Brief vom 2. November 1762, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 2. November 1762

Mein Wehrtester.

Ich will lieber ihren hoffnungen als den kleinen besorgnissen unsers alten Weisen von Trogen entsprechen: dieser fürchtet der kopf möchte mir in diesem Winter meiner jahre in die runde gehn, wenn ich die fiebern des gehirnes so heftig und so vilfältig zu meinen arbeiten des geistes anstrenge.

Er hat hundert gelegenheiten gehabt zu bemerken, wie sehr der geist von der Materie mitgenommen wird. Und ich kann nicht leugnen, daß dünste in meinem kopf sind, die bisweilen stark auf den hintern theil desselben drücken, wenn es in dem födern ganz hell und leicht ist. Also fahre ich in meinen Ausbildungen freudig und unerschroken fort, und es erhöhet mir den muth, daß ich an Ihnen einen gefährten habe, der mich, [→]wie Raphael den Mathan und den Amraphel auf seine flügel nimmt, wenn er siehet daß ich erliegen will. Das feuer der jugend hat seine unbequemlichkeiten wie der frost des Alters. Jenem ist der Zügel so nöthig als diesem die spornen.

Ich gebe meinem Werke täglich neue züge, kleinere oder größere, mit welchen ich so ziemlich zufrieden bin, doch es erst völlig seyn werde, wenn sie Ihre Beystimmung erhalten werden. Ich verschiebe noch Ihnen proben davon zu zeigen, bis daß sie mir ihrem gütigen Versprechen gemäß mehr von ihren erinnernden Winken schicken. Es scheint daß sie von der Würdigkeit des sujet sehr vortheilhaft denken, und doch hat man mir genug gesagt, daß die Ertränkung einer Welt kein Thema ist, das die leute von unsern Zeiten und sitten durch sich selbst einnehmen könne. Man liest nicht gern sein eigen Urtheil in der Bestrafung anderer. Aber bin ich nicht ungestüm daß ich von ihnen fodern darf sie sollen die stunden der Noachide geben, die sie so nüzlich und mit solcher geschiklichkeit, auf ein Werk wenden, welches die deutschen Genies aus ihrem schlaf aufweken wird, daß sie mehr als Noachiden schreiben? Ich will Ihnen die Werke, die sie aus dem Catalogo der stadtbibliothek ausgezeichnet haben auf den ersten Wink schiken. Eines florilegii aus den Alten, dessen sie gedenken, kann weder Hr. Chorherr noch ich uns erinnern. Ich erinnere mich doch eines Gnomologi, den Stephanus aus den griechischen poeten gesammelt hat, aber das ist es nicht was sie suchen.

Unser Chorherr hat jüngst Hr. Hirzels Junius Brutus mit nachsinnen gelesen, und ist recht böse drauf, daß er so übel mißhandelt worden, und diese Mißhandlung von unsern republicanern selbst, und von unsern hiesigen Critici durch ihr kaltsinniges stillschweigen approbirt, und als verdient angesehn wird. In der that hat man den innerlichen Werth dieses Dramas nicht erkannt. Das declamatorische, das darinnen liegen mag, ist himmlisch gegen das romantische, das in Voltairens Brutus herschet. Der Batteux hat unsere leute, zuerst die deutschen, verderbt, sie haben den Jargon der Regeln daraus auswendig gelernt, und sie reden ihn à tort et à travers; denn sie können nicht appliciren.

Ist der brief von der Karschin ihnen nicht wieder in die hände gefallen, den sie an mich geschrieben hat?

Geben sie acht ob das folgende stück des Journal de Neufchatel nicht einen Artikel habe, in welchem ich interessirt bin. Man sagt es ziehe sich in Paris ein Wetter wider mich auf, das donner und blize schießt; ich sehe ihm doch ganz ruhig entgegen und meine es werde fulmina ex nebri seyn. Meine hiesigen freunde sind deßwegen um mich bekümmert, wie wenn ich der schuldige wäre, wenn andere unsinnig sind.

Huber, der Übersezer Abels, hat jemand von den unsern beschuldigungen gegen mich geschrieben, welche dieser gleich für bekannt und richtig angenommen hat. Das ist die gute opinion, die man von mir hat.

Man hat eine Edition von Rousseau Contract, bey welcher ein brief von ihm ist, er nimmt Abschied von dem menschlichen geschlechte, und freut sich daß er von seinen Mitbürgern aus den banden der societät loosgelaßen worden, u. sey iezt wider in den stand der Natur gesezt und wolle sich in die Wildniß zu den wilden thieren begeben, und sich da mit seinen neuen Compatrioten durch Zeichen, die wahre sprache der Natur, unterhalten. – Aber sie merken leicht, daß dieser brief dem guten mann von einem leichten Franzosen aufgeheftet worden.

Wiewol ich ganz begierde bin ihr Closet zu sehn, das durch ihre Arbeiten darinnen so wichtig werden soll, so muß ich doch für meine Constitution so viel sorgen, daß ich daheim bleiben muß. Da die Noachide noch so weit zurük ist, muß ich mich sparen, daß sie nicht ein halbiges werk werde.

Indeßen unterrede ich mich mit ihnen durch diese Zeichen mit welchen ich doch Ihnen nichts wichtigers zu sagen mir vorgenommen habe, als was ich Ihnen in den ersten Augenbliken von Mund gesagt haben würde. Ich umarme sie.

Ihr Ergebenst. Dr.
Bo.

den 2ten 9br. 1762

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite: »2 Nov. 62.«

Eigenhändige Korrekturen

einen gefährten
einen piloten |gefährten|
Beystimmung
Zufrieden- Beystimmung
so nüzlich und mit solcher
so nüzlich ⌈und⌉ mit solcher

Stellenkommentar

besorgnissen unsers alten Weisen
Vgl. Zellweger an Bodmer, Trogen, [Ende Oktober 1762] (ZB, Ms Bodmer 6a, Nr. 390).
wie Raphael den Mathan
J. J. Bodmer, Die Noachide, 1765, S. 272.
Gnomologi
H. Estienne, Anthologia gnomica, 1579. Henri Estienne d. J. (lat. »Henricus Stephanus«) (um 1528–1598), Sohn des Pariser Druckers und Verlegers Robert Estienne, war nach dem Übertritt seines Vaters zum Protestantismus ab 1551 in Genf als Buchdrucker, Autor und Herausgeber philologischer Werke tätig. Unter seinen vielen Kompendien gilt als Hauptwerk der vierbändige Thesaurus græcæ linguæ (1572). Zum Leben Estiennes vgl. Boudou (Hrsg.) Estienne: L'introduction au traité 2007, S. 9–17.
Hirzels Junius Brutus
S. Hirzel, Junius Brutus, 1761.
Voltairens Brutus
Voltaire, Brutus, 1731. Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1760-08-09.html.
Der Batteux
Zu Batteux siehe Kommentar zu Brief letter-bs-1761-03-23.html.
à tort et à travers
Übers.: »durcheinander«.
der brief von der Karschin
Karsch an Bodmer, Berlin, 29. Juli 1762, oder ein undatierter, ebenfalls im Sommer 1762 entstandener Brief Karschs an Bodmer (ZB, Ms Bodmer 3.3.).
das folgende stück des Journal de Neufchatel
[J. J. Bodmer], A l'Éditeur du Journal Étranger. In: Journal helvétique, Oktober 1762, St. 10, S. 375–387. Vgl. Bodmers frühere Anmerkung, er habe sich in einem Brief kritisch über den Essai sur la Poésie allemande geäußert (Brief letter-bs-1762-03-13.html).
fulmina ex nebri
Übers.: »Blitze aus dem Becken«.
eine Edition von Rousseau Contract
J. J. Rousseau, Du contrat social, ou, Principes du droit politique, 1762. Das Titelblatt kündigt in der Neuauflage »einen Brief des Verfassers an den einzigen ihm verbliebenen Freund in der Welt« an.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann