Brief vom 24. Juli 1773, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 24. Juli 1773

Lasset uns, mein Liebster, die geschichte von dem was unsere schwachen, abnehmenden, alten Körper unangenehmes haben, vorübergehen, und dessen allein gedenken; was das ungefällige verbessert und ersezet. Mein Fahrzeug der seele ist immer noch fest genug, daß es mich nicht nur fühlen sondern auch denken läst. Diese nassen sommertage haben mich in der Einsamkeit des Cabinets behalten, non quidem ægrum sed ægrotare timentem. Es bekömmt mir wol, daß ich die gesellschaft der Männer habe, die in der Entfernung, ohne Zunge, und todt, noch mit mir reden; [→][→]l’histoire philosophique et politique; la politique naturelle; le systeme social; l’essai general de tactiques; la felicité publique, haben mich angenehm unterhalten. Wielanden und seinem Schach Baham geb ich kein Verhör. Nothanker hat mich mit Nicolai versöhnt; noch versündigt der böse mensch sich schon wider, indem er Herders, Abtens, und Lessings sünde, die literaturbriefe von neuen auflegt. In dem unvermögen einen prediger Gerundium zu schreiben, schreibt Wieland einen deutschen mercurius, und belügt den Euripides. Er betriegt mit dem Agathon, und dem Mercur. Soll ich auch Schmieden verzeihen? Er läst mir sagen, daß Kloz ihn als einen jungen pursch von der Wahrheit abgeführt habe, izt denke er sehr gut von mir, und ich solle proben von seiner bekehrung sehen. Ist dieses ein werk gratiæ prævenientis? Ich hab ihn doch mit keinem schweizer Käse bekehrt. Klopstok hat so viel zärtlichkeit für mich, daß er mich zu Tryphonsarbeiten brauchen will. Ich soll ihm bis in Paris subscriptionen für seine geschichte der deutschen gelehrten republik suchen. Er schikte mir post nach post subscriptions billets, und nicht ein wort von s. persönlichen umständen. Er ist in sublunarischen geschäften ein Kind.

Ich habe einen jungen Freund in Stutgard, Hartman, ein Candidat, feurig die Wahrheit zu suchen und zu bekommen, der in Sulzers seele denket; Wenn sie ihn in das neue gymnasium von Mitau empfehlen könnten, als professor, so dürft ich mit gutem gewissen für ihn gut sprechen. Sie selbst aber können ihn aus dem Werkgen kennen, Sophron betitelt, das Spalding dedicirt ist. Er soll disen sommer nach Zürch kommen, aber nicht zu mir, nicht an meine Tafel. Klopstok und Wieland sind bey mir gewesen.

Ich stehe in gefahr Dr. Hirzels Freundschaft zu verlieren. Escher im Wollenhof hat vorm jahr Einen seiner söhne auf probe in seine Handlung genommen. Der Junge hat weder Kopf noch Manieren, und Escher hat ihn dem Vater heimgeschikt. Izt glaubt der Doctor, ich hätt es hindern können und sollen. Sie wissen, daß Escher mit meiner nieçe verheurathet ist. Der Dr. hat sich bey dieser sache unverschämt betragen. Ich muß zufrieden seyn, wenn er mich nicht liberaliter in verdacht fasset, daß ich an der Verstossung schuld habe, denn er weis daß er mich beleidiget hat, indem er durch eine interessierte Concurrenz verursachete daß der pfarrer Kitt von Brütten, der eine Nieçe meiner Frau hat, die pfarr Henkart verfehlt hat. Er debauchirte uns etliche zunftmeister, von welchen wir würklich paroles hatten. Erinnern sie sich noch daß Er einer der eifrigsten Jungen gewesen, die mir 1750. Klopstok abgezogen haben. Ich war damals vier jahr auf ihn böse; im fünften jahr vergab ich ihm.

Das ministerium von Bern, Stapfer und Kocher an ihrem Haupt, hat hiesigem wegen der neuen bibelausgabe hæretifice zugeschrieben, und dieses hat ihm derbe rispostirt.

Keinem Wähler ist nur in den sinn gekommen, daß der diacon Tobler oder der Verfasser des lebens Jesu bessere Theologi wären als der professor Meyer.

Unser abgedankte Schultheiß Sulzer war vor zehn tagen bey uns und machte mir vergnügte stunden. Er kann sein mißvergnügen über seine Entlassung nicht so geschikt verbergen als er gern wollte. Der schuldheiß Bidermann wird nicht lange mehr leben.

Halten sie es nicht für Gleichgültigkeit daß ich ihrer theorie nicht nachfrage, ich wollte sponte currentem nicht spornen. Sie werden mich doch loben, daß ich in dem 76sten jahre meines alters ihnen nicht ein neues drama an den Hals werfe. Man soll mir nicht nachreden, daß ich nicht aufhören könne zu schreiben. Beynahe hätt ich doch Nicolais und Herders monologen in währender Aufführung der Wielandischen Alceste geschrieben. Aber uns Greisen ist nicht mehr erlaubt munter zu seyn. Gleim bleibt im sechszigsten der Jacobi vom zwanzigsten Sommer.

Wir haben an professor Heß einen rüstigen und geschikten probst bekommen. Mein lezter Aufsaz in hiesiger historischer gesellschaft war die Geschichte Michael Zinken, der 1660. von unserm Ministerio wegen des Amyraldismi hæretificirt, flétrirt, beraubt, exulirt, worden. A propos, der Kammerer von Küßnach hat die apostolische Zelotypie gehabt, mich, seinen Gönner und dulder seit 65 jahren, zu den Diderots und Humes zu rangiren, so ungezogen daß ich allen briefwechsel mit ihm abgebrochen habe. Sein sohn in Paris hat veranstaltet daß die Noachide in Paris übersezt werden sollen, ich hab es hintertrieben, weil das Sujet nicht für unglaubige tauget, und die ausführung nicht modern genug ist.

Das land Schwiz macht Anspruch auf die freye beschiffung des Zürchersees und wollte gern einen Hafen in dem Winkel zwischen Hurden und Richteschweil anlegen. Die sache siehet nach einem Eidsgenössischen Rechtsstand.

Wie sehr im Dunkeln leben Wägelin und Müller? Hat Wegelin noch nichts aus den geschichten der mittleren Zeiten ans licht gebracht? Was für ein [→]böser Mensch hat zween Israeliten durch die Kräftigkeit der Lavaterischen beweisgründe und die göttingischen Knakwürste bekehrt?

Schirach hat mich in seiner dunciade ohne geschmak und Salz mißhandelt. Er ist Klozens Jünger und so bescheiden daß er nicht mehr sein will als sein Herr und Meister. Ich wollte zufrieden seyn, wenn das gespötte dieser leute nur die lustigkeit der lallebürger hätte.

Noch einmal. Wenn sie in Mietau etwas für meinen Hartman thun können, so thun sie es mit aller Sicherheit, daß er ihren Empfehlungen entsprechen werde. Non tibi incutient hujus peccata ruborem. Dieser Artikel war das Hauptstück, was mich bewogen die Feder zu ergreifen.

Den professorat, den Meister in der Kunstschule erhalten, hat ihm in der realschule grosse Neider zugezogen, vornehmlich an Br.. und St.. Mit diesen beyden hat auch der doctor es verdorben, oder sie beyde haben es mit ihm verdorben. Es sind tracasseries, um die ich mich nicht bekümmere. Sie sind vielmehr ein Objekt meiner Zeitkürzungen.

In meinen stillen stunden bin ich bey Ihnen, bey Sulzer

Bodmer

Zürch den 24sten Julius 1773

Hrn. von Haller Gesundheit nimmt merklich ab. Gleim hat uns seine übersezten Minnegesænge geschenkt. Wir sollen dagegen des verstorbenen Michaelis, des anakreonten, schwestern einige gratification thun. Was will das sagen, daß Spalding Gleimen ein Heuchler scheint von Gott verlassen und der ihn lehrt die Menschen hassen? Doch möcht er in Gleims Armen erblassen. Was für Räthsel!

Wyss hat izt die Frau Cathrin nach christlichem gebrauch geheurathet.

Ich hatte unsern Müller für den mann gehalten der einen Gerondio di Campaza schreiben könnte. Hat er nicht vielen umgang mit Eberhard? Ich dächte doch ja.

Gehet Ihr Graf nach Petersburg?

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Anschrift

A Monsieur le professeur Soulzer de l'Academie royale – Berlin franche Nrnberg.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen Rand der ersten Seite: »Jul. 73.« – Siegelreste.

Lesarten

belügt
Textrekonstruktion nach Ms Bodmer 20.9–11.
Mein
Textrekonstruktion nach Ms Bodmer 20.9–11.

Eigenhändige Korrekturen

l’histoire philosophique
dan l'histoire philosophique
Wenn sie ihn in
Wenn sie ⌈ihn⌉ in
in hiesiger historischer gesellschaft
in hiesiger historischer gesellschaft
Spalding Gleimen ein Heuchler
Spalding ⌈Gleimen⌉ ein Heuchler

Stellenkommentar

l’histoire philosophique
[G. T. F. Raynal], Histoire philosophique et politique [...] dans les deux Indes, 1772–74. – [P. H. T. D'Holbach], La politique naturelle, 1773. – [J. A. H. Guibert], Essai général de Tactique, 1772. – [F.-J. de Chastellux], De la Félicité publique, 1772.
Er läst mir sagen
Vermutlich in einem Brief Christian Heinrich Schmids, der nicht ermittelt werden konnte. Schmid griff Bodmers Politische Schauspiele in seiner Chronologie des deutschen Theaters dennoch erneut scharf an.
gratiæ prævenientis
Gratia præveniens. Übers.: »zuvorkommende Gnade«.
Klopstok hat so viel zärtlichkeit für mich
Vgl. Klopstocks Brief vom 15. Mai 1773 an Bodmer (Klopstock Briefe 1998, Bd. 6/1, S. 51), sowie Bodmers Brief an Klopstock vom 27. Mai 1773 (ebd. S. 59).
zu Tryphonsarbeiten
Zu »Tryphon« als eine häufig verwendete Bezeichnung Bodmers für »Verleger« siehe Kommentar zu Brief letter-bs-1747-09-12.html.
Sophron betitelt, das Spalding dedicirt
[G. D. Hartmann], Sophron. Oder die Bestimmung des Jünglings für dieses Leben. Dem Herrn Probst Spalding gewidmet, 1773.
bey mir gewesen
Anspielung auf die Aufenthalte Klopstocks und Wielands bei Bodmer in den frühen 1750er Jahren.
Einen seiner söhne
Hirzel hatte sechs Söhne und sieben Töchter. Um welchen Sohn Hirzels es sich in diesem Falle handelt, konnte nicht ermittelt werden.
pfarr Henkart
Henggart im Kanton Zürich.
an professor Heß einen rüstigen und geschikten probst
Caspar Heß, Professor für griechische Sprache, der in den 1750er Jahren Gast Sulzers in Berlin gewesen war. Vgl. Brief letter-sb-1752-09-07.html. 1773 wurde er in der Nachfolge von David Lavater Probst bzw. Stiftsverwalter.
die Geschichte Michael Zinken
In der ZB ist Bodmers handschriftliches Manuskript Anecdoten von Michael Zink überliefert (Ms Bodmer 34.19). Die Darstellung, die erstmals Zinggs Leben aufarbeitete, ist auch publiziert worden. Vgl. J. J. Bodmer, Anekdoten von Michael Zingg. In: Schweitzersches Museum, 5, 1783, S. 430–456.
wegen des Amyraldismi hæretificirt
In der bis zur Vertreibung der Reformierten aus Frankreich existierenden reformierten Akademie von Saumur wurde durch die beiden Lehrer John Cameron und Moyse Amyraut (Amyraldus) eine Kritik an der Prädestinationslehre Calvins formuliert. Im Gegensatz zur strengen Prädestination vertraten sie die Lehre von der allgemeinen Gnade Gottes für die gläubigen Christen. Amyraut schrieb über einen »Universalismus hypotheticus«, führte also eine »universelle Gnade« ein. In der reformierten Schweiz wurde die Lehre von Saumur 1674 im sogenannten »Consensus helveticus« verurteilt. Vgl. Armstrong Calvinism and the Amyraut heresy 1969. – J. J. Bodmer, Anekdoten von Michael Zingg, 1783, S. 435.
Kammerer von Küßnach hat die apostolische Zelotypie
Zelotypie, griech. für »Eifersucht«. Nicht ermittelt, worum es in der Auseinandersetzung ging. Der Briefwechsel zwischen Bodmer und Johann Heinrich Meister setzte nach offensichtlichen Differenzen erst 1774 wieder ein.
Wegelin noch nichts aus den geschichten der mittleren Zeiten
Wegelin kündigte 1769 einen Plan raisonné d'une histoire universelle et diplomatique de l'Europe depuis Charlemagne jusqu'à l'an 1740 an, der 1776–1780 in der drei Bände umfassenden Histoire universelle et diplomatique umgesetzt wurde.
böser Mensch hat zween Israeliten [...] bekehrt
Georg Christoph Lichtenberg publizierte 1773 unter dem Pseudonym »Conrad Photorin« die satirische Schrift Timorus, das ist, Vertheidigung zweyer Israeliten, die durch die Kräftigkeit der Lavaterischen Beweisgründe und der Göttingischen Mettwürste bewogen den wahren Glauben angenommen haben.
Schirach hat mich in seiner dunciade
Anspielung auf die anonym erschienene Satire Deutsche Dunciade. Erster Theil. Mit einer Vorrede herausgegeben von Herrn Schirach, 1773. Die Schrift wird Carl Emil von der Lühe, damals 22-jähriger Student der Rechtswissenschaften in Helmstedt, zugeschrieben.
lallebürger
Entspricht den deutschen Schildbürgern.
Non tibi incutient hujus peccata ruborem
Übers.: »Dir werden seine Sünden keine Schande verursachen.«
an Br.. und St..
Breitinger und Steinbrüchel.
Ihr Graf
Anton Graff lehnte den Ruf nach St. Petersburg ab. Vgl. Brief letter-sb-1773-08-10.html.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann