mr. le professeur Soulzer.

Einschluss und mit gleicher Sendung

[J. J. Bodmer], Die Noachide in zwölf Gesängen von Bodmern. – [Ders.], Sittliche und gefühlreiche Erzählungen und Geschichte der Stadt Zürich. – [J. J. Breitinger], Catechetische Anweisung zu den Anfangsgründen des richtigen Denkens. – [H. C. Hirzel], Catechetische Anleitung zu den gesellschaftlichen Pflichten.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite: »12 März.« – Siegelreste.

Lesarten

Schülerin
Spielerin.

Eigenhändige Korrekturen

nur um das Colorit
und nur um das Colorit
den Cammerer Meister
den Cammerer ⌈Meister
in wenig tagen
in wenig |tagen|
fähigkeit zum schliessen voraus,
fähigkeit zum schliessen zuvoraus⌉,
noch nicht wissen was
noch nicht |wissen| was
Wissen sie daß
Wissen |sie| daß
ihnen ähnlich zu werden
ihnen ähnlich zu scheinen werden
den 12ten März 1773
den 12ten FebruarMärz⌉ 1773

Stellenkommentar

Hrn Sulzer
Sulzers Neffe Johann Conrad Sulzer.
ob Hr. Graf Sie gemahlet
Anton Graff malte seinen Schwiegervater Sulzer seit 1771 mehrfach. 1771 entstand das Porträt, das sich heute im Museum Oskar Reinhart in Winterthur befindet (Tafel 1). Graff wird von Sulzer auch in der AT, Bd. 2, 1774, Artikel »Portrait (Malerei)«, S. 920, erwähnt und als Prototyp eines Porträtmalers vorgestellt.
daß Hr. Garve mit Ihnen an diesem werk
Siehe Brief letter-sb-1773-05-11.html.
verfasser des dankbaren sohnes
Der Verfasser des 1773 erschienenen Lustspiels Der dankbare Sohn war Johann Jakob Engel, der in Leipzig Garve zu seinen Freunden und Förderern zählte. Vgl. zu Garve und Engel auch deren Briefwechsel, in dem mehrfach von Sulzer die Rede ist. In: Engel Briefwechsel 1992, S. 32–34.
Schiras
Gemeint ist Gottlob Benedict von Schirach.
Gräfin von Bernsdorf
Charitas Emilie von Buchwald, die Graf Bernstorff im Jahr 1751 geehelicht hatte.
In Tübingen lebt ein junger autor
Gottlob David Hartmann. Hartmann schrieb erstmals am 19. September 1772 an Bodmer, den er als »Verehrungswürdigsten Menschenfreund« betitelte, und klagte über die »Verabsäumungen« im Studium der deutschen Sprache und die »vielen Wizlinge«, die nur »schwazen« und »allerliebste französische Tändeleyen in einer so süssen Sprache« von sich geben, vor der er sich »schon lange ekel[e]« (ZB, Ms Bodmer 2a.4). Dem Schreiben beigelegt war eine Schrift mit dem Titel »Von den Verdiensten Luthers um die Sprache«.
Füßli ist immer noch in Rom
Zu J. H. Füsslis Aufenthalt in Rom siehe Federmann Füssli 1927, S. 37–48.
Einer seiner ersten jünger
Heinrich Wyss (1745–1808) war zuerst Vikar in Neftenbach. Nach seinen schwärmerischen Exzessen wurde er 1774 Lehrer an der Lateinschule in Zürich. Wyss war ein enger Freund Heinrich Pestalozzis. Lavater interessierte sich für die Seelenfreundschaft (bzw. die Affäre) zwischen dem erst 20-jährigen Wyss und der 50-jährigen Bauernwitwe Katharina Rinderknecht, da beide behaupteten, sie hätten göttliche Offenbarungen erhalten und könnten Wunder vollbringen. Vgl. dazu Weigelt J. K. Lavater 1991, S. 19. – Vgl. auch Brief letter-bs-1775-05-16.html.
Füßli der jüngste Bruder des Londoner-Füßlis
Johann Kaspar Füssli (1743–1786), der auch als Entomologe und Insektenmaler in Erscheinung trat und 1775 eine Antwort auf Hottingers Sendschreiben (vgl. Brief letter-bs-1775-05-16.html), in dem Lavater und Wyss angegriffen wurden, verfasste.
bey unserm Cammerer Meister von Küßnach verderbt
Ende 1772 entstand eine briefliche Kontroverse zwischen Bodmer und Meister über Spaldings Nutzbarkeit des Predigtamtes und die Rezensionen von Eberhard und Ernesti. Nachdem Bodmer Meisters Kritik an dem Werk scharf angegriffen hatte, antwortete Meister verletzt. Vgl. Meister an Bodmer, Küsnacht, 22. Januar 1773 (ZB, Ms Bodmer 10, Nr. 235).
Vor der neuen ausgabe unserer Biebel
Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1772-11-24.html.
real-wörterbuch in Töllners Tone
Zu dem protestantischen Theologen Johann Gottlieb Töllner, der als Prediger und Vertreter der Neologie in Frankfurt an der Oder wirkte, siehe Beutel Kirchengeschichte im Zeitalter der Aufklärung 2009, S. 134–137.
Onkle von Rikenbach
Vermutlich Johann Jakob Wirz, der Mann von Sulzers Schwester Küngolt. Vgl. zu ihm auch Kommentar zu Brief letter-bs-1764-04-14.html.
blinde Rathshr. Hirzel
Der 1700 geborene Ratsherr Salomon Hirzel war 1773 gestorben.
Gleim mich [...] singen lassen
Vgl. Almanach der deutschen Musen auf das Jahr 1773, S. 7. Gleim steht wahrscheinlich hinter der Publikation von Bodmers Versen, die dieser in Anlehnung an Gleims Gedicht Der Greis in einem Brief an ihn bereits 1767 entworfen hatte. Siehe Kommentar zu Brief letter-bs-1767-06-06.html. Das Gedicht Der Greis erschien 1773 erneut in Sämmtliche Schriften des Herrn F. W. Gleims, Bd. 5, S. 63.
stüke sollen nicht vor die augen der welt kommen
Bodmers Maria von Braband erschien 1776 im Verlag von Jacob Otto, seine Evadne und Kreusa 1777 bei David Bürgkli.
an der Hippocrene und nicht am Mimer
Anspielung auf Klopstock, bei dem Mimer als heilige Quelle der Dichtkunst bezeichnet wird, so u. a. in seiner Ode Wingolf: »Da kommt Du jetzt her, hast aus dem Mimer schon/ Die geistervolle silberne Flut geschöpft.« Hippocrene ist in der griechischen Mythologie der Name der Apoll und den Musen heiligen Quelle der Dichtkunst.
stift
Zürcher Chorherrenstift.
die Schinzin
Klopstocks einstige Freundin Anna Maria Schinz hatte 1767 Johann Jakob Hess geheiratet.
vom 24
Vgl. Klopstocks Schreiben an Bodmer vom 24. Februar 1773 (Klopstock Briefe 2003, Bd. 4/1, S. 19).
Heß
Johann Caspar Hess, Pfarrer in Altstetten und später in Neftenbach, der bereits 1768 gestorben war.
Conte
Hier: »Märchen, Gerücht«.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann