Brief vom 20. September 1774, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 20. September 1774

Ich schike heüte die Ihnen fehlenden Bogen des 2tn Theiles meiner theorie in einem besondern Päkgen nach Leipzig mit einer angelegenen Empfehlung an Reich, dieses Päkgen, meinem Verehrungswürdigen Freünd, mit der ersten und sichersten Gelegenheit zuzuschiken. Zugleich aber trage ich ihm auf, von Leipzig aus noch zwey complete Exempl. des zweyten Theiles und ein Exempl. des 1 u. 2 Theiles an Sie zuschiken. Das vollständige Exempl. von beyden Theilen, das gebunden an Sie kommen wird, ist für Hr. Wegman, dem ich es mit meinem besten Gruß einzuhändigen bitte. Mit dem einen Exemplar des 2tn Theiles können Sie dem Dr. Hirzel sein Exemplar vollständig machen.

Sie werden ohne mein Erinnern gewahr werden, daß ich die lezten Bogen dieses Werks nicht mit der Muße noch Sorgfalt ausgearbeitet habe, die sonst auf das Werk verwendet worden. Meiner Entfernung von Berlin ungeachtet, waren die Zerstreüungen, unter denen ich den Sommer zugebracht habe zu groß, das zwahr gerechte, aber mir höchst verdrießliche Mahnen von Seite des Verlegers und des Buchdrukers zu beschweerlich, als das ich mit der gehörigen Samlung der Aufmerksamkeit hätte arbeiten können. Sie, mein Theürester, haben für mich Freündschafft im Überflus, um mir die Nachläßigkeiten zu verzeihen; und auch von unpartheyischen Lesern, hoffe ich Nachsicht; die partheyischen würde ich durch die größte Bestrebung, alles in der äußersten Vollkommenheit zu liefern, doch nicht gewonnen haben; Sie haben einen Zahn gegen Sie und gegen mich, der an unsern Werken immer nagen würde, wenn gleich nichts zu nagen wäre, und die Bemühung diesem Zahn auszuweichen würde doch vergeblich gewesen seyn.

Wie wol ich fest entschloßen bin, auch da wo ich es thun könnte, mich in keine Vertheidigung einzulaßen, so habe ich es doch nicht verschworen bey guter Gelegenheit den Demagogen der Gelehrten Republik es vorzuhalten, daß sie sich aus unedlen Absichten dem Guten wiedersezen. Aber gegen sie zu Felde zuziehen, halte ich für eine Bemühung die ohne Frucht seyn würde. Ich glaube ohne dem, daß der Unfug, den sie machen, ihnen nach und nach die verdiente Verachtung des Publicums zu wege bringen werde.

Sie haben also, mein Theürester, ihren Wünschen gemäß, auch diese Epoche in unsrer Literatur erlebt, und was sie gutes hat, ist noch immer ihr Werk und eine Folge der großen Epoche, die Sie selbst ehedem bewürkt haben. Ich denke doch, daß Sie mit dem Zustand unsrer Literatur, so wie Sie ihn bey ihrem Abscheiden sehen, mit dem vergliechen, den Sie bey ihrem Eintrit auf die Scene derselben gefunden, wol zufrieden seyn werden, denn der izige Mißbrauch unsrer erworbenen literarischen Macht, ist doch nur vorübergehend; die Kräffte selbst sind nun da, ob sie gleich eine Zeitlang schlecht angewendet werden.

Und nun mein Theürester sollen Sie, wie ich hoffe, auch noch eine andre eben so vergnügliche Epoche sehen. Unser Wegelin ist würklich mit dem ersten Theil seines großen Werks, der Introduction generale, vielleicht dem wichtigsten Theile seiner Geschichte fertig, wie wol er sie der Preße noch nicht übergeben hat. Ich wünschte aber eben so starke Versicherung von der Güte seines Vortrages zu haben, als ich sie von der Gründlichkeit und Schäzbarkeit der Gedanken selbst habe. Ich bin nicht ohne Sorge, daß die Herrlichen Früchte dieses Werks unter Disteln und Dornen werden herausgesucht werden müßen. Und nie ist man weniger geneigt gewesen so mühesam einzuärndten, als izt.

Gegenwärtig genieße ich einer Ruhe und size in solchem Überflus der Muße, daß mir beydes beynahe zur Last wird. Meine noch immer anhaltende Krankheit, die sich in dem Maaße vermehrt, in welchem die gute Jahrszeit abnihmt, verbiethet mir neüe Arbeit zu suchen, die ich doch allem Anscheine nach nicht würde ausführen können. Der größte Schaden, den ich von meiner Krankheit habe, ist eine sehr merkliche Schwächung des Gedächtnißes, das ohne dem bey mir nur sehr mittelmäßig gewesen ist.

Seit 14 Tagen, die ich sehr einsam zugebracht habe, sind Sie mir die einzige Gesellschaft gewesen. Ich habe den Schaz von Gedanken und Urtheilen über Menschen und Sachen, der in ihren an mich geschriebenen Briefen liegt, aus dem Pulte, der ihn verschloßen hatte, hervorgelanget. Dieses ist izt meine Lectüre, höchst angenehm und unterrichtend. Izt genieße ich erst recht die Früchte ihrer Freündschafft gegen mich. Ich weiß mir für den bevorstehenden Winter keine vergnüglichere Arbeit zu machen, als diese Briefe mit eigener Hand abzuschreiben und so einen wichtigen Theil meines verfloßenen Lebens, noch einmal zu leben. Es fällt mir gar ofte dabey ein, daß sehr wenige der Männer, die sich auf der öffentlichen Scene der gelehrten Welt gezeiget haben, auch in ihrem Schlaffrok und in der Müze mit so viel Ehre zeigen würden, als Sie.

Es ist, als wenn unser Prof. Müller mich izt scheüete. Es sind nur zwey Häuser zwischen uns, und doch sehe ich ihn sehr selten. Er scheinet ganz allein mit seiner Unzufriedenheit sich zu beschäfftigen. Es ist zu bedauren, daß so viel Neigung gut zu handeln und das allgemeine Gute zu befördern, als bey ihm würklich ist, mit so viel Unmuth und Unzufriedenheit verbunden ist. Ich habe die Hoffnung aufgegeben, ihn in einem ordentlichen und ruhigen Zustand, zu sehen.

Izt bekomme ich ihren Brief vom 28 August. Anstatt meines unglüklich ertrunkenen Gärtners habe ich wieder einen ehrlichen Züricher, Brenner aus Schlieren nebst seinem Weibe in meinen Dienst genommen, und hoffe, daß es ihm bey mir wol gehen soll.

Hartman klagt sehr über Theürung in Mitau und über die Langsamkeit der Anstallten, die dem dortigen Gymnasio das Leben geben sollen. Er hat mich durch recht ungestühmes Anhalten zu einem Faux pas verleitet. Ich mußte auf wiederholtes Anhalten dem Herzog vorstellen, daß ein Profeßor in Mitau mit 1200 Gulden baarem Gelde und freyem Getrayde für sein Haus, nicht leben könne. Dieses hat Hartm. zu wiederholten malen, mit Betheürungen versichert. Und nun erfahre ich ganz zuverläßig, daß die Theürung, worüber er so sehr klagt, blos solche Sachen betreffen, die ein Profeßor haben müßte, der wie ein Hofman glänzen will. Er ist würklich sehr ungestühm und will izt contre vent et marée, ehe er sich noch in Verfaßung gesezt hat zu thun, was seines Amtes ist, ein Jurnal anfangen, wozu er mich sehr entscheidend als Mitarbeiter auffodert. Ich habe ihm geschrieben, daß er erst an das Nothwendige denken solle.

Bey dem allem, bin ich über den fond seines Charakters außer Sorge; Kopf und Herz sind gut und ich habe an den Herzog geschrieben, daß die Fehler, die dieser junge man hat, solche sind, die Täglich abnehmen müßen, weil er Täglich doch einen Schritt thut der Jugend, der Quelle seiner Fehler zu entgehen. Es sind nun drey Würtemberger an diesem Gymnasio. Da ich selbst die Direction dieser Stifftung, die der Herzog mit äußerst vortheilhaften Bedingungen mir angetragen hat, nicht annehmen konnte, so that Prof. Müller einen Versuch mich zu bereden, ihn an meine Stelle vorzuschlagen. Aber er nahm bey näherem Nachdenken seine Pretension von selbst wieder zurüke. Er brennt vor Begierde sich Ansehen und einen Namen zu machen; aber die Mittel zu diesem Zwek zu kommen, sind ihm alle zu langweilig.

Ich danke Ihnen für die Angenehme Nachrichten, die Sie mir gegeben nach dem Sie selbst sie von De Luc bekommen. Der König von England beweißt durch den Auftrag den er unserem Füßli hat thun laßen, daß er das charakteristische dieses außerordentlichen Genies würklich kenne. Es sind einige Jahre her, daß mir ein Freünd aus London schrieb, Füßli sey ein Mann der diesem Jahrhundert Ehre machen könnte. Für mich ist er völlig tod. Ich habe nie erfahren, ob er von einer kräfftigen Empfehlung an den Grafen Algarotti in Venedig, den Bruder des verstorbenen bel esprit, einen so großmüthigen, als reichen Mann, und einen brennenden Liebhaber der Künste, Gebrauch gemacht hat. Bald zweifle ich daran, da Füßli so sehr alles außer ihm verachtet.

Ich hatt Ihnen schon lange gesagt, daß ihr Gesicht viel Ähnlichkeit mit Voltairens habe; es ist so gewiß, daß mehrere ihr Portrait von Füßli, das bey mir hängt für Voltairens Portrait gehalten haben. Aber de Luc hat völlig recht, was er von dem Unterschied beyder Charaktere sagt, die aus der Bildung heraus leüchten.

Lavaters Apostolisch charlatanische Reise gehört unter die Kindereyen, deren man allmählig gewohnt werden muß. Und eben dahin rechne ich auch Klopstoks Republik. Mich verlangt zu erfahren, ob er nicht die Gnade des Marggrafen von Baden verachten wird. Noch möchte Lavaters Hochachtung für Göthe und Herder zu jenem gehören. Hartman hat mir erstern, deßen Genie ich nicht verkenne, als einen gar sehr excentrisch lauffenden Cometen beschrieben. Aber für Herders älteste Urkund ist Hartman so sehr eingenommen, daß er mir ansinnet diesen großen Man als Profeßor der Theologie nach Mitau zu bringen. Moses Mendelson, der ihn diesen Sommer in Pyrmont gesehen, hat an ihm nichts als einen franz. Abbé gefunden, der am Spiehltisch hinter den Stühlen der Damen den bel esprit macht. Das müßen tiefdenkende Damen seyn, die sich an dem courtoisiren eines solchen Mannes vergnügen können.

Ich kann Ihnen nicht dazu Glük wünschen, daß der Duc de Choiseul wieder an das Ruder kommt, wie wol ich Frankreich zu dem Falle des Maupou und des in den Augen der Welt schon lange fletrirten Ministers Glükwünsche. Ich wäre doch begierig zu wißen, wie Choiseul durch den Haß, den er gegen den König von Preüßen hat und durch die Freündschafft zwischen diesem König und dem Kayser und endlich seiner eigenen prædilection für das oestreichische Haus, sich durchwinden wird, um zwischen so entgegen gesezten Dingen à son aise zu seyn.

In Danzig ist izt alles in völliger Ruhe. Der König, der izt Herr von Oliva ist, hat den Hafen und die Zölle völlig in Besiz genommen, und auch ihrer Seits nehmen die Danziger ihre Gefälle davon, wie bis dahin, weil sie, sagen Sie, dem König von Pohlen, der einen Theil davon bekomt, nichts vergeben können, da er sie nicht manumittirt hat.

Sie sehen, mein Theürester, daß ich Wort halte und durch meine izige Schwazhaftigkeit meine ehemalige UnterlaßungsSünden büße.

Lavater hat bey einem HistorienMaler West in London einen ChristusKopf bestellt, für den er 40 oder gar 60 Gineen bezahlen wird. Was für unnüzer Aufwand und wie wenig Überlegung. Füßli hätte diesen Auftrag bekommen sollen.

Zu meiner großen Verwunderung sehe ich, daß die allgem. d. Bibliothec den Cymbelline mit ihrem Beyfall beehret. Ich hatte würklich schon geglaubt, daß dieses so hingeworffene Stük durch das allgemeine und gänzliche Stillschweigen aller unsrer Nouvelles verkündiger in ewige Vergeßenheit begraben sey.

Ich hätte doch noch immer Lust einen Versuch zu machen, ihren Adelbert von Gleichen ohne merklichen Zwang in ein Drama zuzwingen. Aber ich habe keine Abschrifft davon behalten.

Gern hätte ich Ihnen die Muße erspahrt die besten Artikel in dem zweyten theile der Theorie auszusuchen. Aber ich habe mir den Magen so sehr mit diesen Materien überladen, daß ich izt mich noch nicht entschließen kann, dieses Buch aufzuschlagen, und darin zu blättern, aus Furcht es möchte mich ein Ekel befallen.

Ich umarme Sie von ganzem Herzen.

JGSulzer

den 20 Sept. 74.

Der am Hiesigen Hof stehende Kayserliche Gesandte hat einen Aumonier bey sich, der ein Blaarer, am Züricher See gebürtig ist. Ein Man der mir diesen Sommer manchen Besuch gemacht hat. Ich zweifle sehr daran, daß Sie in der Schweiz viel solcher Cathol. Priester haben. Er hält sehr gute Freündschafft mit Sak, Spalding und Teller und hat leztern zu seinem Lehrmeister in der Hebraischen Sprach angenommen, darin er schon ziemlich stark seyn soll. Er ist ein guter Catholik ob gleich ein Feind der Mönche.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Stellenkommentar

ersten Theil seines großen Werks
J. Wegelin, Introduction, 1774.
Hartman klagt sehr über Theürung
Schreiben Hartmanns an Sulzer nicht ermittelt. Vgl. Hartmanns Brief an Bodmer vom 17. November 1774: »Noch ist unser Gymnasium nicht zu stande und wir können noch nicht so activ seyn, als wir gern wollten.« (ZB, Ms Bodmer 2a.4). Im gleichen Schreiben berichtet Hartmann, dass er eine »Preisschrift ausgearbeitet« habe, »welche« er in »wenigen Tagen an die Akademie in Berlin senden werde«.
mußte auf wiederholtes Anhalten dem Herzog vorstellen
Brief Sulzers an den Herzog von Kurland sowie dessen Antwortbrief nicht ermittelt.
contre vent et marée
Übers.: »gegen Wind und Flut«.
ein Jurnal anfangen
Titel nicht ermittelt. Durch Hartmanns frühen Tod wurden die Pläne nicht realisiert.
den Grafen Algarotti in Venedig
Bonomo Algarotti, der Bruder von Francesco Algarotti, dem Freund und Vertrauten Friedrichs II.
ihr Portrait von Füßli
Stich von Johann Jakob Haid nach Johann Caspar Füsslis Porträt Bodmers, das diesen in jüngeren Jahren zeigt. Vgl. Abb. 2 und Tafel 2.
Moses Mendelson, der ihn diesen Sommer in Pyrmont
Zur ersten persönlichen Begegnung zwischen Mendelssohn und Herder 1774 in Pyrmont siehe auch Herders Brief an Lavater vom August 1774, abgedr. in Düntzer und Herder (Hrsg.) Briefwechsel zwischen Herder und Lavater 1857, S. 111 f.
einen ChristusKopf bestellt
Woher Sulzer die Information hatte, konnte nicht ermittelt werden. In der Korrespondenz mit dem mit Lavater befreundeten Zimmermann, neben Bodmer der wichtigste Briefpartner für Sulzer in dieser Zeit, steht dazu nichts. Benjamin West schenkte die Darstellung, die Christus mit einem Knaben zeigt, 1777 Lavater, der sie in seine Physiognomischen Fragmente aufnahm. In neunten Abschnitt Apostel- und Christusgesichter findet sich die von Johann Heinrich Lips gestochene Reproduktion »Christus mit einem Kindlein nach West«. (J. C. Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. 4, 1778, S. 450 f.). Lavater schrieb dazu an Zimmermann am 27. Februar 1777: »West hat mir einen Christus mit einem zierlichen Kindlein, ein Kniestück in Lebensgröße zum Präsente gemacht.« (ZB, FA Lav Ms 587.25–94).
die allgem. d. Bibliothec den Cymbelline mit ihrem Beyfall
Die Rezension von Ehrenfried Engelbert Buschmann in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, Bd. 22, 1774, S. 511 f., beginnt mit den Worten »Kein mißgerathener Versuch!« Trotz einiger Kritikpunkte urteilte Buschmann positiv über Sulzers Stück.
Kayserliche Gesandte hat einen Aumonier
Der österreichische Gesandte war Gottfried van Swieten. Bei dem ihn begleitenden Feldprediger handelte es sich um Melchior Blarer von Schmerikon, der zwischen 1772 und 1777 Kaplan der österreichischen Gesandtschaft in Berlin war. Vgl. Blarer-Ziegler Melchior Blarer von Schmerikon 1992.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann