Brief vom 15. Juni 1754, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 15. Juni 1754

Werthester Herr und Freünd.

Ich habe Ihnen schon viel Vergnügende Nachrichten von mir und meinem Haus gegeben, und Sie haben Freündes Antheil daran genommen. Diesmal muß ich Ihnen auch meine Trauer mittheilen. Eine Betrübniß, die Sie selbst so stark erfahren haben. Meliße ist nicht mehr. Der Tod hat uns dieses werthe, dieses Hoffnungs volle, zärtliche und eines immerwährenden Andenkens würdige Kind entrißen; Mit ihm ist der größte Theil meiner Freüden und meiner Hoffnungen entflohen, und vielleicht ein Theil von meinem und meiner Wilhelmine Leben! Ich fühle wie tief, wie hungrig der Schmerz an meinem Leben nagt, und ich wünschte, daß es ihm gelünge die Wurzel des Lebens in mir anzugreiffen. O! wie sehr beklagen wir Sie seit diesem Verlust, da Sie ehedem solchen Schmerz gefühlt und vielleicht noch fühlen! Wir haben zwahr Hoffnung zu mehrern Kindern, aber ein solches wird uns schwerlich zum zweyten male zutheil werden. Solche Zärtlichkeit, solche Leütseligkeit, solche vergnügte Gemüthsfaßung, solche sichtbare Übereinstimmung mit unsern wünschen, dürfen wir nicht mehr hoffen. Nein, Meliße wird mir nicht mehr ersezt, und das einzige, was von meinen Hofnungen übrig bleibt, ist, daß nun mehr ein Himlischer zärtlicher und erleüchteterer Freünd Melißens ihre Erziehung fortsezet. O was für ein allerliebstes Kind haben wir verlohren!

Die Betäubung des noch neüen Schmerzens benihmt mir den Muth Ihnen so ausführlich zuschreiben, als ichs mir vorgenommen, da ich mir mit der unzeitigen Hoffnung schmeichelte, ich würde Ihnen in diesem Briefe die freüdige Nachricht geben, daß Meliße den mördrischen Poken glüklich entgangen wäre. Ich habe ihre neüen Geschenke empfangen und wie alle vorigen mit innigstem Vergnügen gelesen. Der Hr. v. Kleist grüßet Sie zärtlich und läßt Ihnen gewiß Gerechtigkeit wiederfahren. Meiner Abhandlung über den Noah fehlt nichts mehr, als die Einschaltung der angeführten Stellen, die ich nicht aus dem Gedächtniß ausschreiben konnte. Ich schäme mich, daß ich so lange mit gezaudert habe.

So bald mein Gemüth sich wieder faßen kann soll dieses meine erste Arbeit seyn. Hr. Schultheß hat mir Melmouths Briefe nicht geschikt. Sagen Sie doch Hrn. Geßner, daß ich ihm für den Daphnis sehr verbunden bin. Ich kann weiter nichts hinzuthun. Behalten Sie uns und die gute Meliße, dieses Liebens würdige Kind in gutem Andenken. Ich grüße Hrn. Wieland von Herzen und verbleibe

Ihr ergebenster Dr.
Sulzer

den 15 Jun. 54

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – E: Körte 1804, S. 211–213 (Auszug).

Anschrift

An Herrn Profeßor Bodmer in Zürich.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers auf der Umschlagseite: »memento eorumque & Melisse inserta sunt in poemata de Lilitha.« – Siegelausriss. – Siegelreste.

Meliße ist nicht mehr
Sulzers 1752 geborene Tochter Henriette Wilhelmina war am 11. April 1754 gestorben.
solchen Schmerz gefühlt
Die Kinder von Bodmer und seiner Frau Esther, mit der er seit 1727 verheiratet war, starben alle kurz nach der Geburt. Sein einziger Sohn Hans Jacob starb 1735 im Alter von sieben Jahren. Bodmer litt sehr darunter und reflektiert diesen Verlust häufiger in seinen Briefen und Schriften. Vgl. auch Bodmers handschriftliche Notizen über Geburt und Tod seiner Kinder in der ZB (Ms Bodmer 38.36).

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann