Ich därff hoffen, mein theürester väterlicher Freünd, daß Sie es so genau nicht mit mir nehmen, wenn ich in Beantwortung ihrer Briefe, davon jeder mir einen FestTag macht, nachläßiger bin, als ich es seyn sollte. Ein so lang anhaltender Kampf zwischen Gesundheit und Krankheit und in der That zwischen Leben und Tod, mit so viel bösen Tagen und so vielem Leiden verbunden, macht zulezt nicht blos träge, sondern hebt einen großen Theil der Empfindsamkeit des Herzens auf. Ich erlebe Tage, Wochen und beynahe ganze Monate, wo mir die Haut schaudert, wenn ich nur ans Schreiben, oder an irgend eine Art von Beschäfftigung denke. Darum habe ich mich mit dem ersten Eintritt des Frühlings auf den Rath meines Arztes nach meiner ländlichen Hütte begeben, um hier einer völligen Ruhe zu genießen und mich in den Strahlen der FrühlingsSonne zu baden. Die wenigen schönen Tage, die wir bis izt gehabt haben, sind nicht ohne gute Würkung auf mich gewesen. Der Geist ist weit munterer, als die Statt ihm zu seyn erlaubte, und es ist izt würklich ein Anschein vorhanden, daß ich wieder gesund werden soll; wie wol noch öftere Rükfälle in verdrießliche und drohende Symptomen den Fortgang der Genesung unterbrechen.
In diesen Umständen mein theürester Freünd, führe ich das Leben meiner ersten Jugend, bringe meine Tage Sorgen und Gedankenlos zu, mache mir aus jeder Kleinigkeit ein Vergnügen und vergeße, daß es ernsthafftere Geschäffte in der Welt giebt. Meine Kinder, denn auch Graff ist mit seiner Frauen izt in Berlin, und einige Freünde besuchen mich fleißig, und fast Täglich reite ich eine Stunde oder mehr, um mein Träges Geblüth durchzuarbeiten. Auf diese Weise verschaffe ich mir doch allmählig wieder einigen Schlaff und genieße bey meiner pythagorischen Diät vergnügte Tage.
An meine Hauptarbeit, die Theorie der Schönen Künste habe ich seit dem Januar nichts thun können: aber izt sammeln sich allmählig die Gedanken wieder. Es sind wol einige Bogen vom Zweyten theil abgedrukt, weil ich aber die Correktur nothwendig selber besorgen muß, so ist auch der Druk durch meine Unthätigkeit gehemmt worden. Sollte der May schön und meiner Gesundheit so vortheilhafft seyn, wie der Anfang es verspricht, so werde ich bald im Ernst wieder an die Arbeit gehen. Ganz müßig bin ich doch in den lezten Monaten des Winters nicht gewesen; denn ich habe auf Verlangen des Herzogs von Curland ihm einen Plan zu einem Academischen Gymnasio entworffen, das dieser Regent in Mitau stifften will. Meiner Unthätigkeit ungeachtet habe ich auch vom König neüe Versicherungen Seiner Gnade und Vermehrung meines jährlichen Gehalts bekommen. So weit geht das Capitel von mir.
Daß Sie mein Theürester noch so munter am Geiste, noch so geschäfftig und noch so vergnügt sind, macht mir Freüde, so oft ich daran denke. Meinem Urtheile nach haben Sie in ihren Arbeiten für die dortige Schule nicht nur Breitingern, sondern auch den weit jüngern Dr. Hirzel weit hinter sich zurüke gelaßen. Ihre Geschichte der Statt hat, für das, was sie seyn sollte, meinen völligen Beyfall. Kommt noch ein verständiger Lehrer dazu, so muß das Lesen dieser kleinen Schrifft von Würkung seyn. Auch die Erzählungen sind meines Bedünkens im rechten Ton gesagt; aber einige sind mir doch zu unerheblich. In Dr. H. Unterricht ist manches, das artig genug gefaßt ist; aber die einfältige Hübnerische Art der Fragen und Antworten ist nicht nur, so wie sie hier ist, völlig unnüze, sondern noch etwas schlimmer. Dann werden, wie Sie auch angemerkt haben, zu viel abgezogene Begriffe, die die Kinder gewiß nicht haben, vorausgesezt. Man muß mit Kindern schlechterdings die Sprach einer völligen Sinnlichkeit führen: aber diese kann allmählig so eingelenkt werden, daß doch zulezt richtige und Helle Begriffe über abgezogene Dinge daraus entstehen. Unter meinen Entwürffen zu künftigen Arbeiten, die vermuthlich nie werden ausgeführt werden liegt auch der von einer Kinder Metaphysik, durch die ich mir getraute Kindern die schweresten allgemeinen Begriffe sehr gründlich beyzubringen. Z. E. Wann ich mir vornähme einem Kind den Begriff von Vollkommenheit beyzubringen, so würde ich anfangen es auf die Beschaffenheit eines Meßers, eines Löffels, oder einer andern Sache dieser Art aufmerksam zu machen, um ihm zu zeigen, daß diese Sache, dazu, wozu sie gemacht ist gänzlich und ohne Mangel geschikt ist; oder daß dies und jenes daran fehlet. Dann würde ich dem Kind allmählig angewöhnen meine Anmerkungen über den Löffel auf andere ihm wol bekannte Gerätschafften anzuwenden; hernach auf Verrichtungen der Handwerker, wodurch gerade das gethan wird, was man hat thun sollen; endlich auch sittliche Handlungen u. s. f. Dieses ist meines Erachtens der einzige Weg den Geist recht gründlich auszubilden.
Sehr freüet es mich, daß Kopstok Ihnen wieder Zeichen der Freündschafft gegeben und dieses ist beynahe hinlänglich mich mit diesem Dichter, deßen wilder Stolz, der mich in so manchen seiner Oden höchlich beleidiget hatte, wieder auszusöhnen. Nicht nur dieser Stolz, sondern auch der unsinnige Enthusiasmus bey kalten Gegenständen, wie z. E. in der abentheüerlichen Ode über den Spondäus, haben mich dem, sonst in der That großen Dichter, ungemein abgeneigt gemacht. Was für ein barbarischer Wunsch, in der Ode Wir und Sie, eine ganze Nation die er feindschafftlich beneidet, vor der Spize seiner Lanze zu sehen, um sie auf einmal durch zu bohren? Und wie höchst unverständig einen so rasenden Haß öffentlich an den Tag zu legen?
Sie fragen mich nach dem Verfaßer der Apologie des Sokrates. Es ist ein wakerer junger Man, der Prediger an einem Berlinischen Ortenbach, nämlich an dem Arbeits-Haus (einer Art von Zuchthaus) ist. Wenn er sich nur vor einer gewißen Fatuität, davon seine Jugend bisweilen einige Spuhren bliken läßt, durch zunehmenden Verstand heilen wird, so wird ein rechtschaffener Man aus ihm werden.
Ich glaube, so wie Sie, daß die, welche die ersten waren, die Reformation des Zwingli anzunehmen, die lezten seyn werden, sich eine zweyte Reformation gefallen zu laßen. Ihr weltlicher Arm hat zu wenig Gefühl für geistliche Dinge und doch leidet der gewöhnliche RegentenStolz es nicht, daß er sich leiten laße. Mit unsern Reformatoren, bin ich doch nicht ganz zufrieden. Eine Religion, die den gemeinen Man beleben soll, muß doch mehr Sinnlichkeit und bald würde ich sagen, mehr Aberglauben haben, als sie darin leiden wollen. Philosophisch wird nie ein Volk werden.
Der Prof. Garve, nach dem Sie fragen, ist würklich ein sehr philosophischer Kopf und ich hatte ihn meinem Verleger vorgeschlagen, mein Werk zu vollenden, wenn ich darüber wegstürbe. Aber der gute Man ist izt schwächer, als ich, und wird, wie ich glaube nicht lange leben. Mag. Engel ist sein Freünd und selbst ein guter Kopf und dabey bescheiden.
Den politischen Stoff mag ich nicht berühren. Ich habe mir bey der beständigen Vorstellung, daß ich bald Bürger einer andern Welt werden soll, abgewöhnet auf die Händel dieser Welt aufmerksam zu seyn. Und denn geben diese so wenig erbaulichen Stoff an die Hand, daß man auch ohne dem die Augen gerne davon abwendet. In Warschau sieht es bis izt sehr verworren aus; und es scheinet doch, daß die drey verbündeten Mächte mehr Verwiklung finden, als sie sich vorgestellt hatten.
Noch habe ich die Neüe Ausgabe der Noachide mit der vorigen nicht vergliechen, weil mein Buchbinder sie noch hat. Haben Sie Dank für dieses angenehme Geschenk. Ich umarme Sie von ganzem Herzen.
JGSulzer
den 11 May. 73.
H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b. – E: Zehnder-Stadlin 1875, 437–440.