Brief vom 6. Juni 1767, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 6. Juni 1767

Wie sehr wünschte ich mein Herz in einem tête à tête mit Ihnen, mein liebster Sulzer, zu erleichtern! Ich habe hier zwar auch Freunde, welchen ich recessus animi entdeken darf; aber keinen, der mit meiner Seele so harmonisch gestimmt sey wie sie. Was für Charakter wollte ich Ihnen schildern! Einen Mann der in sofismen sich selbst so lange geübt hat, daß er sie izt in der Aufrichtigkeit seines Herzens für gute Logik, und droit de convenance für gesunde Politik hält. Einen andern, der mit κυνος ὀμμασι du blanc au noir, du noir au blanc übergehet, heute für Recht und Wahrheit, morgen für Unterdrükung die schönsten sachen sagt, die waffen des wahren, die waffen der falschheit mit derselben geschiklichkeit führt. Viele andere, die aus trägheit, aus Bequemlichkeit einen guten erträglichen Verstand, und schöne Acquisita ungebraucht und ungepflegt verfaulen lassen, die lieber schafmässig folgen, als die mühe nehmen zu sehen. Einen oder Zween, die Verbindungen und sentimens getreu bleiben und die kühnheit haben zu bekennen was sie denken und empfinden, wiewol sie beleidigen. Einen unverschämten, der uns kein gedächtniß zutraut, dass wir uns erinnerten wie er den Grundsaz, den er izt behauptet noch vor 6. wochen bestritten, und besieget hat. –

Ich bin ungemein mit dem Doctor zufrieden, und ich würde ihn zum Haupt des Senates machen wenn ich die Wahl hätte. Ich weiß daß er dann eine superiorität bekäme, die dem weisesten und republicanischsten und gerechtesten mann dise Qualitäten allein nicht geben.

Der Ambassadesecretair Wyss, der Sohn meines besten und gerechtesten Freundes (sie haben den Hn. Landschreiber Wyss gekannt, der im jahr 1740. gestorben) möchte sich selbst aufessen, so sehr nimmt er zu Herzen, was er gesehen und gehört hat.

Sie werden einmal die historiam arcanam von Genf lesen, und erstaunen, ob sie gleich schon viel Historias arcanas gelesen haben, denn Genf hat Geister die denken können und denken dürfen.

Es bekömmt mir wol, daß mein abnehmendes leben mich nicht mehr persönlichen Antheil an dem Schiksal meines vaterlandes nehmen läßt, als mein getreues Herz sich für die Tage interessirt, in welchen ich nicht mehr daseyn werde. Ich möchte sonst in der blüthe der jugend grau geworden seyn. Ohne Zweifel ist es mein gutes Herz, daß ich mich um die öfentlichten Geschäfte bekümmere; daß ich als ein würkender theil darinnen lebe. Oder es ist die Thätigkeit des Geistes der izt nachdem er aufgehört hat Hexameter zu machen, senatus consulta entwirft. Ich habe doch noch kürzlich Hexameter geschrieben, als ein junger mensch, der mir lieb war, vor der zeit ins Todbette kam. Und ich habe ihnen, wenn ich mich nicht betriege geschrieben, daß ich in einer debauche des geistes Reime gehascht habe:

Noch ist mir der Kopf nicht schwer
Alt, nicht schwach bin ich;
Wenig nur erquiket mich,
Rebensaft, scherz mehr.

Über 4 strophen hab ichs doch nicht ausgestanden. Ich mußte Ihnen dises sagen, damit sie nicht dächten, ich wäre versauert. Ich danke der Calliope meine Munterkeit, und Ihnen meinen vertrautern Umgang mit Calliope. Ich umarme sie und unser beyder Wegelin.

B–r.

Zürich den 6ten Junius 1767.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b. – E: Zehnder-Stadlin 1875, 426–427.

Anschrift

pour Monsieur le professeur Soulzer.

Stellenkommentar

Wyss, der Sohn meines besten und gerechtesten Freundes
David von Wyss, der sich 1766 als Sekretär der Zürcher Abgeordneten in Genf aufhielt, war der Sohn von Heinrich Wyss (1707–1741).
junger mensch
Nicht ermittelt.
Reime gehascht
Die Verse sind eine Abwandlung der ersten Strophe von Gleims Gedicht Der Greis: »Hin ist alle meine Kraft!/ Alt und schwach bin ich;/ Wenig nur erquicket mich/ Scherz und Rebensaft!« Vgl. die handschriftliche Fassung des ebenfalls mit »Der Greis« überschriebenen Gedichts Bodmers (ZB, Ms Bodmer 31.7.V).

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann