Brief vom 19. Februar 1754, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 19. Februar 1754

Werthester Herr und Freünd.

Ich könnte Ihnen bald das Compliment machen, das Boileau seinem König gemacht hat. Es wird Ihnen leichter Gedichte zu schreiben als mir Briefe, darin ich für die überschikten Gedichte danke. Wenn Sie meine Arbeitsamkeit, und meinen Fleiß und meine Muße nach den ihrigen Beurtheilen, so müßen Sie mich für einen Menschen halten, der gar nichts mehr thut, und der alle Lust zum Schreiben verlohren hat, da ich Ihnen in der That weniger Briefe schreibe, als Sie Gedichte schreiben und mir schiken und doch auch sonst nichts von meiner Arbeit vorweise.

Aber Sie werden wol bedenken, daß wenige Menschen in diesem Stük so glüklich sind, wie Sie. Ich habe eine Menge Verrichtungen, deren würkung sich nicht offentlich zeigen kann. Eine Menge Abhaltungen von der Arbeit, die man mir nicht zurechnet, und dann auch oft einen Mangel der Lust zur Arbeit, davon die Schuld nicht immer auf mich fällt. Darum Preise ich Sie sehr glüklich, daß Sie von allen diesen Hinternißen frey sind.

Sie sehen aus dieser Apologie, mein werther Freünd, daß ich mich, wenn ich mich neben Sie stelle, schämen würde, der welt so wenig zu dienen, der Sie so viel wolthaten erweisen, wenn mich nicht die Beschaffenheit meiner Umstände selber einigermaßen entschuldigte.

Den geprüften Abraham habe ich mit ausnehmendem Vergnügen gelesen, und dieses höre ich von allen denen ich dieses Werk zu lesen gegeben habe. Der Verfaßer ist würdig ihr Schüler und nachfolger zu seyn. Auch würdig eines guten Glüks in der welt zu genießen. Aus den Umständen, die Sie mir von ihm schreiben schließe ich, daß dieses noch ziemlich entfernt ist. Ich habe keine Hofnung von einer Braunschweigischen Stelle. Das ganze Werk fällt merklich, und ich weiß nicht, wie ein so eyfrig rechtschaffenes Gemüth lange die Gunst der Menschen behalten könnte, die ihm doch beständig dort nöthig wäre. Ich hätte noch mehr Hofnung, wenn er hieher käme. Unsre hiesigen Bedienungen sind alle solider als irgend anderswo, und wenn man sie einmal hat, so hängt man sellten von der Caprice anderer ab. Wenn er hier wäre, so könnte er, entweder auf eine Universitæt oder etwa an ein Gymnasium kommen. Außer dem sind noch so viele andere Gelegenheiten, daß schwerlich an einem Orte mehr seyn können. Aber alles würde von der Zeit abhangen. Ich würde mir ein Vergnügen daraus machen ihn bey mir zu haben, und ihn der Sorge der Nahrung zu überheben. Wenn sich eine Gelegenheit zeigen sollte ihn zu versorgen, und er ist nicht hier, so entgeht sie nothwendig. Ist er hier, so kann sie sich leicht zeigen. Ich überlaße Ihnen ihm dieses alles zu sagen; denn ich schreibe ihm nur in allgemeinen ausdrüken hierüber.

Ich habe in den lezten Ferien eine kleine Schrifft gemacht, darin der Philosophische und Moralische Wehrt ihrer Gedichte gezeiget wird. Es fehlt nur noch, daß ich die Exempel, die ich aus dem Gedächtniß angeführt in den Gedichten aufgesucht und an ihren Stellen eingeschaltet werden, so wäre diese Schrifft zum druk fertig. Vielleicht finde ich dazu gehörige Muße bald. Ich begebe mich in dieser Schrifft aller Ansprach auf das Kunstrichter Amt und spreche blos als ein Philosoph und Mensch, und darin wird sie sich von Hr. Wielands Abhandlung merklich unterscheiden.

Ein hiesiger junger dichter, Leßing, hat den armen Langen wegen seiner ungeschikten Übersezung des Horaz und der noch ungeschiktern Vertheydigung derselben elend herumgeholt. Er hat auch zwey Bändchen seiner Schrifften druken laßen, die ich Ihnen mit der Meßgelegenheit schiken werde. Sie werden dann selbst beurtheilen wie viel oder wenig von diesem angehenden Dichter zu hoffen ist. Er ist Zeitungsschreiber, bey einem hiesigen Buchführer.

Der Bauzner Nauman, der nun hier ist, hat sich einfallen laßen, sich an Ihnen zu rächen. Er hat in einer Wochenschrifft seinen lächerlichen Zorn im Vorbey gang merken laßen. Ich werde dieses den Leßingischen Schrifften beylegen.

Die Vorige Woche ist Gleim hier gewesen. Ich habe ihn, wegen seiner Dohmgeschäfte nur zweymal gesehen. Er hat mir aufgetragen Sie seiner Ergebenheit zu versichern. Ich habe gar nichts von Poetischen Angelegenheiten mit ihm sprechen können.

In Frankreich wird ein Journal Etranger herauskommen, darin die guten Schrifften der ausländer getreülich sollen übersezt werden. Dem Vernehmen nach rüstet sich Gottsch. schon seine und seinesgleichen Gedichte häuffig einzusenden. Das wird eine Trefliche Würkung bey den Franzosen thun. Sie sollten dem Hrn. Werdmüller auftragen, daß er mit guten Sachen den fleißigen und ämsigen Stüm XXX

Ich bitte Sie ihre Hofnung wegen des Hrn. E. nicht zu groß werden zu laßen. Denn noch kann ich nichts von ihm versprechen. Er hat in der That kein böses Herz und ein gutes Naturell; aber er ist durch seine Erziehung gewaltig verdorben worden. Er möchte gern was rechtschaffenes Lernen, aber es finden sich dabey zwey allzuschwere Hinterniße. Er ist so gar keiner Arbeit gewohnt, daß er eher einen recht Peinlichen Müßiggang, als die Beschäftigung vertragen kann. Er hat sich schon ofte vorgenommen, und mir schon ofte versprochen, sich mit einigem Fleiß auf gewiße Sachen zulegen, aber er hat es noch niemal halten können. Daher sucht er sich soviel als möglich ist mit Besuchen und Gesellschaften, auch selbst mit solchen, die ihm eine Last sind die Zeit zu vertreiben.

Außer dieser mächtigen Hinterniß ist noch diese zweyte, daß er sich aus Mißtrauen, oder Misantropie, oder was es sonst für eine Ursache haben mag, weder mit mir noch mit seinem Mentor niemalen in Gespräche über ernsthafte Sachen einläßt. Vielleicht geschiehet es aus Stolz seine Schwäche nicht zu verrathen. Ich habe es gar oft versucht mich mit ihm einzulaßen, aber er findet immer einen weg mir auszuweichen und auf ganz gleichgültige dinge zu kommen. Bisweilen schreibt er für sich, aber so bald jemand in sein Zimmer kommt, verbirgt er seine Arbeit. Dieses thut er noch mehr gegen seinen Hofmeister, als gegen mir. Ich habe Schaftesbürys Untersuchung über die Tugend recht praktisch und Lehrreich mit ihm abgehandelt. Er ist immer aufmerksam gewesen. Aber ich weiß nicht, ob er sich so viel wichtige Wahrheiten, die ich ihm gesagt zu Nuze gemacht hat. Ich habe ihm den Joseph und einen Theil des geprüften Abrahams vorgelesen und lege ihm diese Sachen immer unter die Hand, aber er laßt sie liegen. Dieses alles sage ich Ihnen zu meiner vorläuftigen Entschuligung, damit Sie nicht denken, daß ich etwas versäume. Ich hoffe nicht viel.

Adieu mein werther Freünd. Meine Willhelmine empfiehlt sich Ihnen.

Sulzer.

den 19 Febr.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – E: Körte 1804, S. 224–228.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers auf der letzten Seite: »Tacenda hæc«.

Eigenhändige Korrekturen

Stolz seine Schwäche
Stolz seine Blo Schwäche

Stellenkommentar

Boileau seinem König
Nicolas Boileau schrieb 1675 eine zweite Épître au Roi, die er dem König persönlich vorlas und in der er die erfolgreichen Feldzüge Ludwigs XIV. während des Holländischen Krieges besang. Sie wurde 1676 gedruckt und zugleich von Boileau aktualisiert, indem er die Namen der letzten Siegesorte im April und Mai 1676 (Condé und Bouchain) hinzufügte. Unter dem Eingangsvers »Grand Roi, cesse de vaincre, ou je cesse d'écrire.« (»Großer König, höre auf zu siegen, oder ich muss aufhören zu schreiben.«) komplimentiert Boileau seinen König dahingehend, dass viele Jahre nicht hinreichen werden, um seine großen Taten gebührend lobzusingen: »Souvent ce qu'un seul jour Te voit exécuter,/ Nous laisse pour un an d'actions à conter.« (Boileau-Despréaux, Oeuvres, Bd. 1, 1718, S. 225–229, hier S. 226. Übers.: »Oft gibt uns das, was ein einzelner Tag Dich ausführen sieht, für ein ganzes Jahr an Taten zu erzählen.«)
ich schreibe ihm nur
Nicht ermittelt.
eine kleine Schrifft
Zu Sulzers Gedanken von dem vorzüglichen Werthe der epischen Gedichte des Herrn Bodmer vgl. SGS, Bd. 7. Johannes Leo vermutet in seiner Studie zur Entstehungsgeschichte von Sulzers AT, dass es sich bei der Schrift um eine erweiterte Fassung des Briefes handelt, den Sulzer ursprünglich in den Critischen Nachrichten unterbringen wollte, der dann aber von Ramler unterdrückt worden war (Leo Sulzer und die Entstehung seiner Allgemeinen Theorie 1907, S. 28). Tatsächlich liegt diese Vermutung nahe (vgl. Brief letter-sb-1751-02-27.html).
wegen seiner ungeschikten Übersezung
G. E. Lessing, Ein Vade Mecum für den Herrn Sam. Gotth. Lange, 1754. Vgl. auch Sulzer an Martin Künzli, 1. März 1754: »Der junge Leßing ist mir von Person nicht bekannt. Er ist hier Zeitungsschreiber bey einem Buchführer. Aus seiner gar groben Critik gegen Lange (worin er jedoch in der Hauptsache recht hat) sehe ich daß er noch einige Jahre zurüklegen muß, ehe er solide wird.« (SWB, Ms BRH 512/72).
zwey Bändchen seiner Schrifften
G. E. Leßings Schrifften erschienen zwischen 1753 und 1755 in insgesamt sechs Bänden bei Christian Friedrich Voß.
hiesigen Buchführer
Christian Friedrich Voß, der die Berlinischen Nachrichten herausgab und Lessing die Redaktion der Beilage Das Neueste aus dem Reich des Witzes übertragen hatte.
in einer Wochenschrifft
Die von Christian Nicolaus Naumann herausgebene sittliche Wochenschrift Der Vernünftler, 15. Februar 1754, St. 5.
ein Journal Etranger
Vgl. zum Journal Étranger: Gärtner Das Journal étranger und seine Bedeutung für die Verbreitung deutscher Literatur in Frankreich 1907, S. 9–17.
ämsigen Stüm
Blatt bricht hier ab.
Hrn. E.
Johannes Escher vom Glas. Vgl. Brief letter-sb-1753-09-23.html.
Entschuligung
Verschreibung Sulzers, gemeint ist »Entschuldigung«.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann