Brief vom 20. Oktober 1762, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 20. Oktober 1762

Mein liebster Freund.

Ich wünsche ihnen tausendmal Glück zu der Einsamkeit, die Sie bald aufnehmen soll. Da wünsche ich nichts als was ich selbst für eine der schäzbarsten bequemlichkeiten halte. Seit ihrem scheiden von uns hab ich sie beständig genoßen. Eine Geschwulst im Angesicht hat mich zu hause behalten, daß ich den Hefengeruch der aus allen Kellern aufsteiget, nicht habe einsaugen müßen. Aber es war keine unthätige Einsamkeit. Sie hatten mir in die wenigen anmerkungen zu den ersten gesängen der Noachide Augen in den Verstand gesezet, die mir nicht nur das zu sehen geben, was vor der stirne stand, sondern noch mehr anders, das hinter diesen ersten gegenständen verborgen lag. Ich habe würklich die vier ersten gesänge nach ihren begriffen gearbeitet, nicht nur die größern stücke, sondern die kleinsten Züge der ausbildung. Wenn ich Ihnen bald eine Probe davon schike, so werden sie sehen daß ihr ausgestreueter samen in guten fruchtbaren boden gefallen. Es ist eine Art geistigen pulvers durch meinen kopf verstreut, man darf nur einen kleinen funken feuers darauf werfen, so verbreitet es sich in volle flammen. Seyn sie darum nicht karg mit ihren Ermunterungen, jede von ihren Anmerkungen ist eine Ermunterung. Halten sie die randgloßen des alten Exemplars für das was sie sind, scherze der muthwilligen Critik, wie des Zoilus waren.

Ich habe die Augen, die sie in meinem Kopf gepflanzt haben, auch im achten und im zehnden gesang gebraucht. Am Ende des achten soll ich erzählen, [→]wie die flut Tydor, Asdod, Sichar, Putniel mitten in ihren sünden ereilet, und wie dieselbe einige Edeln und frommen in der laufbahn der tugend angetroffen, und doch beyde dahin gerißen hat.

Den zehnden gesang hab ich nach einem ganz veränderten Plan umgesezt. Ich lasse gleich zu anfang als man nachts die verzweifelung des Abadona gehört hatte, Raphael in die Arche gehen; er erzählt da, wie er einige seelen ins Empyreum geführt hat, die ich im achten gesang schon aufgeführt hatte; ferner wie ein Engel des Todes die Myriaden der sünder zur linken des Empyreum den himmel vorbeygejagt. Ich laße ihn gelegentlich sagen, weßen die Stimme der verzweifelung gewesen, die man gehört hatte. Der Engel hatte in seiner Erzählung erwähnt, daß Lamech nach der Erde geflogen sich um Noah zu erkundigen, und er siehet ihn mitten in der Erzählung auf der Zinne des sonnepalastes stehen. Er fliegt zu ihm hinauf, hat eine Unterredung mit ihm, und ist gleich wider bey Noah. Endlich entzifert der Engel ihm auch die prophetischen Rähmen. Aber hier widerhole ich seine Erzählung nicht, sondern sage nur den Inhalt davon. Ich laße diesen von Noah im eilften gesang seinen kindern entdeken. –

[→]Unterdeß hatte der abend den himmel beschlichen, der Engel
Sahe wie Noah das volle maß der Empfindungen hatte,
Kysst' ihm die stirn und ward nicht sichtbar den menschlichen Augen.

Izt erzähl ich noch Lamechs Zurükreise, und etwas von der abentheuer auf dem versteinernden felde, auf welches die Myriaden sind geworfen worden.

Ich werde mich groß dünken, wenn ich mit einigen von diesen Veränderungen ihren Anmerkungen zuvorgekommen bin. Ich habe niemals eine größere Meinung von diesem Gedicht gehabt, als daß es erträglich sey, aber seitdem sie mir die Augen geöffnet, und die lippen berührt haben, fang ich zuweilen an zu glauben, daß es in seiner Art könne vollkommen werden, und daß ich unwürdiger ihm diese Vollkommenheit geben könne. Ich habe nicht wahrgenommen, daß diese vierzehn regnichten Tage meine poetischen flammen mehr als der frost der jahre gedämpft haben. Ohne Zweifel genieß ich den Einfluß des Engels der über der Arche schwebete. Gewiß phantasiere ich nicht, wenn ich glaube, daß Sulzer auch begeistert. So hat mich nicht Klopstok, noch Wieland begeistert. Es war eine heldenthat, so die vorsehung ihnen in die gedanken gegeben, daß sie meinen alternden geist mit ihrer leiblichen gegenwart erquiken sollten. Das war eine Erscheinung, die ihn verjüngete.

Ich habe Japhets Abschied von Sipha, der zu Anfang des zweiten gesanges stand, in den ersten Gesang geworfen, und die Geschichte von Putniel und Balak in dem zweiten gesang übergetragen. Dadurch bekommen dise Gesänge mehr Ordnung. Der Morgengesang der mädchen vor der ankunft der Jünglinge ist verfertiget, und ich hoffe, daß ihre unschuld dabey nichts verlohren hat.

Niemals aber wird dieses gedicht das prophetische Aussehen, furentis animi vaticinationem, die von allen Gedichten die Messiade bezeichnet, erhalten. Sie wissen auch schon, daß wir diese hohen Flüge zu bekommen nicht wenig unphysicalische und unpsychologische Stellen übersehen müßen.

Ich umarme sie. Bodmer

den 20sten Octob. 1762.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite: »20 Oct. 62.«

Stellenkommentar

des Zoilus
Zum Homer-Kritiker Zoilus vgl. Brief letter-bs-1761-03-04.html.
wie die flut Tydor, Asdod
Vgl. Bodmer, Noachide, 1765, S. 232–235. Bodmer ersetzte in der Druckfassung (1765) die Geschichte Putniels, Herrscher von Havila, der schon von Montesquieu erwähnt wird (Reiling Genese der idealen Gesellschaft 2010, S. 153) durch die des Selima, Herrscher in Jarmut.
nach einem ganz veränderten Plan
Die Reihenfolge der Episoden innerhalb des zehnten Gesangs ist in der Druckfassung leicht verändert. Vgl. Noachide, S. 271–287.
im achten gesang schon aufgeführt
Ebd. S. 236–240.
weßen die Stimme der verzweifelung gewesen
Die Stimme des Teufels Abbadona. Vgl. ebd. S. 282 f.
prophetischen Rähmen
Raphael entdeckt Noah die verborgenen Schicksale der Propheten Israels bis zum Messias (ebd. S. 284f). Bodmer benutzt »Rahme«, eine Variante von »Rahmen«, als Bezeichnung für die entdeckten Bilder oder Szenen (ebd. S. 295).
von Noah im eilften gesang seinen kindern entdeken
Ebd. S. 293–296.
Unterdeß hatte der abend
Vgl. die stark gekürzten Verse (ebd. S. 285).
Lamechs Zurükreise
Siehe ebd. S. 285–290.
Japhets Abschied von Sipha
Vgl. ebd. S. 36 f.
Geschichte von Putniel und Balak
In der Druckfassung nicht beibehalten. Stattdessen steht am Ende des zweiten Gesangs die Darstellung von Havila und Jarmut unter der Herrschaft Selimas (S. 61 f.).
Der Morgengesang der mädchen
Ebd. im dritten Gesang, S. 86 f.
furentis animi vaticinationem
Zitat aus dem Satyricon des römischen Schriftstellers Petronius. Übers.: »die prophetische Offenbarung eines ekstatischen Geistes« (Petronius Arbiter, Satyrische Geschichten, 2013, S. 268 f.).

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann