Brief vom 23. September 1753, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 23. September 1753

Werthester Herr und Freünd.

Heüte habe ich unsern Lieben Freünd, der 5 wochen bey mir gewesen ist, wieder von mir gelaßen. Ich weiß nicht ob ich mir jemals ein solches Glük wieder wünschen soll; es ist gar zu hart, ein solches gut wieder fahren zu laßen. Ich habe alle meine Kräffte in dem Vorsaz zusamen geruffen, um ihn gelaßen von mir reisen zu sehen. Aber in dem Augenblik, da ich ihn zum lezten mal umarmte, schien meine Seele in dieseinige zu fließen, und schien zu zerreißen, da ich ihn wieder aus meinen Armen weglaßen mußte. Ich werde lange Zeit nöthig haben, mich einer solchen Glükseeligkeit zu entwöhnen, wie die war, die ich in seiner Gegenwart genoß. Mich dünkt jezo, daß ich keinen stärkern Wunsch thun könnte, als mit meinen Freünden bald zu sterben um sie dazusehen, wo man sich nicht mehr von einander entfernen muß, und niemalen habe ich mir die Glükseeligkeit eines künfftigen Lebens so lebhafft vorstellen können, als jezo, da ich denke, ich werde dort meine Freünde, Künzli, Bodmer, Waser wieder sehen können.

Ich überlaße unserm Freünd, Ihnen zu sagen, wie wir hier die Zeit zugebracht, und wie wenig Sie aus unsrer Gesellschafft gekommen sind. Wir haben den Noah noch einmal mit einander gelesen, bewundert und einige Fleken darin getadelt. Sie werden das beschriebene Exemplar zum Zeitvertreib durch ihn bekommen.

Ihr werthes Schreiben vom vorigen Monat, nebst denen, darauf es sich bezieht habe ich wol erhalten. Ich bin Ihnen außerordentlichen dank Schuldig, daß Sie mich noch so gütig ertragen, da ich so nachläßig bin. Aber ich habe mir stark vorgenommen mich zu beßern. Die neüen Gedichte, davon Sie in ihrem leztern uns Nachricht gegeben haben, sind noch nicht angekommen. Ich sehe Ihnen mit dem Verlangen eines Verliebten entgegen. Hr. Wielands Anmerkungen über den Noah, haben mir größten theils sehr wol gefallen. Doch hätte ich gewünscht, daß es weniger Zufälligen Anmerkungen gleichte. Ich hätte lieber allgemeine Abhandlungen über die Schönheiten dieses Gedichts gesehen, als beyläuftige Anmerkungen. So viel ich merke, wird dieses Werk unsere deütschen jungen Dichter wenig rühren. Sie werden des als eine Vertheidigung ansehen, wozu ihre Minen und ihr Stillschweigen den Anlas gegeben, und werden wol gar daraus schließen wollen, man halte ihren stummen Tadel für wichtig. Ich habe mir vorgenommen, etwa in einer Recension der Columbona, mein Herz gegen die deütschen auszuschütten und ihnen ihre unempfindlichkeit nachdrüklich vorzurüken. Sie werden aber leicht von selbst urtheilen mein werthester Freünd, daß ich hier nicht von allen spreche; denn einige hiesige Kenner, die ich schon vorher weit höher geschäzt, als einen ganzen Chor leichter Dichter, haben meine Erwartung, in ihrem Urtheil über den Noah nicht betrogen. Aber mich dünkts ein geringes. Indem ich vermuthet hatte, daß eine so außerordentliche Erscheinung von ganz andrer Würkung hätte seyn müßen.

Es sollte mir sehr schmeichlen, wenn meine Theorie des Sentimens agréables Ihnen gefallen hätte. Wie viel solche Abhandlungen müßte ich nicht noch schreiben, ehe ich Ihnen so viel Vergnügen gemacht, als mir ein einzig Buch im Noah gemacht hat.

Ich bin immer in der Einbildung gewesen, daß ich Ihnen ein paar Exemplare von den Muraltischen Fabeln geschikt habe, und bin noch zweifelhafft, da ich von 6 Exemplaren die ich hatte nur noch zwey angetroffen, die ich Hr. Künzli mit gegeben habe.

Schreiben Sie mir doch etwas umständlich von Hr. Wielands Absichten, wenn er von Ihnen gehen wird, und ob er sich entschließen könnte hieher zu kommen, oder gar hier einen beständigen Siz zu suchen. In diesem Fall, sollte ihm mein Haus dienen, die Gelegenheit abzuwarten. Ich erwarte, daß Sie mir in ihrem nächsten hierüber schreiben.

Leben Sie wol, mein werthester und genießen Sie jezo des Freündes, der mir und meiner Willhelmine entrißen ist und deßen Abschied uns lange, lange schweer auf dem Herzen liegen wird. Die kleine Meliße kennt ihr Bild schon und kan Ihren Nahmen nennen. Bald wird sie ihn mit Ehrfurcht aussprechen. Ich empfehle meine werthen, ihrer Freündschafft, und grüße Hrn. Wiel. von Herzen. Hr. K. wird Ihnen ein Zeüge seyn, daß das alte Mst. von Noah nicht mehr existirt. Ich bin mit Zärtlichkeit

Ihr ergebenster
Sulzer.

den 23 Sept. 53.

Hr. Ramler hat mir sein Schachspiel gebracht. Dies seltsame Gedicht bestätiget mich vollends in der Meinung, daß er klein denkt. Ahitophels Weißheit ist zur Narrheit worden. Schade für die schönen Farben, auf ein so schlecht erfundenes Gemählde. Ich sagte ihm, noch ehe ichs gelesen, er würde sich vermuthlich den Lokenraub zu Nuze gemacht haben. Hm, sagte er, es ist eben nicht das beste von dieser Art.

P. S. Jezo habe ich den Schaz von neüen Gedichten bekommen, den Sie die Gütigkeit gehabt haben mir zu schiken. Ich habe schon so vielmal Gelegenheit gehabt, Ihnen für solche Geschenke zu danken, daß ich mich bald schäme, immer dieselbe Redensart wieder zu brauchen. Ich habe noch keines von ihren neüen Gedichten Lesen können und ich werde Mühe haben, einem den Vorzug in der Zeit zu geben, da ich alle auf einmal verschlingen möchte. Jezo dünkts mich ein falscher Gedanke, wenn Sie im Noah sagen: die Wahl war nicht schwer, wo es keiner an .. Liebreiz fehlte. Mich dünkt izt, daß eben deßwegen, die Wahl schweer werden muß. Ich werde mich vermuthlich zu erst an die Colombona machen.

Hr. Gleim schreibt mir, er werde bald mit Hr. Wieland causam communem gegen die Lustigen Dichter machen. Weil er aber eben an einer neüern Ausgabe seiner leztern Lieder denkt, so kann ich mich noch nicht bereden, daß es sein Ernst sey. Er will es nicht gerne mit einer Parthey verderben.

Ich habe den Jungen Hrn. Escher, ihren Nachbar, nebst seinem Hofmeister bey mir im Hause, und er wird mich hintern, den Winter so ruhig zuzubringen, als ich mir vorgesezt hatte.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – E: Körte 1804, S. 200–204 (Auszug).

Stellenkommentar

unsern Lieben Freünd
Martin Künzli.
Recension der Columbona
Nicht ermittelt.
Ahitophels
Im Alten Testament ein weiser Mann, dessen Rat mit dem Rat Gottes verglichen wurde (2 Sam 16, 23).
Gleim schreibt mir
Nicht ermittelt.
Jungen Hrn. Escher, ihren Nachbar
Johannes Escher vom Glas (1734–1784). Nach dem frühen Tod seines gleichnamigen Vaters im Jahr 1734 heiratete seine Mutter Anna Gossweiler Hans Jakob Ott, gen. »in der Schipfe«.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann