Brief vom 6. Oktober 1771, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 6. Oktober 1771

Mein theürester Freünd.

Mein neveu, der nun wieder in sein Vaterland zurüke reiset, wird Ihnen ein Exempl. von dem ersten Theil meines Werks mitbringen und zugleich die fehlenden Bogen, zu dem, was ich Ihnen im Frühjahr geschikt habe, damit Sie auch dieses Exempl. vollständig haben und jemanden geben können. Ich wünsche, daß auch das, was Sie noch nicht gesehen, ihren Beyfall habe. Denn in Wahrheit dieser ist mir schäzbarer und eine stärkere Aufmunterung, als der lauteste Beyfall unsers fast nie selbst denkenden Publicum. Ich habe die Vorrede etwas eilfertig geschrieben und hatte noch verschiedenes auf dem Herzen, wofür ich den rechten Ausdruk in der Eil nicht fand. Nun bin ich doch begierig zu sehen, was für Würkung dieses Werk haben werde. Wann ich gesund bleibe, so hoffe ich den zweyten Theil binnen Jahresfrist zu vollenden.

Überhaupt scheinet mir doch unser Publicum noch nicht Kenntnis, Beurtheilung noch Geschmak genug zu haben, die schönen Künste recht zu beurtheilen; und ich muß befürchten, daß man mich an vielen Stellen entweder gar nicht, oder ganz unrecht verstehen werde. Das Kochische Theater giebt mir täglich Gelegenheit zu bemerken, wie gar schwach und schwankend selbst der verständigere Theil des Publicum, urtheilet. Man klatschet mit den Händen, wo ich den Kopf schüttele, und wenn ich meinen Beyfall durch Klatschen geben würde, so wär ich beynahe allemal der einzige. Es ist wahr, daß die Kochische Truppe mit Beyfall spielt, und verschiedene Acteurs verdienen ihn. Hätten wir izt gute Dichter, so würden wir eine gute Schaubühne haben. Aber die meisten Stüke sind dann doch gar schwach. Das beste, was sie haben kommt aus Wien. Es sind einige ganz artige Stüke, die aber nicht über das mittelmäßige heraufsteigen. Die Weisischen Stüke finden denn doch hier wenig Beyfall, und man sagt hier, was man in Leipzig nicht höret, das Weiße nicht hätte sollen für die Schaubühne arbeiten. Wenn ich Zeit hätte, so würde ich mich in dieses Feld einlaßen, wo ich ohne Müh, verschiedenes, verbeßern wollte. Schon habe ich einen Versuch gemacht, diesen guten Leüthen zu gefallen ein Stük (den Deserteur des Mercier) nach meiner Art zu ändern, und die Acteurs versichern mich, daß ihnen noch nichts so leicht worden auswendig zu lernen, weil es ihnen noch nie geschienen hat, daß das, was ich sie sagen laße, gerade das ist, was man in den Umständen sagen müßte. Aber dieses mein liebster Freünd sey nur Ihnen gesagt.

Der Dr. Zimmerman ist glüklich von seinem schweeren Zufall geheilet und geht nun schon wieder aus. Seit drey Monaten haben wir manche sehr vergnügte Stunde miteinander zugebracht. Wenn er länger hier wäre, so würde er noch festern Muth bekommen, seine Feder gegen Thorheit und Dumheit zu schärffen. Denn ich merke doch, daß er bisweilen etwas muß angestoßen werden, um alles völlig frey herauszusagen. Er hat nicht ohne merklichen Kummer die Stelle ihres lezten Briefes lesen gehört, da Sie von Lavater sprechen. Der gute Man scheinet doch völlig unheilbar und verlohren zu seyn.

Die Theürung, die sie drükt, fänget auch hier an fürchterlich zu werden. Gegenwärtig übersteiget der Preis des Getreides seine gewöhnliche Höhe 3 12 mal, weil wir mit 3 Rthlr. bezahlen, was sonst 56 Rthlr. gekostet hat. Ich dächte, daß es izt Zeit wäre, ihrer ganzen Policey Verfaßung eine Vortheilhaftere Wendung zu geben; wenn nur noch einige Männer von guten Einsichten unter ihren 200 wären. Denn auch den schwächeren und mit den gewöhnlichsten politischen Vorurtheilen angefüllten Köpfen, kann izt begreifflich gemacht werden, wie sehr zufällig und unsicher und wie so gar augenscheinlich gefährlich ihre gegenwärtige Verfaßung sey, die blos die Würkung des Zufalls ist, dem keine Überlegung geholffen hat. Sollte man izt nicht einsehen, daß die wahre Ewigkeit auf eine völlige Unabhänglichkeit in Absicht auf die Nahrung müße gegründet seyn, daß die erste Sorge eines Regenten darauff muß gerichtet seyn daß er wiße, wie vielen Menschen er sichern Unterhalt geben könne? Ich bin schon lang überzeüget, daß Zürich noch einmal so viel Menschen, als der Canton gegenwärtig enthält, ernähren könnte, und daß von so viel Einwohnern kein einziger kümmerlich leben müßte, wenn er arbeitsam und begnügsam sein wollte. Izt müßte man, um das ganze Land glüklich zu machen, die Einwohner überzeügen, daß sie mit gehöriger Arbeitsamkeit und Frugalität, ein völlig freyes und sorgeloses Leben zuführen würklich im Stande sind. Bey meinem lezten Aufenthalt in Winterthur habe ich einem Freünd einen unwiedersprechlichen Beweis gegeben, daß sie Mittel genug haben, jedem HausVater der Statt ein Eigenthum einzuräumen, wovon er auch mit der stärksten Familie überflüßig, und ohne alle andre Sorge, als die Sorge, daß jeder die, seine Kräffte nur auf die Hälffte erschöpfende Arbeit gut verrichte, würde leben können. Zürich, nämlich die Statt, hat gewiß Kräffte genug, ein Spartha zu werden, ohne daß seine Unterthanen das Harte Schicksal der Heloten erfahren müßten. Aber diese Einrichtungen zu machen, erfoderten einen Lycurgus.

Die nächste künfftige Woche, an dem Tage, da ich vor 51 Jahren meinen Einzug in die Welt hielte, wird meine Ältere Tochter mit einem guten jungen Man, dem Mahler Graff ihren Eintrit in das eheliche Bett zum ersten male machen. Ihre jüngere Schwester wird sie nach Dreßden begleiten und ich werde diesen Winter eben so einsam in meinem Hause seyn, wie ich vor 22 Jahren gewesen bin.

Was Sie mir von Hallerischen neüen Werken sagen, war mir noch völlig unbekannt und wir haben hier noch nichts davon zu sehen bekommen. Ich bin doch ganz begierig danach. Zimmerman sendet Ihnen durch mich seinen Gruß. Ich umarme Sie von ganzem Herzen.

JGSulzer

den 6 Octob. 1771.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers auf der letzten Seite: »Donnez à la siberie et au kamshatka reunis qui font 4 fois l'etendüe de l'allemagne, un Cyrus pour souverains, un Solon pour legislateur, un duc de Sully, un Colbert pour surintendant des finances, un duc de Choiseuil pour ministre de la guerre et de la paix, un Anson pour admiral; il y mourront de faim avec tout leur génie: Volt. questions l. Economie.« (Zitat aus Voltaire, Questions sur l'Encyclopédie, Bd. 5, 1771, S. 63).

Stellenkommentar

Mein neveu
Johann Conrad Sulzer. Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1768-06-11.html.
Kochische Theater giebt mir täglich Gelegenheit
Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1771-09-13.html und das Verzeichnis der aufgeführten Stücke des Jahres 1771.
verschiedene Acteurs
Eine Übersicht über die Schauspieler*innen gibt Plümicke Theatergeschichte von Berlin 1781, S. 381–383.
beste, was sie haben kommt aus Wien
Am 1. August 1771 gab man auf der Koch'schen Bühne das französische Stück Alzire und Nanine, in dem Madame Verteuil, erste Actrice des Wiener französischen Theaters, die Hauptrollte der Alzire spielte. Wahrscheinlich meint Sulzer aber nicht diese Aufführung, die als »extraordinaire Vorstellung« (Plümicke Theatergeschichte von Berlin 1781, S. 397) in Berlin stattfand, sondern Stücke wie Ayrenhoffs Der Postzug oder die noblen Passionen, das mehr als 40 Mal gespielt wurde, und Gottlieb Stephanies Abgedankte Offiziere, die auch Lessing unter den Wiener Stücken hervorhebt. Vgl. auch einen Brief von Karl Gotthelf Lessing an seinen Bruder, Berlin, 10. August 1771, über »theatralische Neuigkeiten«. (Lessing Briefe 1770–1776 1988, S. 235 f.).
ein Stük
Sulzer bearbeitete demnach Le deserteur von Louis Sébastien Mercier für die Kochsche Bühne. Ob er das Schauspiel in fünf Aufzügen auch übersetzt oder nach einer bereits vorhandenen Übersetzung (1770 war das Stück in einer freien Übersetzung bereits in Mannheim aufgeführt worden) bearbeitet hat, konnte nicht ermittelt werden. Das Stück wurde am 22. Juli 1771 aufgeführt und dann noch über 30 Mal gespielt.
habe ich einem Freünd
Nicht ermittelt.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann