Brief vom 2. September 1763, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 2. September 1763

Vierzehn tage im Antliz der Freunde von Winterthur gelebt, waren so heiter als es die Erinnerung zuließ, daß Sulzer nicht mehr da war. Wir waren in unserm freundschaftlichen schwindel muthwillig genug ihnen Arbeiten de commande, dAlembert zum præsidenten, abtrünnige freunde, zu wünschen, damit W.r die Reize gewönne, welche B.n darüber verlöhre. Wir erwähleten Sie zum zweiten schuldheiß der stadt, in der wir so viel süße stunden zugebracht haben. Wir sahen unter ihrer Regierung eine pflanzstatt der Mäßigkeit und Arbeitsamkeit entstehen. Aber alles war poesie, von dem ganzen Sulzer nicht ein redendes Blättgen! Jeder Posttag betrog uns. [→]Von Bart, dem size der unschuld, kommen die briefe häufig und von hier gehn sie eben so häufig dahin. Noch beruhiget uns die Zufriedenheit dieser jüngern Freunde nicht völlig bis wir vernehmen, daß Füßlis schiksal entschieden ist, und Sulzer vergnügt ist, wo er ist. Uns hier hat weder der abgebrandte helm des münsterthurmes, noch die hauteurs des marquis d’Entraigue in unserer gleichmüthigkeit gestört. Wir haben uns mit dem Homeristen getröstet, der den helm beweint hat; und sind zufrieden daß man dem thurm für den helm eine haube aufseze, die einer so zarten stadt beßer ansteht. Dentraigue schrieb uns [→]que le Roi retire la nouvelle constitution et qu’il va la donner aux cantons qui la meritent. Den kleinen Cantons warf er Ingratitude vor. Unser Verbrechen war, daß man zu Frauenfeld einen brief an den könig abgefaßet, mit vorstellungen daß die neue Constitution den Cantons beschwerlich falle. Dentraigue war auf dem tag aber proponirte nichts und that keine bewegung. Eh der brief noch abgegangen war, kamen von ihm obige hauteurs. Friburg, Solothurn, Basel, Luzern hatten sich vor dem tag voreilig erklärt, daß sie den neuen plan annehmen wollten, und ihnen will der könig die bienfaisance beweisen, die er den andren entzieht.

Man bemerkt an schwiz und einigen andern Cantonen eine standhaftigkeit, die man patriotisme nennen würde, wenn patriotisme bey leuten seyn könnte, die pensionen für den stand und für die particularen nehmen. Wir kennen die Regenten die von da geschikt werden das Thurgau und ihr eigenes Gastel zu regieren und nemo repente fit optimus. Wir sind nicht mehr die alten hartköpfigten, einhauenden Fierabras, und wenn wir sie wären so ist Louis XV nicht ein König über souveraine Vassaux wie Louis XI. Es ist uns nicht gleichgültig ob er uns haße, wiewol wir nicht verlangen daß er uns liebe. Wir haben ihm provinzen zugewandt und nicht eine Grafschaft wie Kyburg genommen. Dann mag man von uns fodern, daß wir uns von fremden herren unabhänglich machen, wenn wir uns zuerst von luxe, von schimmernden babioles unabhänglich gemacht haben. Die neue Formation mag den Hauptleuten nachtheilig seyn, weil so achtzehne theilen müßen, was zuvor zwölf gehabt haben, aber sie hat dagegen offenbare Vortheile für die subalternes und die gemeinen. Für den stand hat sie die große unbequemlichkeit daß uns verboten wird im Elsaß und in lothringen zu recroutiren. Denn wir haben bisher schweizer regimente in frankreich geworben. Die kleinen Cantonen müßen alle ihre Einwohner aufbieten wenn sie die Regimente alle, so sie haben, von den ihrigen stellen sollten.

Ein Enthusiasmus von patriotisme siedet und kochet, der besorglich nur ein strohfeuer ist. Man wollte gern Patriot und ohne sitten seyn, Republik mit der äußersten ungleichheit der fortunen.

Den luxurianten festin, das Hans Escher gegeben, hat ein jüngling hohngesprochen, die reformekammer hat es für gut genommen.

In Chur hat ein Eléve von Willi einen graubündnerischen patrioten geschrieben, den der hohe stand beym ersten stück unterdrükt hat. Der magnifique Conseil de Geneve hat auf die zweite representation der Citoyens kurz geantwortet [→]qu’il demeuroit á la reponse precedente. Darauf haben 900 von den bürgern protestirt [→]que les representations subsisteroient dans toutes leurs forces et qu'ils y persisteroient invariablement jusqu'á ce que le Conseil general ait determiné le sens des loix. Noch sind leute, die Rousseau ein Verbrechen daraus machen daß er die Citoyens nicht für die troubles bestraft, womit sie sich seiner und ihrer Rechte annehmen.

Seitdem die schinznacher gesellschaft das Contubernium helveticum nicht in seiner Tiefe erkannt hat, kann ich von ihren Einsichten nicht groß denken. Die unmöglichkeit möglich zu machen war in dem Entwurfe gesorget. Ich fürchte sie wolle sich in die publiken Geschäfte mischen, wenn sie die mit einem Finger anrührt, so mag es ihr Untergang seyn.

[→]Werdmüller hat uns sachen erzählt, die beyde doctore, der schuldheiß Sulzer, ich und andere guten leute ungern daran gehn zu glauben. Wir hoffen die Widerlegung von Ihnen od. anstatt der Widerlegung Sie selbst. Ihr schiksal soll uns Widerlegung oder bekenntniß seyn.

Die Noachide ist noch kaum zur helfte abgeschrieben. Sobald ich weiß daß sie da bleiben wo sie sind, so schike ich ihnen 6. oder 8. Gesänge. Zeigen sie die drukfehler im Cäsar Herrn Reich. Einige Nachricht von Marcus Brutus würde ihren Verfasser freuen. Der Cicero steht unter derselben Constellation; Phocion-Voegeli und Agathon-Wieland sind ihm zuvorgekommen.

Die Geschichte des Goldenen Kelches werden sie vermuthlich Hn. sekelmeister in der Zeit melden da diese Zeilen auf dem Wege zu ihnen seyn werden.

Unser Breitinger ist izt stiftsbauher und der Münsterthurm ist großentheils auf ihn gefallen. Arbeiten, die andere auch thun könnten, thut er vortrefflich; aber er könnte arbeiten, was kaum ein anderer kann, und thut es nicht.

Wenn Füßli nicht mehr bey ihnen ist, so eröffnen sie den brief an ihn, und behalten ihn.

Eine gedrukte vertheidigung des Escherischen Balls geht herum welche die Mine hat, daß sie von einem alten debauché geschrieben sey; vermuthlich von Hanß Heidegger, es sind sporcherie, doch hat sie plausores.

Ich umarme sie,
Br.

den 2ten Sept. 1763.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite: »2 Sept. 63.«

Stellenkommentar

Arbeiten de commande
Übers.: »Aufträge, Bestellungen«.
dAlembert zum præsidenten
Friedrichs II. Angebot an Jean Le Rond d'Alembert, als Präsident der Königlichen Akademie der Wissenschaften nach Berlin überzusiedeln und dort die Publikation der Encyclopédie fortzuführen, stand seit 1752 im Raum. D'Alembert hatte sich im Sommer 1763 zwei Monate in Sanssouci aufgehalten. Vgl. Harnack Geschichte der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1900, Bd. 1, S. 355–363. – D'Aprile Friedrich und die Netzwerke der Wissenschaften 2010, S. 14 f.
Von Bart [...] kommen die briefe
Vgl. Bodmers Korrespondenzen mit J. C. Lavater, F. Hess und J. H. Füssli, die sich in der Kleinstadt Barth bei J. J. Spalding aufhielten (ZB, Ms Bodmer 4.3, Ms Bodmer 2b.6, FA Lav Ms 553.7a-11 und FA Lav Ms 502.251–295), zum Teil ediert in: Albrecht und Vogel (Hrsg.) Aufklärung in Barth 2014, S. 126–141.
der abgebrandte helm des münsterthurmes
Am Abend des 21. August 1763 wurde der Glockenturm des Zürcher Grossmünsters durch einen Blitzeinschlag beschädigt, woraufhin der Helm abbrannte. (Gutscher Großmünster in Zürich 1983, S. 165).
hauteurs
Übers.: »Überheblichkeit«.
den helm beweint hat
Das in Hexametern verfasste Gedicht Klagen um den abgebrandten Helm des Stiftmünsters in Zürich ließ Bodmer in den Freymüthigen Nachrichten, 21. September 1763, St. 38, S. 300 f. drucken.
Dentraigue schrieb uns
Zum französischen Botschafter, dem Marquis d'Entraigues, siehe Kommentar zu Brief letter-bs-1762-11-11.html. Das offizielle Schreiben an die Regierung des Kantons Zürich wurde nicht ermittelt. Überliefert ist ein dem Inhalt nach ähnliches Schreiben an den Kanton Glarus, datiert auf den 27. Juli 1763 (ZB, Ms P 6340.49).
que le Roi retire la nouvelle
Übers.: »dass der König die neue Verfassung zurücknehme, und dass er diese nur den Kantonen geben werde, die diese verdienen«. Als Botschafter handelte d'Entraigues im Namen des Königs Ludwig XV.
einen brief an den könig
Die Tagsatzung fand vom 4. bis zum 26. Juli 1763 statt. Ein Brief an Ludwig XV. ist nicht ermittelt.
bienfaisance
Übers.: »Wohltätigkeit, Großmut«.
das Thurgau und ihr eigenes Gastel
Nicht ermittelt.
nemo repente fit optimus
Lat. Sprichwort. Übers.: »Niemand wird auf einmal ein sehr guter Mensch.«
die alten hartköpfigten, einhauenden Fierabras
Der Held eines französischen Chanson de geste aus dem 12. Jahrhundert. Siehe dazu Ohne Autor (Hrsg.) Fierabras 2012.
babioles
Übers.: »Kleinigkeiten, unbedeutende Sachen«.
Die neue Formation
Zur Militärreform der Schweizer Regimenter im Dienst Frankreichs im Jahre 1763 vgl. Höchner Selbstzeugnisse von Schweizer Söldneroffizieren 2015, S. 198–201.
ein jüngling hohngesprochen
Das Flugblatt An mein Vatterland. Bey anlass gewisser Festine wurde vom jungen Johann Heinrich Füssli, gen. vom Feuermörser, anlässlich eines aufwendig gestalteten Balls der Familie Escher verfasst. Ein Exemplar, das als Beilage in einem Brief an Bodmer übersandt worden war, ist in der ZB (Ms Bodmer, 1.32) erhalten geblieben. Zu Füssli vom Feuermörser siehe Kommentar zu Brief letter-bs-1763-09-30.html und zu seinem republikanischen Engagement schon vor 1764 in Zürich siehe Tröhler Republikanismus und Pädagogik 2006, S. 75–84.
ein Eléve von Willi
Der Bündner Politiker Baptista von Salis, dessen Jugendjahre in die Wirkungszeit des Pfarrers (ab 1752 Antistes) in Chur, Daniel Willi fallen. Letzterer ist als zentrale Persönlichkeit der bündnerischen Frömmigkeitsbewegung bekannt.
einen graubündnerischen patrioten
Die zunächst anonym zwischen 1763 und 1764 in fünf Stücken erschienene Zeitschrift Der bündnerische Patriot. 1766 wurden die Stücke in den Kleinen Schriften von Baptista von Salis nachgedruckt (Salis Kleine Schriften 1766, S. 1–54).
qu’il demeuroit
Übers.: »dass er bei der vorherigen Antwort bleibe«.
que les representations
Übers.: »dass die Repräsentationen in voller Kraft blieben und dass sie darauf unveränderlich beharren würden, bis der Conseil General die Bedeutung der Gesetze festgelegt habe«.
das Contubernium helveticum
Vgl. Brief letter-bs-1763-06-03.html.
Werdmüller hat uns sachen
Nicht ermittelt.
die drukfehler im Cäsar
Vermutlich ein nicht überliefertes, dem Brief beigelegtes Blatt.
Phocion-Voegeli
Vgl. H. K. Vögelin, Gespräche des Phocion über die Beziehung der Morale mit der Politik, 1764. Es handelt sich um die Übersetzung von Mablys Entretiens de Phocion, sur le rapport de la morale avec la politique, 1763.
Agathon-Wieland
Zur Entstehungsgeschichte von Wielands Agathon, dessen erster Teil 1763 bereits bei Gessner im Verlag war, vgl. Heinz Wieland-Handbuch 2008, S. 259 f.
Goldenen Kelches
Zu dem Friedrich Eugen von Württemberg gestifteten Pokal siehe Kommentar zu Brief letter-bs-1763-02-25.html.
großentheils auf ihn gefallen
Zu Breitingers Rolle beim Wiederaufbau des Münsterturmes vgl. Gutscher Großmünster in Zürich 1983, S. 165 f. sowie den Kommentar zu Brief letter-bs-1765-09-04.html.
den brief an ihn
Bodmer an Füssli, Zürich, am oder vor dem 2. September 1763. Der Brief ist offenbar nicht erhalten, allerdings gibt Füssli in einem Brief an Lavater, Berlin, 26. Oktober 1763 (ZB, FA Lav Ms 508.292), dessen Inhalt so wieder: »Ich habe hier einen Brief von Bodmer gefunden. Er wollte mir noch schreiben eh ich nach England gienge! Mein Gott! er möchte gern daß ich noch vorher für ihn Klopstok umarmete, der die Schikungen lenkt. Sonst erinnert er mich noch zum letzten male an mein Vaterland um mein armes Herz noch mehr zu verwunden. Er schreibt ferner: Das Festin das Hans Escher dem ⟨Corus⟩ gegeben, hat den zornigen Himmel nicht vermocht, daß er uns Jenes Gothische Werkzeug die Seele zu erhöhen, (den Münsterhelm) länger schenkete. Der Schwanengesang welcher die Ehre unsrer Töchter zur Kammer begleitete hat daßelbe zugleich auf den Kirchhof geleget, wo sein Staub izt mit den Gebeinen der Heil. Märtyrer und der Gesezgeber unsrer Stadt vermischt liegt. Unsre Tiberier u Tarquinier haben sich an ihrem ungebärteten Censor mächtig gerächet, sie sind in Gala nach Baden geritten, und haben da die schöne Thorheit wiederholet. Die Reformationskammer hat es mit tiefer Politik gelitten. Car faux il tant se recrier sur un divertissement de cette nature? La Danse est une des plus nobles parties de la gymnastiq. fort prisée par les grecs et souvent recommandée par les medecins. Ces mouvemens font evaporer les parties les plus petillantes aux gens qui ont trop de vivacité, et avancent la circulation de sang aux Phlegmatiques. Sie erkennen die ernsthaffte Ironie unsers Doktors. Er hat mir zugleich ein gedruktes Gedicht über den Sturz des Münsters, welches mir von ihm scheinet, zugeschiket.«
vertheidigung des Escherischen Balls
Vgl. die auf das oben erwähnte Flugblatt J. H. Füsslis (vom Feuermörser) reagierende kurze Schrift: Qui voit tout mauvais, est rempli de malice, L'oeil qui voit tout jaune, est atteint de jaunisse (An mein liebes Vatterland), [1763]. Der Titel ist einer Epistel Friedrichs II. entnommen. Übers.: »Wer alles für schlecht ansieht, ist voller Boshaftigkeit,/ Das Auge, das alles gelb sieht, leidet an Gelbsucht.« Verfasser der Schrift nicht ermittelt.
debauché
Übers.: »Wüstling«.
sporcherie
Übers.: »Dreckiges, Schmutziges, Unflat«.
plausores
Übers.: »Beifallspender«.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann