Brief vom 20. Mai 1745, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Leipzig
Datum: 20. Mai 1745

Leipzig den 20 May 45.

Hochedler, Hochgelahrter,
insonders Hochgeehrter Herr.

Dero geehrtes vom 15 Febr. mit dem beygelegten Paket, wie auch das andre vom habe wol erhalten, und die Einschlüße richtig an ihre Örter bestellt. Ich bin E Hochedl. sehr verpflichtet, so wol vor den 1 Theil der vortrefflichen Ausgabe von Opizens Gedichten, als auch vor die übrige Schrifften, welche mir durch dero besondre Gütigkeit sind zugeschikt worden. Verschiedene von meinen bekannten, insonderheit Hr. M. Lange und Hr. Gleim haben sich sehr nach Opizen gesehnet, ich glaube, daß er ihre Erwartung vollkommen erfüllen wird.

E Hochedl. werden aus den zwey Schreiben von Hr. Lange und aus den überschikten Gedichten schon etwas von seinem Charakter erkennt haben. Ich erfahre je länger je mehr, daß Hr. Lange ein Mann ist von dem man sehr viel zu hoffen hat. Er besizt viel Geschiklichkeit und hat einen tapfern Muth dem schlimmen Geschmak zu wiederstehen auch eine große Begierde den guten Geschmak zu befördern. Er hat mich gar sehr gebeten, ich möchte von E Hochedl. wie auch von dem Hrn. Prof. Breitinger ein unpartheysches strenges Urtheil über seine Arbeiten zuerhalten trachten, um welches ich also E Hochedl. inständig will gebeten haben. Ich glaube wol, daß E Hochedl. seine Poesien überhaupt Dero Beyfalls würdigen werden; indeßen kann ich Ihnen mit Gewißheit versichern, daß ihr Tadel dem Hrn. Langen eben so lieb, als das Lob seyn wird. Er hat zu Herausgebung einer neüen Monat Schrifft alle Anstallten gemacht, und so wol Verleger als gute Mitarbeiter gefunden, daß also nächstens etwas herauskommen könnte. Er hoffet, daß die Schweiz das ihrige auch beytragen werde. Ich übersende hier E Hochedl. einen Anfang von einem Helden Gedicht von Hn Langen. Er bittet E Hochedl. denselben zu untersuchen und ihm anzuzeigen, ob es rathsam wäre in dem Gedicht fortzufahren. Er wird sich lediglich nach dero ausspruch richten. Ich habe neben diesem eine ziemliche Anzal Gedichte von ihm, die ich E Hochedl. gerne schiken würde wenn die Zeit mir erlaubte sie abzuschreiben.

Hr. Gleim schikt E Hochedl. den 2 Theil seiner Lieder samt einem Schäffer Spiel. Er hat mir ohngefehr vor 10 Tagen aus Oranienbaum geschrieben, wo er sich um die Secretar. Stelle bey dem alten Fürsten von Deßow bewirbet. Hr. Lange hat ihm verschiedene Stüke von seinen Liedern getadelt, und vermeint es wäre in denselben nicht genug Poesie. Er wird sich diesen Tadel zu Nuze machen. Zwey Freünde von Gleim, Hr. v. Kleist und Nauman, schreiben auch sehr schöne poetische Stüke, und werden das ihrige zur vollkommenheit der Neüen Monatschrifft beytragen. Der Hr. Prof. Gottschede fällt ein vortreffliches Urtheil von dem neüen Opiz der in Zürich herauskömmt. Der Druk würde ihm wolgefallen, wenn nur nicht so viel unnöthige Anmerkungen wären, die das Werk größer und theürer machen, und wenn nur nicht so viel Raum zwischen dem Text und den Anmerkungen wäre, der das Buch ohne Nuzen vergrößert. Ma foi cela est digne de Gottsched. Gestern war ich in der Schönemanischen Tragedie, wo die Iphigenie gespielt wurde. Ich verwunderte mich sehr, als ich mitten in der Handlung den Kopf des Hr. Prof. Gottschedes hinter den Wänden des Theatri hervor guken sah. Er hat sich wollen verborgen halten und dennoch konnte er nicht über das Herze bringen, daß er nicht die Contenance der Zuseher sehen sollte. Ich weiß nicht wer das Stük gemacht hat, aber überhaupt kann ich sagen, daß es mir sehr schlecht vorgekommen. Z. E. Agamemnon hatte einen recht abgeschmakten Character darin. Man sieht wol zu Zeiten, daß sich seine Vaterliebe grämet, daß Iphig. soll geopfert werden, aber man weiß nicht gewiß, was ihn zu diesem desperaten Entschluß zwingt. Die Liebe vor das allgemeine beste, oder die Herschsucht, welche die Ursache könnte gewesen seyn kömmt nicht oder sehr schlecht vor, und da Achilles ihn will von seinem Vorhaben abhalten, so determinirt er sich erst recht, daß er um dem Achilles s. Willen zu brechen seine Tochter opfern will. Die übrigen Characters, Iphigenia und zum Theil Achilles ausgenommen waren nicht beßer, Menelaus, der mit Agamemnon eine schöne hätte ausmachen können, blieb ganz weg. Es ist auch seiner mit keinem Wort gedacht worden. Neben diesem waren die Acteurs so schlecht, daß die Zuschauer anstatt zu weinen einmal über das andre lachten. Die Neüberische schauspiele haben mir ungleich beßer gefallen, es sind auf demselben verschiedene vortreffliche Acteurs, deßen ungeachtet, hat das Neüberische Schauspiel nicht halb so viel Zulauff als das andre.

Beyliegende Schrifft, das Tintenfäßl. wird E Hochedl. eine neüe Probe seyn, was vor unsinnige Kopfe es hier zu Lande giebt. Sie ist in Halle bey Hemerde herausgekommen, ich habe aber den Verfaßer nicht erfahren können.

Ich war anfangs willens E Hochedl. noch über verschiedene Dinge zuschreiben, allein die beständige Unruhe u. Unordnung in welcher ich hier lebe hat mir die Gedanken so auseinandergetrieben, daß ich sie nicht wieder sammeln kann. Noch eines fällt mir bey. Ich habe Hr. Langen von einem Projekt gesagt, daß ich ausführen wollte, wenn ich die Zeit und nöthige Geschiklichkeit dazu hätte, es besteht in einer critischen Untersuchung von dem Anfange und Fortgange der Poetischen Streitigkeiten mit den Gottschedianern und der Art wie dieselbe von beyden Seiten geführt worden. Hr. Lange, will dieses Projekt selber ausführen. Es wäre gut wenn E Hochedl. sich gefallen ließen einen Grundriß davon zu machen.

Hrn. Hallers Beförderung habe mit Freüden vernommen. Ich bin,

E Hochedl. gehors. Dr. Sulzer.

Bitte an Hr. Pr. Breitinger meine gehors. Empfehlung.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a. – E: Körte 1804, S. 340–344.

Anschrift

Herrn Bodmer, Mitglied des großen Raths und Profeßor p in Zürich

Einschluss und mit gleicher Sendung

[J. J. Schwabe, J. C. Schwarz], Volleingeschanktes Tintenfäßl. – S. G. Lange, Heldengedicht auf Moses (Manuskript). – [J. W. L. Gleim], Versuch in Scherzhaften Liedern, Zweyter Theil. – [Ders.], Der blöde Schäfer.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers am unteren linken Rand der ersten Seite: »memento ut ei de landoltum commende«. (Übers.: »Erinnere dich, dass du ihm Landolt empfiehlst.«)

Eigenhändige Korrekturen

aus Oranienbaum geschrieben
aus Oranienbaum zum l geschrieben
die Zuschauer
die Leü Zuschauer

Stellenkommentar

andre vom habe wol erhalten
Datumsangabe fehlt. Vgl. Brief letter-bs-1745-04-16.html.
zwey Schreiben
Vgl. Samuel Gotthold Langes Briefe vom 12. und 31. Januar 1745 mit den mitgesandten Gedichten Pyras Tempel der Dichtkunst und Huldigung unseres Königs. In dem Brief vom 12. Januar findet sich auch Langes Gedicht Auf die Herren Bodmer und Breytinger. In einem wenige Tage nach Sulzers Schreiben entstandenen Brief vom 25. Mai 1745 fügte Lange wiederum die eigenen Gedichtentwürfe Versuch eines Heldengesangs und Das Gespenst (ZB, Ms Bodmer 4.2) bei.
Herausgebung einer neüen Monat Schrifft
S. G. Lange, G. F. Meier, Der Gesellige. Eine moralische Wochenschrift, 1748–1750.
einen Anfang von einem Helden Gedicht
Langes Heldengedicht auf Moses, ein unvollendet gebliebenes Versepos aus dem Jahr 1745. Vgl. dazu D. Martin, Das deutsche Versepos, 1993, S. 392 f. Siehe auch Langes Brief an Bodmer vom 26. Mai 1745: »Einen Versuch eines HeldenGedichts wird Herr Sultzer schon übermachet haben.« (ZB, Ms Bodmer 4.2).
aus Oranienbaum geschrieben
Nicht ermittelt. Vgl. den zeitgleich entstandenen Brief Gleims an Karl Wilhelm Ramler vom 12. Mai 1745 (Schüddekopf (Hrsg.) Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler 1906, Bd. 1, S. 2).
Freünde von Gleim
Ewald Christian von Kleist und Siegismund Benedictus Naumann. Lange kündigte Kleist in einem Brief an Bodmer vom 14. April 1746 als einen »neuen Helden« im »Reich des guten Geschmacks« an, der den Zürchern »bald näher soll bekannt werden«. Der 1715 in Hinterpommern geborene Kleist stand seit 1740 als Leutnant, später als Kompaniechef und Major in Diensten der preußischen Armee. Seine dichterische Begabung wurde durch Gleim, den er 1743 kennenlernte, entdeckt und gefördert. Von seinen zahlreichen idyllisch-elegischen Dichtungen gilt Der Frühling als Hauptwerk, das in mehrere Sprachen übersetzt und ein Welterfolg wurde. Vgl. Begemann Ewald Christian von Kleist 1990. Sulzer lernte Kleist persönlich erst über Hans Caspar Hirzel (vgl. zu ihm Kommentar zu Brief letter-bs-1747-09-12.html) im Jahr 1747 in Potsdam kennen. An Hirzel schrieb Sulzer am 3. März 1747: »Sie vermehren meine Lust diesen vortrefflichen Mann persönlich kennenzulernen. Ich hoffe daß er künftigen Sommer sich schiken wird eine Reise über Potsdam nach Berlin zu thun. Alsdenn werde ich Sie und den Hrn. v. Kleist aufsuchen.« (ZB, Fa Hirzel 237). Auch Kleist war nach dem Zusammentreffen sehr angetan von Sulzer und schrieb an Gleim: »Sie haben nicht zu besorgen, daß ich das für übertrieben halte, was Sie mir immer von Herrn Sulzern gesagt haben. Ich muß Ihnen insgeheim entdecken, daß ich ordentlich in ihn verliebt bin, und daß ich ihn gleich heirathen möchte, wenn er ein Frauenzimmer wäre.« (Sauer (Hrsg.) Briefe von Kleist 1880, S. 85).
Urtheil von dem neüen Opiz
Gottscheds annoncierte Rezension von Bodmers und Breitingers Opitz-Ausgabe wurde nie geschrieben. Vgl. Ball Moralische Küsse 2000, S. 234.
Ma foi cela est digne de Gottsched.
Übers.: »Meinetwegen, es ist Gottscheds würdig.«
Schönemanischen Tragedie
Schauspielgesellschaft von Johann Friedrich Schönemann, der gemeinsam mit Gottsched für die Schaubühne arbeitete und abwechselnd Vorstellungen in Leipzig, Berlin und Dresden gab. Zu Schönemanns Truppe gehörten zeitweilig auch die Schauspieler Conrad Ekhof und Heinrich Gottfried Koch, mit dem Sulzer später in Berlin zusammentraf. Vgl. dazu Brief letter-sb-1771-10-06.html. Zu Schönemann und Gottsched vgl. Danzel (Hrsg.) Gottsched und seine Zeit 1848, S. 158–163.
Ich weiß nicht wer das Stük
Nicht klar, ob sich Sulzer hier bezieht auf J. C. Gottsched, Des Herrn Racine Trauerspiel Iphigenia, 1734, oder J. E. Schlegel, Die Geschwister in Taurien, 1737, das 1745 in der Neufassung als Orest und Pylades aufgeführt wurde. Vgl. Wolff Johann Elias Schlegel 1892, S. 10–13.
das Tintenfäßl.
[J. J. Schwabe und J. C. Schwarz], Volleingeschancktes Tintenfäßl, eines allezeit parat seyenden Brieff Secretary, Kufstein 1745. Die unter dem fiktiven Verfassernamen Vitus Blauröckelius und dem fiktiven Verlagsort Kufstein erschienene Satire richtete sich gegen Haller und Bodmer. Die Verfasserschaft teilten sich vermutlich Schwabe und Johann Christoph Schwarz, obwohl Bodmer allein Schwabe in Verdacht hatte.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann