Brief vom 4. Februar 1764, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 4. Februar 1764

Zürch den 4. febr. 1764.

Ich habe die Laune Ihnen das von unserm Geßner verurtheilte Drama durch die post zu schiken da ich aber nicht wollen kann, daß sie den briefport so übel anwenden, so ergreifen sie die erste gelegenheit den Ersaz desselben von mir zu nehmen. –

Das stük selbst hat seine Empfängniß einer läunischen stunde zu danken. Wenn es gelegentlich geschehen kann, so schicken sie es unserm Lavater und Heß nach Barth, daß sie damit nach gutdünken handeln. Wo nicht, so geben sie es unserm Füßli, doch daß er es nicht aus unserm Continent nach Engelland trage. Sie, mein theuerster, darf ich nicht damit beladen, ich habe Sie sonst mit meinen schreibübelthaten genug beladen.

Es ist mir bange bis ich vernehme, daß die Noachide durch meine Verbesserungen nicht elender geworden. Meine Calliope gewinnt durch die Verzögerungen in meinem pult. Die sündflut und Jacob haben ansehnliche veränderungen bekommen. nicht nur im Hexameter.

Homes Grundsäze der Critick mögen voll feiner und psychologischen Observationen seyn: Aber der Abschnitt vom Hexameter hat viel nichtiges, frivoles, er sagt von der pause Grillen. Und grillen sind schon, daß er Homer und der Pythia Vers verschönern will.

Wir haben von J. J. Rousseau eine brochure, traite de l’imitation theatrale, er nennt sie selbst Metaphysiquerie, es ist nichts anders als Platons Einwürfe gegen Homer und Euripides übersezt. Die philosophischen Citoyens des Plato hätten so wenig Geschmak an der athenischen lebensart, geschäfte und sitten gehabt, daß er nicht nöthig gehabt haben würde Homer und Euripides, die in seine stadt gekommen wären, wegzujagen; sie hätten da nichts zu sagen gehabt, und nichts erhalten als verachtung. Athen war für sie, wie Paris izt für die liebestragicos.

Ich glaube übrigens, daß philosophische leute die tragicos für eine Art Geschichtschreiber der sitten, p.

Der Catechisme d'un honete homme ist noch nicht bis zu uns gekommen, wir wollten ihn mit dem Christenthum eines ehrlichen Mannes vergüten. Wir verlangen das Christenthum in einem gesichtspunkt zu sehen, aus welchem selbst ein Rousseau die eigenthümlichsten lehren desselben mit der aufgeklärtesten vernunft übereinstimmend finden müste.

Wenn meine Calliope in meinem pult liegen bleibt, so sollen sie der Erbe davon seyn. Meine verwandten wissen auch ohne ein Testament, daß sie ein Recht auf alle meine Manuscripta haben, und dieses Rechte bestätige ich Ihnen durch diese handschrift. Ich will aber doch noch leben etwas von ihren Arbeiten für den Geschmak zu sehen, und noch mehr – sie selbst mit den augen des leibes zu sehen.

Sie haben izt meinen Brief vom 21sten Jenner, das eben der Tag ist, an welchem sie ihren lezten an mich geschrieben haben, der Inhalt unser beyden schreiben stimmt in dem wesentlichsten theil eben so wol zusammen, wie der Tag. Sie öffnen mir aussichten, die ich in meiner Fantasie nicht nur poetisch sondern auch politisch erweitere. Und unser schuldheiß der stadt W...r der mir ihren brief zugefertigt hat, phantasirt auf dieselbe angenehme Art. Wenn sie, mein Freund, die spartanische Sentimens behalten, daß sie ihre Einkünfte nicht vermehren wollen so sollen unsere phantasien keine phantasien bleiben.

Si pranderet olus patienter Regibus uti p.

Aber diese angenehmen gedanken verschlisse ich in mein Herz wie in einen Marmor.

Sie sagen mir nicht, ob Ott mehr Welt annimmt. Was er seinem Vater schreibt, erwekt gute hoffnungen.

Ich will unsern Füßli lieber bey einem Richardson, Doadsley oder so einem haben, als bey einem Mylord. Gott wolle nur daß er zu goodnatured people komme.

Findal ist hier; wir erwarten auch Temora. Der Füßli der izt in Rom ist, hat sentimens aus der griechischen Welt. In Rom ist izt auch Vogel, des Zunftschreibers sohn, der Winkelmanns Herz gewonnen hat. Unsere stadt kann und soll an ihm den ersten Architecte bekommen.

Escher und Heidegger sind izt in Solothurn die Capitulation zu negoziren. Eine Capitulation, nicht ein Bündniß. Die von Schwyz haben auf einer landsgemeinde geschlossen, daß sie der pensionen nichts mehr wollen. Das volk und die Magistratsfamilien arbeiten gegen einander und denken noch mehr gegen einander. Ury hat eine Conferenz nach Zug ausgeschrieben, und alle die Cantons dazu eingeladen, welche noch nicht capitulirt haben. Es sind Cantons, die keine, wie Schafhausen, die nur eine halbe Compagnie in französischen diensten haben, wie die stadt St. Gallen. Der schuldheß von Roll in Solothurn hat vor Rath und Bürger angebracht, man sollte die junge mannschaft in stadt und land aufzeichnen lassen, damit man die Verbindungen mit dem König erfüllen könnte; er that doch hinzu, daß die Werbung nichtsdestoweniger de bonne volonté seyn sollte. Der schuldheiß Buch sezte sich stark dagegen, es kam zum aufnehmen der stimmen. Buch ward überstimmt, und kam in einen solchen Enthusiasme, daß er drohete die sturmgloke durch stadt und land läuten zu lassen, wenn man auf dem schluß beharrete. Der mann ist über achtzig jahre und der patriotisme hat ihn in dises feuer gesezt. Er bracht es würklich dahin, daß der schluß zernichtet ward.

Unser alte Mann von Trogen hat eine Art politischen Testaments für die Eidsgenossen von Schinznach geschrieben, er verspricht sich aber darinnen so viel Großes von ihnen, daß ich fürchte es möchte ihnen davon schwindeln. Meine opinion von ihnen ist aus ursachen viel kleiner, und ich denke ihn zu bereden daß er sein Testament ändert. Ich habe zu meinem Vorschlag einer Helvetischen Tischgenossenschaft Erklärungen gemacht, welche die zu ihrer untersuchung verordnete Commission leicht hätte machen können und aus Kurzsichtigkeit oder politischer blödigkeit nicht gemacht hat. Izt laß ich dise Erklärungen unter den mitgliedern circuliren, und will erwarten, was sie auf dem landtag, künftigen frühling, dazu sagen werden. Ihre Antwort soll mein urtheil von ihnen lenken.

Den Zunftm. Brunner wollen unsere Hhn gerechter finden, als er sich selbst gefunden hat. Man ist sehr stark in Spaldings Kunst die menschen gut zu finden.

Am Zürichsee sind die angenehmsten lagen, wilde und zahme gegenden nur etliche füsse von einander, und nicht theuer. Man ist da neben der societät und bey der societät. Und die künftigen tage versprechen Zürich Gemüther und Genies, die meine Tage nicht gehabt haben und mich alt werden lassen, bis sie gekommen sind.

Ich danke für die bemühung wegen des jungen Giessers. Izt erwarte ich die Entschlissung seines papa.

Ich umarme sie und unseren Füßli.

Meine liebste umarmt ihre liebenswürdigen Töchter, und würde ein verjüngendes Vergnügen erhalten, wenn sie lebete, dieselben von Angesicht zu sehen und nach dem buchstaben zu umarmen.

Ihr Ergebenst.
B.

Zürch den 4ten. feb. 1764.

sehr eilfertig, und nicht überlesen.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Manusript von Bodmers Drama Der Tod des ersten Erschaffenen.

Eigenhändige Korrekturen

sie hätten
sie wären hätten
wenn man auf
wenn man man auf
und nach dem buchstaben zu umarmen
und mit nach dem buchstaben zu arm umarmen

Stellenkommentar

das von unserm Geßner verurtheilte Drama
Zu Bodmers Drama Der Tod des ersten Erschaffenen vgl. Brief letter-bs-1763-12-15.html.
Meine Calliope
Vgl. zu Bodmers Sammlung epischer Werke, der Calliope, Kommentar zu Brief letter-bs-1763-12-15.html.
Homes Grundsäze der Critick
H. Home, Lord Kames, Grundsätze der Critik, 1763–1766.
Abschnitt vom Hexameter
Siehe ebd. Bd. 2, S. 408–423. Home entwarf eine Theorie des griechischen und lateinischen Hexameters und bediente sich nur Beispiele antiker Autoren.
traite de l’imitation theatrale
J. J. Rousseau, De l'imitation théatrale; Essai tiré des Dialogues de Platon, 1764.
Metaphysiquerie
Die Schrift gelangte über Leonhard Usteri an Bodmer. Vgl. Rousseaus Brief an Usteri, Môtiers, 21. Januar 1764 (J. J. Rousseau, Correspondance générale, 1924–1934, Bd. 10, S. 300). Rousseau sandte dem Zürcher zwei Exemplare seiner Schrift, die er als »barbouillage« (»Schmiererei«) und »metaphysiquerie assés ennuyeuse« (»ziemlich langweiliges metaphysisches Gerede«) bezeichnete.
Platons Einwürfe gegen Homer und Euripides
Im Vorwort zu der kurzen Schrift erklärt Rousseau, ihm gebühre lediglich das Verdienst, dass er die zerstreuten Äußerungen Platons über die »theatralische Nachahmung« gesammelt und in einer zugänglicheren Form als in den Dialogen Platons bearbeitet habe.
Catechisme
Voltaire, Catéchisme de l'honnête-homme, 1763.
Christenthum eines ehrlichen Mannes
Der Titel einer geplanten, aber nicht realisierten Schrift Spaldings (Beutel Johann Joachim Spalding 2014, S. 84). Vgl. Lavaters undatierten Brief »An Bodmer auf seinen Brief vom 14 Xbr. [1763]« (ZB, FA Lav Ms 553.7c.). Bodmer übernimmt wörtlich die Nachricht Lavaters, der den Catéchisme de l'honnête-homme Friedrich II. zuschreibt: »Wollten Sie lieber von dem größten König einen Catechisme d'un honnete-homme, oder das Christenthum eines ehrlichen Mannes von unserm Spalding lesen. – Ich hoffe, daß Sie noch die Freude erleben werden das Christenthum in einem Gesichtspunkt gezeigt zu sehen, in welchem es selten weder von einem Vertheidiger noch von einem Bestreiter deßelben gezeigt worden. Und aus welchem die eigenth. Lehre deßelben ehrwürdig und m. d. aufgekl. Vernunft übereinstim. finden müßten«.
Si pranderet olus patienter Regibus uti p.
Hor. epist. I, 17, 13: »si pranderet holus patienter, regibus uti nollet Aristippus.« Übers.: »Wenn er geduldig Gemüse äße, würde Aristipp nicht mit Königen verkehren wollen.« (Horaz, Buch I der Briefe, 2018, S. 501).
seinem Vater schreibt
Briefe von Felix Ott an seinen Vater nicht ermittelt. Zu Felix Ott vgl. Brief letter-bs-1763-12-15.html.
einem Richardson, Doadsley
Gemeint sind die Londoner Verleger Jonathan Richardson d. J., der als Maler und Kunstsammler tätig war, und Robert Dodsley, der gemeinsam mit seinem Bruder James Dodsley eine der prominentesten Buchhandlungen Londons führte.
Findal
J. Macpherson, Fingal, an ancient Epic Poem, 1763.
Temora
J. Macpherson, Temora, an ancient epic poem, 1763.
sentimens aus der griechischen Welt
Vgl. Johann Heinrich Füssli vom Feuermörser an Johann Kaspar Escher, Rom, ohne Datum: »Izt bin ich in einem elenden Lande, hätte ich Winkelmann nicht (einen Mann der für den Geschmak eben das ist was Roußeau für Sittenlehre und Politik) ich könnte nicht in Rom leben. Mit ihm und mit den Büsten der alten muß ich mich besprechen; Sagen Sie Bodmern nur daß mich zum wenigsten die Schatten der alten Helden besuchen, und daß ich gerade neben meinem Hause täglich den Großmandatmacher des alten Roms den Cato vor Augen habe.« (ZB, FA Escher vom Glas, 152.155).
Vogel, des Zunftschreibers sohn
David Vogel (1744–1808), Sohn des Zürcher Maurers Heinrich Vogel, lebte zwischen 1763 und 1765 in Rom, wo er zum Kreis Winckelmanns gehörte. Vgl. auch Johann Heinrich Füssli vom Feuermörser an seinen Vater Johann Rudolf, Rom, 4. Januar 1764: »Ich höre mit Verdruß, daß man in Zürich im Begriff steht schlechte Brunnen zu bauen mit noch schlechtern Statuen darauf. Man hat mir darum aufgetragen durch Herrn Vogel in Rom einige Brunnen zeichnen zu laßen, besonders da ich höre daß man nicht wie ehemahls schweizerische Helden, sondern Gottheiten darauf stellen will.« (ZB, Ms M 1.426, Nr. 17). Zurück in Zürich, legte Vogel 1766 die Meisterprüfung ab und betätigte sich dann im eigenen Unternehmen erfolgreich als Architekt. Seine umfangreiche Korrespondenz mit Johann Heinrich Füssli vom Feuermörser setzte nach dessen Abreise aus Rom am 24. Februar 1764 ein und ist überliefert (ZB, Ms M 1.370).
Der schuldheß von Roll
Franz Viktor Augustin von Roll von Emmenholz.
de bonne volonté
Übers.: »guten Willens«.
eine Art politischen Testaments
Zellweger kündigte eine politische Abschiedsrede in Form eines Aufsatzes im Brief an Bodmer an, Trogen, 6. Januar 1764 (ZB, Ms Bodmer 6a, Nr. 528) und legte das Manuskript seinem nächsten Brief bei: »Voicy, mon cher Amy, la brochure en question [...]« (Zellweger an Bodmer, Trogen, 27. Januar 1764 (ZB, Ms Bodmer 6a, Nr. 529). Die Rede erschien unter dem Titel Patriotischer Abschied von der Helvetischen Gesellschaft (Verhandlungen der Helvetischen Gesellschaft, 1764, S. 45–80).
Vorschlag einer Helvetischen Tischgenossenschaft
Vgl. Brief letter-bs-1763-06-03.html. Zum Druck des Aufsatzes siehe Brief letter-bs-1765-05-14.html.
Den Zunftm. Brunner
Vgl. Brief letter-bs-1764-01-21.html.
Spaldings Kunst die menschen gut zu finden
Siehe den anonym erschienenen Aufsatz Spaldings Die Kunst, die Menschen gut zu finden in den Beyträgen zum Nutzen und Vergnügen der Intelligenzen von täglichen Vorkommenheiten in Pommern und Rügen im Jahr 1755.
wegen des jungen Giessers
Zu Bernhard Füssli siehe Kommentar zu Brief letter-bs-1763-12-15.html.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann