Brief vom 6. November 1762, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Datum: 6. November 1762

Winterthur den 6. Winterm.

Ich werde Ihnen, mein fürtrefflicher Freünd, die Fortsezung meiner Anmerkungen über den Noah schiken, wenn ich einige Gesänge werde weiter gekommen seyn. Bey dem fünften bin ich stehen geblieben, weil das Einziehen in meiner Winterwohnung dazwischen kam, und ich jezo meine Gedanken nicht gerne zerstreüe bis ich die Artikel von der Erfindung und vom Erhabenen einer maaßen werde ausgeführt haben. Zu geringern Artikeln habe ich so viel Vorsichtigkeit nicht nöthig, und kann verschiedene Dinge dazwischen vornehmen. Auch wird es gut seyn, wenn Sie selbst nicht zu viel auf einmal an ihrem Werk vornehmen. So ofte meine Gedanken auf eine etwas schweere Materie fallen, suche ich alle Vorstellungen, die keine Verbindung damit haben, so lange zu entfernen, bis ich den rechten Faden der mich aus dem Labirynth führt gefunden habe. Es ist eine Würkung ihres erfinderischen Geistes, daß ich mir die Ertränkung einer Welt, als einen reichen epischen Stoff vorstelle. Sie haben den Reichthum der Vorstellungen hineingebracht. Von dieser Seite finde ich keinen Mangel daran. Aber eine Haupteinwandung fällt mir doch ofte ein. Warum ist jene Welt versäuft worden, wenn sie nicht böser, als diese, gewesen. Können Sie nicht irgendwo etwas hineinbringen, das diese Schwierigkeit hebt? Ich weiß wol, daß Sie die Geschicht nicht erfunden haben, und folglich auch nicht Rede und Antwort dafür geben dürffen. Wenn Sie es aber thun, so macht die Geschicht mehr Eindruk. Vielleicht könnten wenige worte, am rechten ort angebracht, diese Schwierigkeit heben, wenn die absicht der ganzen Begebenheit, sie zu einem äußerst rührenden Beyspiel der Straffenden Gerechtigkeit und erhaltenden Gnad zu machen, deütlicher ausgedrukt wäre. Denn ob man dieses gleich darin finden kann, obgleich die Vermahnung des Noah an seine Söhne dieses auch sagt, so scheinet hingegen diese Einheit der Absicht dadurch wieder verlezt, wenn an andern orten die Sache so vorgestellt wird, als wenn die Absicht dieser Begebenheit wäre die Sünder zu vertilgen um ein beßeres Geschlecht der Menschen zu haben, welche absicht aber, so viel wir sehen nicht ist erreicht worden. Mich dünkt, daß in der Exposition des Inhalts, ein einziger Vers hinzukommen sollte, der jene Absicht kurz anzeigete, und hernach könnte sich etwa Noah, in der Rede an seine Kinder etwas weitläuftiger darüber ausdrüken, das andre aber, daß Gott durch Vertilgung der Bösen ein beßeres Geschlecht der Menschen pflanzen wollen, würde ich ganz weglaßen.

Mich dünkt es schimpflich für die Deütschen, daß sie ihre Streitigkeiten über den Geschmak sogar für den franzosischen Richterstuhl tragen wollen. Sie haben wenig Ursache unruhig darüber zu seyn. Ihre Gegner sind es würklich nicht werth, daß Sie selbst im Felde gegen sie erscheinen. Weil sie nur streiten um zu streiten, so kann man sie auch niemals überwinden, weil in einem solchen Streit nichts auszumachen ist. Wenn sich einer vorgenommen hat mich zuschelten, so hilft es nichts ihm meine Unscheltbarkeit darzustellen. Indeßen wäre es doch gut, wenn man eine kurze und endliche GegenDeklaration thäte, die ich allenfalls, wenn Sie niemand beßern dazu wißen auf mich nehmen wollte. Hr. Wattelet, der mein guter Freünd ist, wird wol dafür sorgen, daß sie einverleibet wird. Aber dazu müßte ich erst sehen, was die Gegner auf dem selben Schauplaz gethan.

In Ansehung der ganzen Sache, auch das was den Brutus angeht, mit begriffen, dünkt mich die beste Art zu verfahren sey, die Gegner weder zu wiederlegen, noch auf eine andre Weise ihre Blöße zu zeigen, sondern, die mit unrecht angefochtenen Sachen nur immer zu loben, ihren Werth zu zeigen oder zu preisen, ohne der Gegenerinnerungen zu gedenken. Von allen denen die den Homer loben, ist keiner mehr, der des Zoilus dabey gedenkt. Man spricht so vom Homer, als wenn dieser niemals etwas dagegen gesagt hätte, man nimt es, als eine bekannte Sache an, daß der Tadler ein Narr gewesen sey.

Gleim schreibt mir, daß Klopstok bey ihm gewesen, welcher den Winter über in Quedlinburg zu bringen werde. Auf Ostern sollen fünf neüe Gesänge erscheinen. Er findet an diesem Dichter einen so vollkommenen Menschen, daß er nicht begreiffen kann, wie rechtschaffene Leüthe jemal etwas an ihm auszusezen gefunden haben. Bachman klagt, daß Gleim die Ausgabe der Karschischen Gedichte verzögere. [→]Mit dem wieder gefundenen Brief dieser Dichterin haben sich noch einige Sachen gefunden, die Sie noch nicht gesehen und die ich Ihnen hiebey schike.

Bis jezo befinde ich mich sehr wol in meiner Einsamkeit. Alle Morgen bin ich zwey Stunden vor dem Tag auf und warte bis um 11 meiner Hauptgeschäfte. Denn gehe ich in die Gegenden, die mir das Andenken meiner Kinderjahre noch angenehmer macht spazieren bis nach 12 Uhr. Gegen abend besuchen mich unsre Freünde fleißig. Das übrige der Zeit wird mit Lesen zugebracht. Es thut mir doch leid, daß Sie mich hier nicht sehen können. Es wird von dem Fortgang meiner Arbeit abhängen, ob ich mich werde entschließen können, diesen Winter noch einmal zu Ihnen zu kommen. Indeßen wollen wir uns ofte schreiben. Empfehlen Sie mich der Fr. Profeßorin, dem Hrn. Chorherrn und leben Sie vergnügt.

Sulzer.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Brief von Anna Louisa Karsch an Bodmer.

Eigenhändige Korrekturen

wenn die absicht der ganzen Begebenheit, sie zu einem äußerst rührenden Beyspiel
wenn die ⌈Absicht der⌉ ganze|n| Begebenheit, alssie zu⌉ ein|em| äußerst rührendesn⌉ Beyspiel
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Leb Empfehlen

Stellenkommentar

Einziehen in meiner Winterwohnung
Vgl. Künzli an Bodmer, Winterthur, 15. November 1762 (ZB, Ms Bodmer 3a.2, Nr. 115): »Nun ist unser Herr Professor, in dem Garten Hause, mit einem Kamin und Ofen vor dem Winter bewahret, er ist mit seinem kleinen Siz wohl zufrieden.«
die Artikel von der Erfindung und vom Erhabenen
Damit lässt sich ein Zeitraum der Konzeption und Abfassung dieser zwei grundlegenden Artikel der AT (S. 333–340 u. 341–349) auf die Monate Oktober und November 1762 datieren. Trotz der komplexen Entstehungsgeschichte der AT scheint es, dass beide Artikel bis zum Druck im Jahr 1771 ihre ursprüngliche Form behalten haben, da alle textinternen Quellenangaben auf Werke verweisen, die bis 1762 erschienen. Zur inhaltlichen Ausführung dieser beiden Artikel vgl. Dobai Die bildenden Künste in Johann Georg Sulzers Ästhetik 1978, S. 46–49 u. S. 181–184. – SGS, Bd. 3.
in der Exposition des Inhalts
J. J. Bodmer, Die Noachide, 1765, Ges. 1, Vers 1–27, S. 3 f. Trotz der Ermahnung Sulzers finden sich in den Eingangsversen beide, für Sulzer unvereinbare Gedanken.
Hr. Wattelet
Claude-Henri Watelet, Zeichner, Ästhetiker und Schriftsteller. Durch seine regelmäßige Mitarbeit an der Encyclopédie in den Jahren 1754–1757 und seine Aufnahme in die Académie Française am 19. Januar 1761 gewann Watelet Einfluss in den literarisch-ästhetischen Kreisen in Paris. In der Académie stand er bis in die späten 1760er Jahre aufseiten der Enzyklopädisten D'Alembert und Diderot (vgl. Couturier Claude-Henri Watelet 2008, S. 62–65). Watelet korrespondierte außerdem mit Rousseau und Salomon Geßner, dessen von Huber übersetzte Werke er illustrierte (vgl. ebd. S. 54).
Gleim schreibt mir
Nicht ermittelt. Vgl. auch Sulzers Brief aus Winterthur an Gleim, 22. September 1762 (GhH, Hs. A 4157).
fünf neüe Gesänge
Die Gesänge XI bis XV von Klopstocks Messias erschienen allerdings erst 1768.
Bachman klagt
H. W. Bachmann d. J. an Sulzer, [Magdeburg, Oktober 1762], nicht ermittelt. Bachmanns Briefwechsel mit Sulzer ist nicht überliefert. In Bezug auf die Ausgabe der Gedichte der Karschin finden sich viele Informationen im überlieferten Austausch zwischen Sulzer und Gleim (z. B. Brief Sulzers vom 8. Mai 1762, GhH, Hs. A 4155), aber auch zwischen Bachmann, Gleim und Ramler. So schrieb Bachmann, der selbst zahlreiche Gedichte der Karschin sammelte und verzeichnete, an Gleim bereits am 2. August 1762: »Die schleunige Abreise unseres Sulzers wird Ihre Arbeit wegen dieser HerausGabe vermehren. Wie gern wollte ich Ihnen einen Theil davon abnehmen, wenn ich dazu geschickt wäre! Wenn Sie inndeßen das Mspt ganz in Ordnung werden gebracht haben, so erbiete ich mich allenfalls, mit Winter und Meil wegen des Druckes zu correspondiren (GhH, Hs. A 103).
Mit dem wieder gefundenen Brief
Vgl. Karsch an Bodmer, [Berlin], 29. Juli 1762 (ZB, Ms Bodmer 3.3). Ein anderer, undatierter Brief ist wohl in der Zeit vor Sulzers Schweizer Reise zu verorten. Dessen Anfang lautet: »Er komt, Ihr nach Vergnügen hungernder freund, Ihr Sultzer komt mein Theurer Bodmer.« (ZB, Ms Bodmer 3.3). Unter den Beilagen befanden sich wahrscheinlich die Gedichte »An meinen freund Sultzer, als Er abreißte« sowie »An Gott«.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann