Brief vom 9. September 1774, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 9. September 1774

Endlich hab ich das Ziehl meiner langen und zum Theil mühsamen Arbeit erreicht. Der zweyte Theil der Theorie hat die Preße verlaßen, und ich bin auf einmal ohne Beschäfftigung und ohne Sorge. Ich erfahre dabey das Schiksal aller Menschen, die durch Erfüllung der eyfrigsten Wünsche nie ganz befriediget werden. Den ganzen Sommer über, war dies mein einziger Wunsch die Arbeit bald geendiget zu sehen, damit ich in völliger Freyheit und gänzlicher Sorglosigkeit unter meinen Bäumen und zwischen meinen Gesträuchen herum irren könnte, ducere sollicitae jucunda oblivia vitæ. Das Glük ist mir geworden, und siehe! nun scheinet es mir nicht so beneidenswerth. Izt seh ich, was die Arbeit für ein Gut ist, seit dem ihr gänzlicher Mangel mich das Leere des Müßigganges empfinden läßt. Seit langen war ich gewohnt einen Vertrauten Freünd in den einsamsten Stunden um mich zuhaben, und gegen ihn meine geheimsten Gedanken und meine Wünsche zu äußern. Nun ist er weg gereißt und macht mir mein Haus und meinen Garten zur Einöde. Dieser Freünd war die Arbeit. Würklich mein Theürester fühle ich etwas, das der Empfindung sehr ähnlich ist, die ich ehedem fühlte, als Künzli bey mir in Berlin gewesen und mich nun wieder verlaßen hatte. So sehr beherrscht uns die Gewohnheit.

Vielleicht werden Sie glauben, ich sollte gegenwärtig so gar sorglos nicht seyn, da mir nun so mancherley Tadel über die Mängel und Unvollkommenheiten dieses Werks bevorstehen. Aber warlich diese Sorge beschäfftiget mich keinen Augenblik. Ich habe gesagt, was ich zu sagen hatte, und habe nach Herzenslust mit meinen Lesern geplaudert. Nun habe ich nichts mehr zu sagen, und überlaße jedem, der es gut findet, seine Gloßen über das, was ich gesagt habe, zu machen.

Ich merk es gar wol, daß mein Recensent in der Allg. deütschen Bibl. mir hat Weh thun wollen. Aber ich kann mit Wahrheit sagen: non dolet. Einige seiner Critiken sind gegründet; aber gegen mich selbst bin ich entschuldiget, und niemand braucht zu wißen, wie. Um das übrige bekümere ich mich wenig. Unmöglich mein Theürester kann ich mich entschließen auch nur eine Zeile zu meiner Rechtfertigung, oder Vertheidigung zu schreiben. Dies mögen jüngere Liebhaber thun. Ich fange an stumpf und Steiff zu werden, und würde doch wenig ausrichten. Würklich ist mir die Arbeit in den lezten Monaten sauer geworden und ich fürchte, daß Leser von feiner Nase, das was die Franzosen peiné nennen, gar wol werden gewahr werden.

Rathen Sie mein Theürester, was für einen Plan der Beschäfftigung ich mir für den bevorstehenden Winter gemacht habe? Gewiß einen höchst angenehmen, denn ich habe mir vorgenommen die Zeit allein mit Ihnen, in ihrem Closet zuzubringen. Erschreken Sie hierüber nicht. Meine persönliche Gegenwart soll ihrem Alter nicht zur Last fallen. Ich habe bereit alle Briefe, die Sie mir seit 1744 bis auf diesen Tag geschrieben haben, zusammengesucht, nehme mir vor, sie nicht nur wieder zu lesen, sondern mit eigener Hand abzuschreiben. Ich befürchte, sie möchten denen, die nach meinem Tode sie finden werden, unleserlich seyn, und empfinde die Größe des Verlustes, der daher entstehen würde. Ich hoffe, daß Sie nichts dagegen haben, daß das, was Sie mir in den vertraulichsten Stunden über so mancherley Thorheiten der Menschen anvertraut haben, künftig auch andern soll offenbar werden. Sie mein Theürester dürffen sich gar nicht scheühen im Schlaffrok und in der Nachtmüze zu erscheinen. Dieser Aufzug ist nur denen gefährlich, die durch äußern Glanz zu blenden gesucht haben. Ich denke so gar, daß diese Documente aus dem Archiv der Critik, wenn sie mit der Zeit an das Tageslicht kommen sollten, fürtreffliche Beyträge zur Geschichte des Geschmaks unter uns, seyn würden.

Aber dieser Einfall erinnert mich, Sie ernstlich und innständig zu bitten, die Verfügung zu treffen, daß nicht nach ihrem Tode irgend ein schwacher Kopf mich auf ähnliche Weise im deshabillé für die Augen der Welt führe. Der Fall wär nicht der ihrige. Ich war ein Knabe, da Sie, als ein Mann mich ihrer Gesellschafft würdigten, und meine Kindereyen wurden von Ihnen ertragen; weil sie schon damals hoffen möchten, ich würde künftig auch ein Man werden. Ich weiß es nur gar zu wol, was auch etwa mein spätheres Alter in Ansehung der Einsichten, mochte gewonnen haben, daß meine JünglingsJahre äußerst schwach gewesen.

Neülich schikte ich Ihnen zwey Briefe von Hartman. Ohne Zweifel enthalten sie auch vieles von den Klagen, womit er mich oft und überflüßig unterhält. Einige scheinen gegründet zu seyn, aber viel andere müßen auf Rechnung seiner Jugend Hize gesezt werden. Er sagt, daß er von seinem Gehalt von 1200 Gulden und dem Geträyde, das ihm noch über dies geliefert wird, nicht leben könne. Und dieses wird leider wahr seyn, wenn er sich nicht mäßigen lernt. Ich hatte ihm 100 Ducaten zu seiner Reise von Stutgard nach Mitau geschikt, und er hatte sie bis Berlin verzehret. Doch thu ich mein möglichstes, ihn und seine Collegen klaglos zu machen, und habe nur vor ein paar Tagen deßhalb in einem so dringenden Ton, als es sich thun ließe an den Herzog geschrieben. Ich denke, die Sachen werden doch gut gehen. Aber freylich nicht in jedem einzelen Stük so gut, als es Jünglinge von so uneingeschränkter Gemüthsart, verlangen. Ich bin mit dem Verstand und dem Herzen dieses wakern jungen Mannes, sonst völlig zufrieden. Denn ich sehe, daß alle Anomalien darin, blos Anomalien seines Alters sind, folglich sich Täglich verbeßern. Am Ende wird er uns beyden Ehre machen.

Ich wünschte, daß ich von M...lern daßelbe sagen könnte. Zwahr ist seine Redlichkeit ohne Schranken; aber sein Kopf und der Leidenschaftliche theil seiner Seele zeigen Auswüchse, die gar nicht den überflüßigen Säfften des jugendlichen Alters zuzuschreiben sind, sondern von einer übeln innern Grundanlage herkommen. Er macht mir viel Sorgen und ich bin nicht außer Gefahr, daß er mir auch Verdruß machen werde. Unbeügsamer hab ich noch wenig Menschen gesehen, und seine Leidenschafften scheinen seinem Verstand Ketten anzulegen, die ihn völlig unbeweglich festschließen. Desto zügelloser würkt alsdenn die Leidenschafft.

Den ganzen Sommer über hat meine Gesundheit täglich zugenommen, und seit zwey Monaten gehe ich alle Wochen einmal nach Berlin, um mir wieder anzugewöhnen, mein Lehramt selbst zu versehen. Aber der eintretende Herbst läßt mich nicht viel gutes von dem Winter hoffen. Gesundheit und Kräffte nehmen bey mir gerade so ab, wie der Sommer abnihmt, und es kann wol seyn, daß ich den aufgegebenen Plan, mein Heil in wärmeren Gegenden zu suchen, wieder vornehmen muß. Aber ich bin entschloßen bis in den künftigen Monat zuzusehen, wie die Jahrszeit auf mich würken werde.

Was sagen Sie zu Klopstoks Gelehrtenrepublik, zu seinen und Wielands Handlungscomptoren, Haupt und unter comptoren? Ich bin nicht weit davon entfernt, wenn ich diese mercantilischen Operationen sehe, den Wunsch des Nero zu fühlen: utinam nescirem litteras! Und dieses fällt mir auch oft ein, wenn ich die manigfaltigen Cujonerien einiger Jurnalisten bedenke. Es bekommt uns wol, mein Theürester, daß wir, als Depontani, den Sachen mit einiger Gelaßenheit zusehen können.

Meine Tochter hat im Anfang dieses Jahres einen Knaben zur Welt gebracht, der izt voll Munterkeit und Leben ist. Sie fragen mich, ob mir das künftige Leben in meinen Nachkommenden, oder das in meinen Schrifften das angenehmere sey. Kaum därff ich Ihnen ins Ohr sagen, daß ich für beyde völlig gleichgültig bin. Etwas gutes gethan zu haben, das nach uns fortdauert, ist zwahr wünschenswerth, dieses erkenn ich. Aber ich weiß nicht, warum ich für mich selbst so wenig dabey fühle, daß ich es gethan habe. Mich dünkt es sey einerley, ob ich oder ein andrer es gethan, wenn es nur da ist, und wenn ich nur ihm meinen Beyfall nicht versagt habe. Aber dieses würde mich kränken, wenn ich mir bewußt wär, daß ich mich irgend etwas guten wiedersezt hätte, oder daß es mich mißvergnügt gemacht hätte. Übrigens denke ich so. Wenn wir einmal tod seyn werden, so befinden wir uns bey dem Größern Hauffen, und werden uns so sehr viel nicht darum bekümmern, was die wenigern so lange machen, bis sie auch zu uns kommen werden.

Ich werde gewiß dafür sorgen, daß der zweyte Theil meiner Theorie sobald sich die Gelegenheit dazu findet, ihnen eingehändiget werde. Für diesmal kann ich ein Mehreres nicht sagen. Ich umarme Sie von ganzem Herzen.

JGSulzer.

den 9 Sept. 74.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b. – E: Zehnder-Stadlin 1875, 440–443.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers mit rotem Stift auf der letzten Seite: »Accepi 25. Sept.«

Eigenhändige Korrekturen

oder das in meinen Schrifften
oder ⌈das⌉ in meinen Schrifften

Stellenkommentar

ducere sollicitae jucunda oblivia vitæ
Hor. s. II, 6, 62. Übers.: »in Stunden der Untätigkeit angenehmes Vergessen meines unruhigen Lebens zu schlürfen«. (Horaz, Buch 2 der Satiren, 2018, S. 169).
Künzli bey mir in Berlin
Vgl. Brief letter-sb-1753-11-05.html.
Recensent in der Allg. deütschen Bibl.
Die von Herder verfasste Rezension zum ersten Band von Sulzers AT war in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, Bd. 22, 1774, S. 5–92 erschienen.
non dolet
Plin. epist. III, 16, 6. Übers.: »es tut nicht weh«. (Plinius, Briefe, 2003, S. 173).
peiné
Übers.: »schmerzerfüllt«.
habe bereit alle Briefe, die Sie mir seit 1744
Die Abschriften sind vollständig in der ZB (Ms Bodmer 20.9–11) überliefert. In den 224 Seiten umfassenden Abschriften nahm Sulzer Eingriffe in die Interpunktion und Orthografie sowie umfangreiche Kürzungen und Auslassungen vor. Zu den Abschriften bzw. Sulzers Abschreibepraxis siehe Kittelmann Zwischen geselliger Praxis und Lesbarkeit für die Nachwelt 2020.
deshabillé
Übers.: »Hauskleid«.
an den Herzog
Sulzers Brief an Peter von Biron, Herzog von Kurland, nicht ermittelt.
einmal nach Berlin
Moabit, wo sich Sulzer die Sommermonate in seinem Garten aufhielt, stand unter Berliner Verwaltung, wurde von Sulzer aber als eigenständiger Ort verstanden.
Heil in wärmeren Gegenden
Vgl. Kommentar zu Brief letter-sb-1773-10-02.html.
utinam nescirem litteras
Übers.: »Hätte ich doch nie schreiben gelernt.« Neros Erzieher Seneca zufolge soll der Kaiser bei der ersten Unterschrift eines Todesurteils ausgerufen haben : »Quam vellem nescire litteras!« (Seneca, Ad Neronem Caesarem de clementia, II, 1, 2).
Depontani
Über 60-jährige Greise, die im antiken Rom nicht mehr im Staatsdienst standen und kein Stimmrecht mehr hatten.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann