Datum: nach dem 12. September 1763
Seitdem, mein wehrtester, ihr unstätes leben ein Ufer gefunden hat, so ist es mir, daß ich selbst wieder unter mein dach gekommen sey. Sie lebten gewiß bey dem General und seiner Gemahlinn wol und vergnügt: Aber das land am Belt, oder der Oder, hat doch keine schönere seite als die gegenden an der Eulach, wo Sulzer und Künzli athmen. Aussichten auf die Nachkommen möchten jenem einen Werth geben, wenn Sie söhne hätten. Ihre Töchtern dahin zu verweisen dünkt mich verkehrt. Und wollen sie ihr vaterland depopuliren um Brandenburg zu bevölkern? Vielleicht ist W. ihnen zuwider, seitdem sie da nicht als schuldheiß stehen können! Hegner ist schuldheiß, die bürger haben gefunden es wären verschwendete Kräfte wenn sie noch einen Mann wie unser Sulzer ist an die Regierung eines so kleinen staates stelleten, sie haben ihm einen piloten zugegeben, der selbst noch einen steuermann bedarf. Wir erwarten ihn einen dieser tage auf einen freundschaftlichen besuch bey uns. Wir erwarten auch unsern Wegeli der durch unsere Stadt zu rousseau en visite gehet. Er hat einen dialogue entre Jean Jaques et Vernés gemacht, den Breitinger und ich an dem gestade der Limmat unter lauten acclamationen gelesen haben. Er hat noch einen solchen geschrieben Entre St. Jaques et Marc Antonin sur la force des preuves morales en fait de religion.
Der patriot in Graubünden ist nicht unterdrücket. Er ist ein junger Herr von Salis. Wir sollen bald von da Lambert wieder in unsere stadt bekommen. Wir haben von Schinz, nicht dem Assessor, eine geschichte der handelschaft von Zürich, die viel seltenes hat. Er sieht die Handlung als die Quelle der Glückseligkeit im Staat an. Er ist einer der patrioten von Schinznach; hos habet respublica defensores. Die starken Falliten geben uns einen schlimmen begriff von dem kaufmännischen System auf welches Europa seine Wolfahrt bauet. Das Wolseyn hängt von einer zufälligen balance eigennüziger Harpax. Und die gewaltthätigen Abwechselungen der fortunen dienen nur den despotisme zu befestigen.
Der junge Füßli beym feuermörser ist auf dem Wege nach Rom, er ist es wehrt den nahmen deßen zu tragen, der izt bey Ihnen ist.
Die Noachide ist nahe zum Ende abgeschrieben, wenn ich weis daß Sie ihre wandernde lebensart verlaßen haben, so kann ich sie ihnen zufertigen. Sie mögen aus meinem vorigen entdekt haben, daß meine Entrailles de pere sich gegen den Marcus Brutus bewegt haben. Und ihr dictionaire wo bleibt es? Will es das schiksal der Messiade bekommen und muß man Matusalems Alter leben, sie zu erleben?
Unser Philocles ist der alte Eidgenoß und er kann die königlichen pensionen verdauen. [→]Quand on accorde un regiment, sagt er, est-on blamable si outre le payement des troupes on stipule une pension où subside annuel pour l'état pendant le tems du service, principalement pour les Etats pauvres? Er vergißt daß die armuth und strenge lebensart frey machet. Er entschuldiget die paläste von Trogen: [→]Il est indifferent que l'on habite un amas de bois où de pierres, de grandes où des petites maisons, on profite de l'abondance de l'argent en bourse. Cela n'avance ni recule le luxe; nos tables sont frugales, et le patriciat ne saurait trouver place chez un peuple qui est si jaloux de sa liberté qu'il changeroit volontiers aussi souvent de magistrats que de chemises.
Ein vornehmer Friburger ist wegen franche maçonnerie verjagt worden, und weil er dem österreichischen Agenten Marchal einen brief aus der Kanzley, der den dienst betrifft, mitgetheilt.
Die Citoiens de Geneve wollen immer mit dem magnifique conseil raisoniren, aber dieser ist dazu zu groß.
In Baden sind comitia panhelvetica gewesen. Wallis war auch da. Die Orte, so die neue Einrichtung angenommen wurden scheel angesehen; doch tönete die stimme der Eintracht hoch. Ich fürchte es könnte Schwyz in den sinn kommen, Luzern, welches die neue Capitulation für convenient gefunden hat, mit den Waffen zu strafen. Wallis hat dem marquis d’Entraigue vertement geantwortet; Zug, Zugerisch. Die Regimenter erwarten, daß bey der Revüe die Fremden, die nicht schwyzer sind, und deren sie mehr als 1⁄3 haben, ausgestellt werden; vor allen andern die Elsaßer und die Lotringer; und dieses könnte Frankreich capitulationsmäßig thun.
Hr. Sekelm. Orell wird ihnen nächstens durch ein eigenes schreiben ausdrüken, wie hoch er die Bemühung hält, die Sie mit Übergebung des pocals gehabt haben.
Sie sollen von Caspar Füßlin einen barometrischen brief empfangen haben.
Sie umarmet ihr
Bo.
Überlieferung
H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.
Datierung
Von Sulzer fälschlicherweise auf Dezember 1763 datiert.
Anschrift
A Monsieur Soulzer, membre de l'academie etc. Berlin.
Vermerke und Zusätze
Vermerk Sulzers am oberen Rand der ersten Seite: » Dec. 63«.
Stellenkommentar
- W.
- Winterthur.
- Hegner ist schuldheiß
- Johann Ulrich Hegner (gest. 1786) wurde 1763 nach dem Tod von Altschultheiss Salomon Hegner zum zweiten Schultheiß von Winterthur neben Johannes Sulzer gewählt.
- zu rousseau en visite gehet
- Vgl. Leigh Wegelins's visit to Rousseau in 1763 1987.
- einen dialogue entre Jean Jaques et Vernés
- J. Wegelin, Dialogues par un ministre suisse, 1763. Der seltene Druck besteht aus zwei Dialogen: »Jean Jacques Rousseau et Jacob Vernes« (S. 3–23) und »L'apôtre st. Jacques et l'empereur Marc Antonin« (S. 24–48).
- an dem gestade der Limmat
- In Zürich.
- Der patriot in Graubünden
- B. v. Salis (Hg.), Der bündnerische Patriot, 1763–1764.
- nicht dem Assessor
- Beide Kaufmänner und Großräte trugen den Namen Johann Heinrich Schinz. Während der ältere Schinz (1725–1800) zum Direktorium der Kaufmannschaft gehörte, wurde der jüngere (1727–1792) 1762 Assessor der Synode.
- eine geschichte der handelschaft von Zürich
- J. H. Schinz d. Ä., Versuch einer Geschichte der Handelschaft der Stadt und Landschaft Zürich, 1763.
- hos habet respublica defensores
- Übers.: »Diese Verteidiger hat der Staat.«
- Die starken Falliten
- Finanzielle Pleiten, Zahlungsunfähigkeit.
- Harpax
- Aus dem Griechischen entlehnte Bezeichnung für »Räuber« oder Person, die aus Habgier handelt.
- auf dem Wege nach Rom
- Johann Heinrich Füssli, gen. vom Feuermörser (1745–1832). Der Sohn des Malers und Kunstschriftstellers Rudolf Füssli war Schüler Bodmers und Breitingers gewesen. Während seiner ab Ende 1762 absolvierten Reise nach Genf und Rom stand er mit Bodmer in regelmäßigem Briefwechsel. Das erste Schreiben aus Genf ist datiert auf den 24. Dezember 1762. Am 12. November 1763 schrieb er aus Venedig: »Theürer Bodmer. Trauren sie nicht dass sie dem Staat keine Kinder gegeben. – Sie gaben ihm in Schultheß einen Mann. – Sie haben ihn bewafnet daß er kühn allen Vorurtheilen wiederstand, sie besiegte und iz in meinen Augen wahrhaft Edel ist. – Vollenden Sie ihr Werk ü: sehen sie zu daß er niemahl wanke. Leben Sie wohl mein edelster Lehrer! Ich gehe auf Rom mit gesundem Leib aber mit etwas finsterer Seele«. (ZB, Ms Bodmer 1a.32) In Rom traf Füßli, der später Bodmers Nachfolger wurde, auch auf Johann Joachim Winckelmann und freundete sich mit ihm an. Vgl. dazu Füsslis rückblickende Beschreibung seines Aufenthaltes in Rom in einem Brief an Vögelin (Winckelmann Briefe , Bd. 4, S. 234–243) und seine Briefe an Bodmer vom 24. Dezember 1762 aus Genf.
- Entrailles de pere
- Wörtl. Übers.: »väterliche Eingeweide«. Im übertragenen Sinne: »väterliche Zuneigung, Vaterliebe«.
- ihr dictionaire
- Sulzers Allgemeine Theorie.
- das schiksal der Messiade
- Die Anfänge von Klopstocks Heldengedicht Der Messias lagen zu diesem Zeitpunkt bereits 15 Jahre zurück und erst die Hälfte der angekündigten 20 Gesänge waren veröffentlicht.
- Quand on accorde un regiment
- Auszug aus einem Brief Zellwegers an Bodmer, Trogen, 12. September 1763 (ZB Ms Bodmer 6a, Nr. 522). Übers.: »Wenn man ein Regiment bewilligt, ist man zu tadeln, wenn man außer der Bezahlung der Truppen eine Pension oder einen jährlichen Zuschuss für den Staat während des Dienstes, vor allem bei armen Staaten, vereinbart?« Zur Beteiligung Zellwegers an den politischen Ereignissen der Jahreswende 1763/1764 vgl. Zellweger an Bodmer (ZB, Ms Bodmer 6a, Nr. 524).
- Il est indifferent que l'on habite
- Übers.: »Es ist gleichgültig, ob man eine Anhäufung aus Holz oder aus Stein, große oder kleine Häuser bewohnt, seinen Nutzen zieht man vom Überfluss an Geld in der Börse. Der Luxus kommt dadurch weder voran noch zurück; unsere Tische sind frugal, und der Patriziat könnte keinen Raum finden bei einem Volk, das über seine Freiheit so eifersüchtig ist, dass es gern so oft seine Beamten wie seine Hemden wechselte.«
- Ein vornehmer Friburger
- Jean-Pierre Gottrau de Treyfayes, Offizier der Schweizergarden aus Freiburg im Üchtland und Ratsherr. Am 29. Juli 1763 wurde er wegen politischer Intrigen gegen die Regierung und seiner Nähe zu Schumacher in Luzern verhaftet. Nach Aufdeckung und Auflösung der von ihm gegründeten Freimaurerloge »Ordre du Latium« wurde er schließlich des Landes verwiesen.
- comitia panhelvetica
- Übers.: »gesamthelvetische Versammlungen«. Damit wurde eine außerordentliche Tagsatzung in Baden bezeichnet. Zur Kritik am Entwurf einer neuen Militärkapitulation für die Schweizer Kantone vgl. Brief letter-bs-1763-09-02.html.
- Übergebung des pocals
- Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1763-02-25.html.
- einen barometrischen brief
- Johann Caspar Füssli an Sulzer, Sommer 1763. Nicht überliefert. Der Brief, der nach der »Graduation« eines von Sulzers entwickelten »Thermometers« fragte, ging schon im Sommer 1763 verloren, wie Sulzers Antwort vom 17. November 1763 zeigt: »Das Schreiben, womit Sie mich verwiechenen Sommer beehrt haben, ist mir in dem Augenblik eingehändiget worden, als ich eben in den Wagen stieg, um eine Reise nach Pommern anzutreten, wo ich bis diesen Herbst mich aufgehalten habe. Dieser Umstand hat den Verlust ihres Briefes veranlaßet, den ich nach meiner Wiederkunft unter meinen Papieren nicht wieder finden konnte.« (ZB, Ms M 1.424i).
Bearbeitung
Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann