Brief vom 2. Januar 1773, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 2. Januar 1773

Zürich den 2ten Jan. 1774

Ich halte den tod für einen Führer in gegenden, wo wir Wissensbegierige leute für unsere Neugier überflüssige Unterhaltung haben. Und darum höre ich die Ahnungen, die man von ihrem kurzen leben haben will, ohne Wehklagen. In meinem langen leben bin ich zu dem kürzesten periodus desselben gelanget, und ich hatte schon in dem 40sten und 50sten jahre nicht mehr ursache eine längere dauer zu wünschen als izt in dem 75sten. Sie, mein Liebster, haben das Glück, das ich nicht habe, daß sie in den armen Ihrer Kinder und Kindeskinder sterben. Weiter leben sie in ihren schriften, wenn meine schriften mit mir dahin sind. Doch hier hab ich den trost daß nicht ganz gestorben seyn weil man noch in seinen schriften lebt, ein so feines leben ist daß es wenig mehr als ein Ausdruk scheint. Sollt ich mehr Furcht vor dem tod meiner Gedichte haben, als meines körpers, der gewiß mir näher zugehört. Ich sehe ohne bewegung in die kritischen blätter der Kloze und der Riedel, die den alten patriarch Bodmer in der gestalt eines neuen Silens um das gebirg Jura herumreiten lassen; und ich entfärbe mich nicht, wenn sie mich in Alexandrinern töden.

– Stirb denn eh kühner bald sein (Weissens) zügelloser Geist
Deutsch, ganz in deutschem stof, dich grauenvoll sterben heißt.

Es machte mir vergnügen als ich in Michaelis Gräbern der dichter las; (und Michaelis ist der liebling Gleims und Jacobis:)

Lass immer stillen mohn, durchgirrt von heisern Heimen
Auf deines Bodmers Hygel wehn,
Und meine phantasie in patriotschen træumen
Um ihn den ersten tanz der goldnen jahre sehn. –
Des nussbaums finstrer Wald verhyllt in seine schatten
Den dichter dessen lied nur dæmmert nimmer tagt,
Der an die klarheit keine sylbe wagt
Und fyr den menschen spricht wie er fyr Engel dæchte.

Dieser leztere soll Haller seyn. Wenn Sie sich überwinden könnten die Riedels, Schiras und Mauvillons zu lesen, so würden sie miscellanea critica genug vor sich finden, worüber sie sich in ihrer zweiten theorie erklären könnten si tanti esset.

Es ist ein junger mensch in Tübingen der für mich enthousiasmirt ist wie Wieland vor mehr als 20 jahren in seinem Alter war. Er hat ein besseres herz, aber seine literatur und sein Genie nicht. Es giebt geschmaksfanatiker, die so leicht in flammen gerathen wie stoppeln und eben so leicht erlöschen.

In Klopst. herzen ist hize und frost beysammen, und Wielands Empfindungen sind poesie. Diese genies und ihre Kaufleute die Reiche und Bohne verkaufen uns marginalien für Oden und Text. Wieland thut in der literatur was die Schweizer im Kriegsfelde: Helvetus aurum sibi posuit, auro ceruit vitam bellum conponatur, Wielandus bonas literas.

Der nachdruker Heilmann thut freilich Reichen schaden, aber Reich hat den schaden geholt da er Wielanden so übermässig gezahlt hat. Wieland ist der erste sünder, der seine Muse feil trägt wie Reich sein papier. Es giebt gewaltthätige die man nicht anders als durch gewaltthätige wege in die schranken sezen kann. Dises ist zum wenigsten Heilmanns Entschuldigung.

So wollte ich den partagetractat verzeihen, wenn die Absicht wirklich wäre die pohlen zur Ruhe zu bringen. Aber diese Absicht kömmt nicht in die Herzen der Mächtigern. Berenger, ein Natif de Geneve hat die Histoire de Geneve geschrieben mit einer aufrichtigkeit die einen Zürcher zu ihrem Müller nach Berlin jagte. Er hat Muster daß Bern so gewaltthätig mit Genf umgegangen wie Stanislaus klagt und es auch den Eidsg: geklagt hat daß ihm widerfahren sey. Sein Werk ist zwar nicht delicat geschrieben, aber in dem geraden, starken bonsens. Wenn der Senat von Genf und der von Bern ihn für die Wahrheiten, die er von ihnen bezeugt, nicht verfolgen, so sind sie besser als ihre vorältern. Das künftige jahrhundert kann leicht so philosophisch seyn als das unsere war, denn dises war es doch nur in büchern. Zwischen Helvetius styl im Esprit und dem Systeme de la nature ist ein unterschied, daß ich für Helvetius gut seyn darf, er sey nicht der Verfasser des systeme. [→]In Paris hat man izt les idées naturelles et philosophiques opposées aux idees surnaturelles et theologiques. Der unglaube wendet seine lezten Kräfte an. Die Prediger der vorigen Zeiten sagen Semlers, Töllners, Eberhards schriften begünstigen den Unglauben so sehr als das System de la nature thue. Warum sagen sie mir nichts von Eberhard, der hier so vil gilt daß man ihn bis auf die Farbe der Haare kennen möchte. Ich habe keine Geschichte der Menschheit geschrieben, aber die Geschichte der taurisken für hiesige Helvetische Gesellschaft. Meine taurisken sind die appenzeller denen ich einen staat gemacht, in welchem sie den brodmangel, der sie vorm jahre schier aufgerieben hat, nimmermehr zu befürchten haben würden.

Ich habe so viel ungenuztes geschrieben, daß ich nicht noch das politische testament in den sand schreiben will. Unsere leute sind mit Gott entschloßen, daß sie ihre Maximen und sitten behalten wollen.

Gefällt ihnen Klopstoks prosodie in seinen Oden auch nicht? Die prosodie in der Ode im Patroklus ist wahrhaftig diselbe. Finden sie nicht daß die prosodie zu den dingen des Geschmakes gehört über welche man nicht streiten kann?

Ich dürfte Ihnen nicht ohne erröthen sagen daß ich Maria von Braband gedichtet habe, die der pfalzgraf Ludwig 1250 aus Eifersucht enthaupten lassen; wenn Sie mir nicht Ergötzungen von diser Art mit der gütigkeit vergäben, mit welcher sie Gleimen, den ich für meinen Altersgenossen ansehe seine ewigen Lieder verziehen. Ich dichte wenn leute von meinem Alter Rechnungen schreiben oder Wein ablassen.

Auf die Ostermesse kann ich Ihnen etliche von unsern neuen schulbüchern schiken, gute dinge, wiewol ich immer fürchte man seze bey den Kindern ein SchließensVermögen voraus, da sie nur einige sinnliche bilder zusammensezen können.

Ich umarme sie, und Müller und Wegelin und Lambert.

Ihr
Bodmer.

Die prediger voriger Zeiten sagen, Eberhard scheine in seiner Apologie etliche mal zu behaupten, daß ein Christ ohne einen Erlöser zu kennen selig werden könne. Er tadele daher mit unrecht die strophe Klopstoks:

Ohn ihn der sich für mich geopfert hat,
Könnt ich nicht dein seyn.
Ohn ihn wäre deine Gegenwart
Feuereifer und Rache mir.

Sie wollen sich nicht rauben lassen, daß sie ohne Erlöser selig werden. Christus habe ihnen alles erworben, ohne diesen Erwerb hätten sie die seligkeit nicht erlangen können. Schwärmerey und Unglaube sind entgegengesezte dinge; beyde lehre ihre Vernunft sie meiden. Sie wollen sich von der Vernunft doch nicht als Kettenhunde festhalten lassen.

Nur damit keine seite leer bleibe, so haben sie hier das Ende der Maria von Braband:

Sanft ist in meinem tod das labsal gütige Gertrud,
Theure Elisa, daß küsse von euren fräulichen lippen
Meinen küssen begegnen, von gleich unbefleketen lippen.
Möcht ich dem Herzog auch die Küsse des Abschieds bieten,
Meiner Wünsche den lezten, so klagt'ich nicht weiter, das würd ihm
Dann ein kleines labsal noch seyn, wenn allzu spät er
Innen würd meiner Unschuld u. Lieb', u. mein schmählicher tod ihm
Jede Freude vergiftet, die ihm dann wieder zu geben
Kein Gebete vermag, kein Chorgefüterter⟩ Münche.
Brabants Maria sprachs, und bot dem Eisen den Hals dar.
Ein alter Minnesinger sagt:
Si bat ir Herren Kusses ê irme ende
Sol ich syn von úch erslagen
Dez muzet ir vil dike
Wynden sere úwre Hænde
.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Datierung

Fälschlicherweise von Bodmer (und nachträglich auch von Sulzer) auf 1774 datiert. Mit dem »junge[n] Mensch[en] in Tübingen« ist Gottlob David Hartmann gemeint, der hier das erste Mal erwähnt wird und den Bodmer seit 1772 (der erste Brief Hartmanns an Bodmer ist auf »Tübingen den 19. Sept. 1772« datiert) kannte. Außerdem ist von aktuellen Ereignissen und Publikationen die Rede, die Ende 1772 stattgefunden haben bzw. veröffentlicht worden sind.

Vermerke und Zusätze

Paginierung von Bodmers Hand. – Vermerk Sulzers auf der Umschlagseite: »27 Jan. 74.«. – Blatt in der Mitte zerrissen. – Siegelreste.

Lesarten

schranken
Textrekonstruktion nach Ms Bodmer 20.9–11.
Ergötzungen
Textrekonstruktion nach Ms Bodmer 20.9–11.
dinge
Textrekonstruktion nach Ms Bodmer 20.9–11.
SchließensVermögen
Textrekonstruktion nach Ms Bodmer 20.9–11.

Eigenhändige Korrekturen

sein (Weissens) zügelloser Geist
sein ↑(Weissens)↑ zügelloser Geist
marginalien für Oden
marginalien und für Oden
kein Chor
kein tische |Chor|

Stellenkommentar

den alten patriarch Bodmer
Riedel hatte Bodmer u. a. in Über das Publicum im Ersten Brief an Herrn Weiße (höfliche Grobheiten für Herrn Bodmer) scharf attackiert. Die Quelle, die Bodmer als Silen, der um das Gebirge Jura umherreitet, darstellt, konnte nicht ermittelt werden. Die anschließend zitierten Verse stammen aus: [W. J. C. G. Casparson], Johann Christoph Gottsched, an Herrn Johann Jacob Bodmer in Zürch, 1770.
in Michaelis Gräbern der dichter
J. B. Michaelis, Die Gräber der Dichter. An den Herrn Canonicus Gleim, 1772, Zitat S. 8.
ein junger mensch in Tübingen
Gottlob David Hartmann, geboren 1752 im schwäbischen Roßwag, interessierte sich neben dem Studium der Theologie schon früh für Philosophie und Literatur. Seine Dichtungen, mit denen er auch auf die politischen und nationalen Entwicklungen seiner Zeit einwirken wollte, stehen vor allem unter dem Einfluss Klopstocks und Denis'. Hartmann lernte Bodmer im Oktober 1773 während eines Besuches in Zürich persönlich kennen (vgl. Brief letter-bs-1773-10-15.html). Sulzer vermittelte ihm schließlich Anfang des Jahres 1774 eine Professorenstelle in Mitau, wo er im Alter von nur 23 Jahren im November 1775 starb. Zu Hartmann und Bodmer vgl. Reiling Bodmer und Gottlob David Hartmann 2009.
Bohne
Johann Carl Bohn, Hamburger Buchhändler und Verleger der Oden Klopstocks.
partagetractat
Aufteilungsvertrag, hier auf die erste Teilung Polens bezogen.
ein Natif de Geneve hat die Histoire de Geneve
Jean Pierre Bérengers sechsbändige Histoire de Genève, depuis son origine jusqu'à nos jours, 1772–73.
wie Stanislaus klagt
Stanislaus August II., König von Polen. Stanislaus musste 1772 der ersten Teilung Polens durch die Großmächte Rußland, Preußen und Österreich zustimmen. Er stand in freundschaftlichem Kontakt mit Melchior Grimm und den Enzyklopädisten.
In Paris hat man izt
Der Verfasser von Le Bon Sens ou Idées naturelles opposées aux Idées surnaturelles war D'Holbach.
die Geschichte der taurisken
Bodmers Fragment von dem Staat der Taurisken. Eine 16 Blatt umfassende Abschrift von Johann Heinrich Schinz befindet sich in der ZB (Ms Bodmer 35.6.II). Bei den Tauriskern handelt es sich um einen keltischen Stamm.
in der Ode im Patroklus
Ode der Diomede in Bodmers 1778 veröffentlichtem Trauerspiel Patroclus im sechsten Auftritt.
Maria von Braband gedichtet
Maria von Braband erschien gemeinsam mit einem weiteren neumittelalterlichen Epos Hildebold und Wibrande 1776 bei Jacob Otto in Chur. Die Geschichte Maria von Brabants ist in einem spätmittelalterlichen Sangspruch Meister Stolles in der Jenaer Liederhandschrift überliefert, der Bodmer als Quelle diente (vgl. Debrunner Das güldene schwäbische Zeitalter 1996, S. 115). Demnach wurde die Herzogin aufgrund einer Verwechslung 1256 (nicht wie von Bodmer angegeben 1250) aus Eifersucht von ihrem Mann Ludwig II., gen. der Strenge, in Donauwörth hingerichtet.
tadele daher mit unrecht die strophe Klopstoks
Johann August Eberhards Kritik an dieser Strophe aus Klopstocks Ode Dem Allgegenwärtigen in seiner Neuen Apologie des Socrates, 1772, S. 85: »Ich wünschte daher, daß sich Stellen wie folgende, nicht in Klopstocks Oden finden möchten«.
alter Minnesinger sagt
Meister Stolle in dem in der Jenaer Liederhandschrift überlieferten Corpus von Sangsprüchen. Siehe dazu Zapf Stolle und die Alment 2010, S. 91.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann