Brief vom 15. September 1778, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 15. September 1778

den 15. VII.b. 1778.

Vor 4. Monaten ergriff ich die feder und begann: Noch ein paar worte mit Sulzer, eh wir beyde die Zunge verlieren. Mehr nicht; die furcht überfiel mich daß ich wol an einen todten schriebe. Izt hab' ich des liebsten mannes wort daß er lebet, und ihm erzähl ich. –

Die Muse hat dem abgelebten Alten nichts nervigtes, nichts lebenvolles gebohren; nur ephemere pamphlete.

Anekdoten von den altschwäbischen Epiken.
Denkmal, Samuel König gestiftet.
Apologetische Charakter Labans, Esaus, Dinas.
(gegen Hessens Geschichte der Patriarchen.)
Das poetische klima. (Ich dichte daß jedes von meinen zehn Epiken einen besondern Autor habe, ich vervielfaltige mich in zehen, und diese laß ich von einem Mecenas auf sein Landhaus einladen; sie besprechen sich von ihren Gedichten, charakterisieren sie; erbauen ein Homerion; empfangen und geben Geschenke der Gastfreundschaft.) –

Gerad izt schwärmt mir eine launigte bosheit im Kopfe. – Ich habe in dem Herkulane des Zoilus ψογος entdeket, den heftigsten Tadel der Ilias. Das Unglük ist daß er den besten Grund hat, denn es ist Stolbergs Ilias, die censurirt wird. Ich nehme an daß sie die urschrift sey. Ein andrer sollte den Einfall gehabt haben.

Ich denke wol daß Sie in disen pamphlets den alten jüngling erbliketen; dem sey so: nur nicht das alte kind.

Möcht ich die blühende Kraft noch haben, die damals ich hatte,
Als die Triller und wir im felde gegen einander
Lagen!

Lebt Triller noch, und wie gebehrdet er sich zu der gegenwärtigen literatur? Er hat jüngst noch gelebt.

Ich muste in dem Convent der stadtbibliothek als unterpräsident von dem liebsten Bürgerm. Heidegger reden, ich konnte es nicht ohne daß ich ihn in seinem schönsten Lichte zeigete. Sie glauben nicht mit welchem beyfall ich gehört ward; mit welchem recht weiß ich nicht, denn ich habe bessere dinge geschrieben, die wenig Sensation erwekt haben. Ich habe den druk der Rede abgelehnet noise zu vermeiden. Dr. Hirzels panegyrique hat das urtheil bekommen daß das Ende davon das beste sey.

Mich befremdet nicht weniger daß mein Homer allgemeinen beifall hat. Wieland ist damit ungemein zufrieden. Der seltsame Mensch hat das gedächtniß wieder empfangen das er 25. jahre verloren hatte. Er hat in seinem Merkur sich des Wohllebens erinnert, das er in Zürch genoß, Breitingers, Hessen, Bodmers sich erinnert. –

Darf ich hoffen, wenn mein Homer gelesen wird, daß man etwas von seinem einfachen Schönen in meinen patriarchiaden und provenzaliaden erbliken werde? Lavater glaubt selbst daß mein Homer auf Einem Gesimse neben Stolbergs stehen könne.

Die Hize dieses sommers gestattete mir selten an dem Gestade der Limmat zu wandeln; wenn es geschah, rief ich Breitingers Schatten umsonst. Steinbrüchel ersezt mir nur 15 von ihm; Hottinger, Füßli, Bürkli, Meister zusammen kaum 15. Meister hat über die Einbildungskraft im poetischen styl metaphysicirt.

Lessings Ausfälle auf das Evangelium haben die hiesigen Spaldinge in schreken gesezt. Wir halten Tobler, der zur Ehre der Bibel, und Hessen der das leben Jesu geschrieben, in ihrem gewissen verbunden die Apologetik zu machen. Die Empfindler hier halten dises für eine arbeit von 2–3. bogen. Pfenninger und Compagnie haben ein periodisches Werk in der arbeit. In den ersten Fascikeln ist bombastische Theologie.

Partikularen haben unserm grossen Heidegger einen buste giessen lassen, der über fl. 1000. kostet. Sie wissen daß des bürgerm. Orellen Vater mein Oncle maternell war. Der bürgerm. Landolt hat resignirt nachdem er in der Regimentsbesazung dieses sommers ausgestellt worden. Der Landolt der an seinen Plaz gekommen, war thresorier. Wir haben eine neue Regierung, die nicht die Heideggerische ist. Wir wären sehr in Verlegenheit gekommen, wenn Bern mit uns nicht eingestimmt hätte das Gesuch der fünf Cath. Orte abzuschlagen. Sie sezten alle in dem Krieg von 1712 nicht begriffene Orte in bewegung die beyden Stände anzuhalten daß sie die Eroberungen zurükgäben. Sie sagten daß sie uns ohne dises kein gut Herz haben könnten; wir beraubten sie des Erbgutes das ihre Vorältern mit dem schwerdt gewonnen haben. Argumente, die nur ihnen dienen sollen, Appenzell nicht, Savoien nicht, Habspurg nicht.

Dr. Hirzel erhielt die Rathsherrstelle des neuen bürgerm. In meinem Leben hat kein Rathshr. dise würde mit seinem Wonnegefühl erhalten. Ich war ein schlechter patriot daß ich sie vormals, mit dem Eifer von mir abgelehnet mit welchem andere sie suchen.

Wird man nicht sagen daß Lessing und Schmettau die dreistigkeit gegen das Evangelium zu schreiben von Eberhard, Teller p. gelernt haben? Lessing nimmt uns das Evangelium; die Empfindler nehmen uns die Vernunft. Er die Zweite offenbarung, diese die Erste.

Gleim hat mir entbieten lassen daß ich ihm lieb sey, und daß er im künftigen jahr nach Zürch kommen wolle. Soll ich, kann ich ihn erwarten? Mauvillon kömmt nicht weil der Landgraf ihm eine Hauptmannstelle gegeben. –

Der gute pastor Lange in Laublingen hat mir sein leben des professor Meyers gesandt, mit einem brief der zwanzig mal mehr wehrt ist.

Der brief, den ich ihm vorm jahr sandte, kam ihm nicht zu; und so erhielt er die freude nicht, die ich ihm zudachte.

Es fehlt nur an mir daß ich nicht in neuen briefwechsel komme. Ein doctor Anton in Görliz hat Anekdote der Minnesinger von mir verlangt und empfangen. Ich habe sein wort daß er Veldegs Eneas herausgeben werde. Büsche in Hamburg hat mir seine kleinen Werkgen geschikt; und liebt mich. [→]Schmitt, ein professor in Ligniz, verspricht mir seinen Paris im Elysium, und seinen Adonai; zwey Epiques. Denis will meinen Conradin, meine Hedwig von Gleichen und meinen Cygnus wider auflegen. Wäre ich in den jahren der Gottschedischen Händel, so möcht ich leicht eine neue Revolution bewürken; freilich, wenn ich meine partey mit Emmethaler-Käse und mit gedörrten Zürcher Zungen stärkete.

Der Meister in Paris, des Kämmerers sohn, macht meine rede über den bürgerm. Heidegger französisch, den negatifs in Geneve zu gefallen, derer warmer, eifriger schüzer der verstorbene war.

Klopstok hat mir seine schrift über die deutsche Rechtschreibung geschikt, das minütieuseste Ding, ganz Zesianisch: er ist maximus in minimis.

Die gute Frau Marie Barbel, meines liebsten Felix Hessen Wittwe, hat Ihren treuen Johann mir helfen beweinen. Wie sehr hab' auch ich einen solchen diener nöthig. Doch besorgt meine Frau mit ihrem dunkeln gesicht immer noch meine Wirthschaft untadelhaft.

Wir arbeiten, Ihren künftigen Neveu Jkr. Escher zum Prediger in Knonau zu machen. Wissen sie daß ihr cousin der Rothgerber Brunner in den Rath der 200. gekommen. Es wird gut seyn wenn seine finances dabey gewinnen.

Ich habe veranstaltet daß meines Verlegers Factor in Leipzig Ihnen zwey Exemplare von Homer zufertigen wird. Geben sie das andere meinem liebsten Wägelin. Ihm zeigen sie auch das so genannte Eloge Heideggers.

Ich habe dem Leibarzt Zimmermann etwas weniges von Anecdoten zu Hallers leben gesandt.

Die Madle. Bondeli ist nach langem Schmachten und Krankheiten gestorben.

Der Kaiser wird dem philosophischen könig freilich Mühe aber mehr mühe nicht als Lessing den Semlern machet. Der Eine wird mit politischer, militarer – der andere mit theologischer den sieg erhalten.

Zeigen sie die Rede immer auch Müllern und zuerst Wägeli.

Sulzer in Wülflingen lebet und bauert.

Ich umarme sie, und da sie noch unter den lebenden sind, umarme ich mehr als luft. Ich habe sie auch in dem deutschen Musäo gehabt.

Bo.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 20.12. Der Brief und die Einschlüsse sind vermutlich nicht abgeschickt worden (vgl. Brief letter-bs-1778-12-00.html). – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Einschluss und mit gleicher Sendung

J. J. Bodmer, Denkrede auf Johann Conrad Heidegger (Manuskript). – Brief an Jacob Wegelin.

Lesarten

Alten
Alter

Eigenhändige Korrekturen

verspricht mir seinen
verspricht ⌈mir⌉ seinen
solchen diener nöthig
solchen ⌈diener⌉ nöthig

Stellenkommentar

ephemere pamphlete
Die Stücke wurden unter anderen Titeln in späteren Sammlungen publiziert: Von der Epopöe des altschwäbischen Zeitpunktes. In: J. J. Bodmer, Literarische Denkmale, 1779, S. 1–19. – Ueber die Neigung des Poeten, die Charakter in schönerm Gesichtspunkt auszubilden. In: J. J. Bodmer, Apollinarien, 1783, S. 367–384. – Die poetische Luft. Fabel. In: J. J. Bodmer, Literarische Denkmale, 1779, S. 96–127. – Denkmal Samuel Henzi aufgerichtet blieb bisher offenbar unveröffentlicht (ZB, Ms Bodmer 34.35.I/III).
ψογος
Psogos. Übers.: »Schmähschrift«.
Lebt Triller
Daniel Wilhelm Triller, Anhänger Gottscheds, starb 1782.
von dem liebsten Bürgerm. Heidegger reden
J. J. Bodmer, Denkrede auf den sel. Burgermeister Heidegger, in dem großen Convent auf der Burgerbibliothek zu Zürich, den 27ten Junius 1778 gehalten. Auszüge davon erschienen in: Deutsches Museum, 1779, Bd. 1, S. 6–11. Nach Bodmers Tod wurde die Rede publiziert in: Schweitzersches Museum, 1784, St. 7, S. 653–663.
sich des Wohllebens erinnert
Der Teutsche Merkur, 1778, Bd. 2, S. 238.
Lessings Ausfälle auf das Evangelium
Zum sogenannten Fragmentenstreit siehe Wieckenberg Lessings Theologiekritik im Fragmentenstreit 2011. Vgl. dazu auch Lavater an Bodmer über Sulzer auf dem Sterbebett, Zürich, 24. März 1779: »Glauben und Hingebung an Gott und seine Fürsehung bekannte er mit lebhafter heiterer Rührung, sprach mit Abscheü von den Schriftstellern, die diese Würde und diesen Trost den Menschen zu entreißen suchen, wie auch schon vor einigen Monaten von der Lessingischen Herausgebung der Fragmente u.s.w.« (ZB, Ms Bodmer 4.3, Nr. 171).
ein periodisches Werk
J. K. Pfenninger (Hg.), Christliches Magazin, 1779–1784.
Heidegger einen buste
Die Büste des Bürgermeisters Heidegger, die diesen in römischer Toga zeigt, war als öffentliches Denkmal in Zürich geplant, von Verehrern Heideggers bei Valentin Sonnenschein in Auftrag gegeben und anschließend der Zürcher Stadtbibliothek geschenkt und dort aufgestellt worden. Vgl. Breitbart Johann Valentin Sonnenschein 1911, S. 284.
Schmettau die dreistigkeit
Gemeint sind wohl die 1772 anonym erschienenen Blätter, aus Liebe zur Wahrheit geschrieben, in denen Hermann Graf von Schmettau eine kritische Lektüre der Evangelien präsentiert hatte.
Landgraf
Karl I., Herzog von Braunschweig.
mit einem brief
Vgl. Samuel Gotthold Langes Brief an Bodmer vom 9. Mai 1778: »Dero Hochachtung lebt noch beständig bey mir, der ich mich, als Ihren und des verherrligten Breitingers Schüler ansehe. Ich habe bey Verfertigung des lebens meines Meiers die Gelegenheit ergriffen meine Verehrung gegen diese beyden lehrer an den tag zu legen. [...] Bald werden neue Bodmers und Breitingers nöthig seyn.« (ZB, Ms Bodmer 4.2).
brief, den ich ihm
Vgl. Brief letter-bs-1777-07-07.html.
Ein doctor Anton
Vgl. die Briefe von Karl Gottlob Anton aus Görlitz an Bodmer vom 12. Februar und 20. August 1778 (ZB, Ms Bodmer 1.5). Anton hatte »durch Hr. Lavatern« Kontakt mit Bodmer aufgenommen und durch ihn »Nachricht von den altteutschen Gedichten erhalten«. Anton bat in dem Schreiben vom Februar um eine »Abschrift« des Freidank und informierte Bodmer im Gegenzug über den »Kodex des Sachsenspiegels in der Pauliner Bibliothek zu Leipzig«. Aus Gotha hatte Anton zudem Handschriften von Veldegg »auf 3 Monden bey mir und habe sie schon abgeschrieben. Es ist freilich nur eine Kopie aus dem 16ten Jahrhundert, hat aber doch die Sprache des 12ten noch nicht ganz verloren. Der Kodex enthält 93 Blätter und 13332 Zeilen«. Außerdem unterrichtete Anton Bodmer über ein »grosses teutsches Gedicht« in einem »Kloster nicht weit von Prag«. Im Schreiben vom August, auf das sich Bodmer hier auch bezieht, versicherte Anton: »Wegen des Veldeks hab ich schon hier und da anstalt gemacht [...] er wird ediert.«
Büsche in Hamburg
Johann Georg Büschs Briefe aus Hamburg an Bodmer vom 25. Februar und 2. März 1778 (ZB, Ms Bodmer 1.28). Büsch schrieb im Februar: »Mit der nächsten Leipziger Messe erlauben Sie mir ein Exemplar beyder Theile dieser vermischten Abhandlungen an Sie zu befördern.« Gemeint sind J. G. Büsch, Vermischte Abhandlungen, 1777. Und wenige Tage später am 2. März heißt es in einem das Paket begleitenden Schreiben: »Hier haben Sie, verehrungswerther Greiß, ein Exemplar meiner vermischten Abhandlungen, daß ich einem nach Kempten zurückreisendem Eleven aus meinem Institut mitgegeben habe, der es vielleicht Ihnen selbst übergeben wird.« Über Büsch erhielt Bodmer auch Nachricht von Klopstock: »Ich weiß nicht, wie ich in meinem ersten Briefe unsers Klopstocks [...] Gruß und seine Freude über Ihr glückseliges Alter zu vermelden habe vergessen können. Er ist seit 1771, da er mit dem sel. Gr. Bernstorf nach Hamburg, in dem genauesten und fast täglichen Umgang mit uns.«
Schmitt [...] verspricht mir
Brief des Liegnitzer Professors und Schriftstellers Friedrich Schmidt vom 20. Mai 1778 (ZB, Ms Bodmer 4c.9). Bodmer hatte ihm geantwortet und ihm sein Schreiben mit Beilage über Karl Gottlob Anton gesandt. Drucke der beiden erwähnten Werke Schmidts nicht ermittelt.
schrift über die deutsche Rechtschreibung
F. G. Klopstock, Ueber die deutsche Rechtschreibung, 1778.
Frau Marie Barbel
Maria Barbara Schulthess hatte Felix Hess 1767 ein Jahr vor dessen Tod geheiratet.
treuen Johann
Vgl. Brief letter-sb-1778-08-28.html.
in den Rath der 200. gekommen
Zur Wahl von Hans Caspar Brunner, Hauptmann und Rotgerber im Niederdorf, vgl. Donnstags-Nachrichten, 20. August 1778, Nr. 34.
Anecdoten zu Hallers leben gesandt
Siehe Zimmermanns Schreiben an Bodmer vom 25. Februar 1778, in dem er Bodmer um Briefe und Informationen zu Haller gebeten hatte: »Sie waren höchst vermuthlich in jungen Jahren, und zumal in den ersten Zeiten seines Aufenthaltes in Göttingen mit Hallern in Correspondenz. Vielleicht haben Sie diese Briefe aufbehalten, und höchst wahrscheinlich ists daß diese Briefe vieles zu meinem Zwecke enthalten«. (ZB, Ms Bodmer 6a.9). – Vgl. auch Bodemann Johann Georg Zimmermann 1878, S. 180 f.
Madle. Bondeli
Julie Bondeli starb am 8. August 1778.
in dem deutschen Musäo
Vgl. [J. G. Sulzer], Beschreibung der Stadt Nizza und der umliegenden Gegend, wie auch des Fürstenthums Monaco. Aus dem Tagebuch eines deutschen Gelehrten. In: Deutsches Museum, 1778, St. 5, S. 385–413. – ebd. St. 6, S. 481–509. Sulzer hatte die Beschreibung auf Anregung Zimmermanns publiziert.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann