Ich hoffe, daß dieser Brief Sie, mein Theürester, noch unter den Lebendigen antreffen werde, und daß auch ich noch die Antwort darauf erhalten werde. Ich habe sehr lange nicht an Sie geschrieben; weil diese sonst so leichte und so angenehme Beschäfftigung, eine Zeit lang unmöglich, hernach aber zu beschwerlich war. Seit dem Anfang dieses Jahres bis tieff in den Sommer hinein bin ich sehr elend gewesen und habe jede Woche geglaubt die folgende kaum zu erleben. Auch habe ich verschiedene schmerzhafte Zufälle von denen ich bis auf dieses Jahr verschont geblieben war, erfahren müßen, die mir das Leben zum Ekel gemacht haben. Izt befinde ich mich seit etwa drey Wochen wieder merklich beßer. Die Schmerzen haben nachgelaßen und das drohende Fieber hat mich auch verlaßen. So werde ich seit sechs Jahren wechselsweise an den Rand des Grabes und von da wieder in die Gesellschafft der Lebendigen hin und her geworffen. Dieses ist der ganze Inhalt meiner diesjährigen Geschichte.
Noch in dem vorigen Jahr, am Ende deßelben, fiel es dem König ein mich an einem Abend zu sich ruffen zulaßen und da genoß ich eine beynahe zweystündige recht philosophische und höchst intereßante Unterredung mit diesem gekrönten und gewiß einer großen Krone würdigen Philosophen. Er war äußerst aufgeräumt und ich glaube ziemlich tieff in seinen Geist und in sein Herz hinein geschaut zu haben. Ich meiner seits war dreiste genug ihm über ein paar wichtige Dinge, nämlich den gegenwärtigen Zustand der Religion in hiesigen Landen und den Charakter einiger unsrer ersten Geistlichen, Dinge zu sagen, die Ihm noch niemand gesagt hat. Er hat von der Christl. Religion die Begriffe, wie sie vor 50 Jahren die seichtesten und undenkendsten Köpfe unsrer Kirche gehabt haben. Er denkt also davon, wie einer, der zu Neükirchs Zeit und Gottscheds Jugend sich einen Begriff von der deütschen Poesie gemacht, seit der Zeit aber nichts dahin einschlagendes gelesen hätte, von der deütschen Dichtkunst denken würde. Als ich ihm sagte, was für ein Evangelium die Spalding und Teller und Eberharde predigen, sagte er: cela est respectable p. Ich wünschte daß ich Ihnen die ganze Unterredung erzählen könnte, Sie würde Ihnen einen hohen Begriff von diesem außerordentlichen Mann geben. Ich bitte aber diese Nachricht behutsam zu gebrauchen; denn ich möchte doch aus mehr, als einem Grunde nicht, daß es mir gienge wie Zimmermann. p.
Nun wünschte ich, mein theürester, daß Sie mir auch ihre diesjährige Geschicht erzählten. Daß Sie die Ausgabe ihrer Odyßee erlebt haben, macht mir Freüde und ich wünschte ein Exemplar davon aus ihrer Hand zu besizen. Wenn die Deütschen, in deren Köpfen izt ein Schwindelgeist herrschet, dieses Werk nicht mit dem Beyfall aufnehmen, den es verdienet; so werden Sie, wie ich hoffe, sich dieses wenig anfechten laßen. Der Geschmak am Wahren und einfachen Schönen wird auch wieder empor kommen.
Hr. Escher hat mir durch Übersendung ihrer Büste ein großes Vergnügen gemacht und auch unser gute Wegelin hat sich sehr darüber gefreüt. Das Bild ist nicht nur sehr ähnlich, sondern auch schön gearbeitet.
Nun sind wir also wieder in einem vermuthlich schweeren und hartnäkigen Krieg begriffen, daran ohne allen Zweifel des Kaysers Habsucht schuld ist. Dies ist für hiesige Länder ein sehr fataler Vorfall; denn der König war im Begriff schon lang entworffene für das Land sehr heilsame LandsVerbeßerungen auszuführen, die nun liegen bleiben. Der Kayser hat gerade die schlimste Parthey in Absicht auf uns ergriffen: nämlich sich immer so zusezen, daß man ihm nicht beykommen kann. Unsre Krieger nennen dieses Feigheit, mir scheinet es Klugheit.
Von litterarischen Neüigkeiten müßen Sie von mir nichts erwarten. Noch habe ich seit dem Anfange dieses Jahres nichts gelesen, als etwa Journale die Sie so gut haben, als wir. [→]Göthe ist dies Frühjahr mit seinem Herzog in Berlin gewesen und hat einige Künstler, aber durchaus keinen Gelehrten Besucht. Wieland hat sehr verbindlich und freündschafftlich an mich geschrieben: er will dem seel. Lambert im deutschen Merkur ein Denkmal stifften.
Dr. Hirzel hat mir sein Eloge ihres verstorbenen BürgerM. Heideggers geschikt und in seinem dabey liegenden Brieff gedenkt er ihrer so wie es seyn mußte, mit Liebe und Hochachtung.
Ich endige mehr, weil ich müde bin, als daß es mir an Lust fehlte noch lange mit Ihnen zu schwazen, ob ich gleich nichts erhebliches zusagen habe. Gott erhalte Sie und laße es Ihnen in ihren lezten Tagen an keinem Guten fehlen. Mich hat ein empfindlicher Schmerz betroffen, da ich meinen getreüen Bedienten, den Sie glaube ich bey meinem lezten Aufenthalt in Zürich gesehen haben, verlohren habe. Er starb an einer besonderen Art der rothen Ruhr.
Adieu.
JGSulzer
den 28 Aug. 1778
H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.
An Herrn Profeßor Bodmer Mitglied des großen Raths in Zürich frco. Nrnberg.
Vermerk Bodmers auf der Umschlagseite: »Empfangen den 4ten Sept. 1778«. – Vermerk Bodmers auf der leeren Rückseite der Umschlagseite: »Ich schicke ihm 2 Ex. von m. Homer das andere für Wegelin durch Orell Geßnern.«