Brief vom 6. März 1769, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 6. März 1769

den 6.ten märz 69.

Mein theuerster Sulzer.

Wenn ich in diesem frost meiner jahre noch Antiatreus schreibe, so sind es nur debauches d’esprit, und dise muß man mir gönnen, weil sie meinen geist in einiger lebhaftigkeit erhalten. Ich zweifle zuweilen ob die Arbeiten unserer Aristocraten wichtiger seyn. Nicht allemal sind sie es wiewol sie mit voller Gravität und Pomp vorgenommen werden. Und bin ich sehr zu tadeln daß ich Aristomenen und Thraseas schreibe, wenn meine gnädige Herren Erweise schreiben daß das dorf Ramsen der rustical und der dominicalsteuer von Nellenburg nicht unterwürfig sey wiewol es im Nellenburgischen liegt und Östreich die landesfürstlichen hoheiten besizt? Es ist doch ein unterschied in territorio oder de territorio zu sein. Meine schauspiele werden zwar ausgezischet, sie haben mir doch in der Conception das Vergnügen gemacht, welches der elendste scribent bey der Conception wie der beste empfindet, wie Kloz und Riedel es empfinden.

Aber Sie, mein liebster, haben mir noch nicht gesagt, ob Sie mich auch für besudelt halten, seitdem Riedel und Kloz mich besudelt haben. Glauben sie, daß ich mich in reines wasser dauchen könne und ohne Fleken hervorkommen? Wenn Sie nur nicht unzufrieden sind, daß ich immer schreibe, so will ich ebenso zufrieden seyn, daß Sie immer stillschweigen. Es soll keine Übelthat seyn, daß sie in hac fece scriptorum dem Geschmak nicht Ihr Zeugniß geben; nur nicht der Nachwelt sagen, daß in Ihren tagen kein deutsches publicum gewesen, daß strassenjungen sich der literatur bemächtiget haben.

Schauspiele von römischem und von griechischem Inhalt werden auf die Messe kommen; ich werde den Verlegern ordre geben, sie Ihnen in meinem Nahmen zu liefern. Ich hoffe doch Orell und Otto haben Ihnen meine Schriften vom vorigen jahr übergeben? Sie bekommen dise Messe nichts vom Archiv, weil der Verleger vor den Journalisten zittert und Zähne klappert.

Der neue Romeo hat den Leonard Meister zum Verfasser. Von ihm wird auch der Hungerthurn von Pisa auf die Messe kommen. [→]In disem plaudern nicht Kinder, die verhungert sind, dreißig scenen lang psychologische und physische Widersprüche. Noch liegt in seinem pult das parterre der Tragödie Ugolino. Dises parterre besteht aus Kloz, Nicolai, Riedel, Ramler, Gerstenberg, Weisse. Er hat ein Geschik zu dergleichen Arbeiten, und ich kan ihn für meinen kritischen page brauchen. Müller weiß daß Meister mehr Kopf hat als Welt. Doch ist er zum plaudern und im umgang ganz angenehm.

Mir ist überaus lieb, daß sie ihren Neveu zu sich kommen lassen; ich hoffe sie finden ihn zwanzig mal besser als er war. Unser Waser hat ihn auf den guten Weg gestellt.

Der zweite theil der Aussichten giebt uns hier viel zu schwazen. Dieses wird wol die größte frucht davon seyn. Ich weis nicht warum ich kein Verlangen habe ungesehene Dinge vor der Zeit zu sehen. Lavater hat sie nicht so wunderbar gemacht, ich erwarte noch mehr. Er sagt mir nur was blinde vom licht sagen könnten, wenn alle menschen blindgebohren wären. [→]Füßli von Veldheim hat eine accusation den Hhn Examinatoren übergeben, er beschuldiget ihn daß er den Auferstandenen den Körper genommen habe. Er selbst würde nicht gern leiden daß sein bauch abgethan würde.

Die brochure, origine des principes Religieux und ihr Autor sind dem bucher bisher nur darum entflohen weil sie in der dunkelheit geblieben sind. Unsere jungen gelehrten Pariser sind unvorsichtig frech. Ein Glük für sie daß der Veldheimer nichts davon weiß. Ich fürchte immer Voltaire werde unserer calvinische Kirche damit eine Ehre machen, die wir detestiren.

Sie erinnern sich, mein liebster, daß vor 8 jahren bey gelegenheit des ungerechten Landvogts eine Commission niedergesezt worden, die auf Mittel denken sollte, zu verhüten daß die Leibfälle nicht so sehr arbitrairement bezogen würden. Vor ein paar monaten kam die Commission mit einem Gutachten vor R. und B. Ihr Einfall war daß von der Verlassenschaft eine modique zu fixierende summe von jedem hundert sollte genommen werden. Da hätte man wieder schäzen, und so der Gunst oder Ungunst unterworfen seyn müssen. Ich hatte eigene gedanken. Zur Zeit der Reformation hatte man Kyburg, Andelfingen, Eglisau, Neuamt und Grüningen selbst, die alle damals den leibfall zahleten, denselben schlechtweg nachgelassen und geschenkt. Er blieb auch bis auf disen tag den andern nachgelassen. Nur im Amt Grüningen ist er wieder eingeführt; bey welcher gelegenheit, mit welchem Recht, durch welche Verschuldung, weiß kein mensch und kein Archiv. Also trug ich vor, daß die Gutthat die man damals Grüningen gethan, wiederholet werden sollte. Sie können leicht ermessen was für politische Grundsäze von schweizerischer Freiheit, unsern Verhältnissen, da die bauern unsere miliz sind, – ich gebraucht habe: Aber Sie, mein Freund, können sich nicht vorstellen, mit welcher hize, grobheit, Eyfer man auf mich zugefahren, zugeschlagen und zugehauen hat. Keinem politischen Heretiker hätte wilder können begegnet werden. Unser liebe Dr. Hirzel selbst bewies mit grossem Geschrey daß in jedem wolbestellten staat ein ærarium seyn müßte; und so glaubt er daß er mich widerlegt hätte. Er muß gemeint haben, ich wollte das Aerarium geplündert haben – Und dennoch steh ich wieder in gefahr zum Rathshrn. gemacht zu werden. Helfen Sie, mein theurester mit mir den himmel bitten, daß er mich vor dieser Würde ferner beschüze und bewahre. Die jungen Leute sind mir auf dem Rathhause gut, und wollen mir gerne gutes thun, wo ich es nicht dafür ansehe.

Ich bin in den briefen, die der gute Hr. Lange von mir publicirt hat, noch ziemlich gut davon gekommen. Man muß sich in Acht nehmen, was man diesen Leuten schreibe, die nichts bey sich behalten können. Wenn ich an meine Vertrauten schreibe, so steh ich nicht gern sur le qui vive. Ich habe durch meine Zuschrift nichts anders gesucht, als Hr. Langen ein kleines vergnügen zu machen. Es ist doch etwas seltnes daß ich ihm im 71sten jahre wider schreibe, nachdem ich über zwanzig jahre geschwiegen hatte.

Noch ein Blättgen.

Wieland hat einen Ruf auf die universität Erfurt bekommen den er annehmen wird; mit 600. Reichsthaler gehalt. Er hat nicht alle Sentimens für mich verlohren, wenn ich den Ausdrükungen glaube, die er in den Briefen an Geßnern gebraucht. Er ist auf Riedel und Klozen böse wegen der unverschämtheiten die sie in ihren Journalen publiciren. Und doch haben dise Männer viel zu seiner Vocation beygetragen. Er mag wol aus unbeständigkeit wider zurük kommen.

Unser neue Bürgermeister verdunkelt alle seine Vorfahren die ich gekannt, er läßt seinen Collegen nichts übrig als ihn zu widerholen, wie schlecht sie es können; immer gesezt, ohne leidenschaft, popularer als wir erwartet hatten. Er besucht noch immer die physicalische Gesellschaft, bleibt noch in der Commission wegen der schulreformen, da sonst ein Bürgerm. in keinen besondern Commissionen sizt. Mich wundert oft, woher ihm die geduld komme, halbe Tage im Rath zu hören, was man da hören muß; ich weiß nicht recht ob es stärke des geistes oder eine kleine schwachheit ist, da man gern der erste ist obgleich unter – –

Der thurm unsers münsters ist noch immer nakt am Kopf. Indem man nicht des Einen werden kan, ob ihm eine Cupol, eine fleche, ein Altane, eine Gallerie – besser anstehe, bleibt er unbedeket.

Füßli in London schweigt.

Unser theure Schuldheiß Sulzer kam auf die Leichbegängniß unsers bürgermeisters, ich hatte ihn beynahe zwey jahre nicht gesehen, in zwo vertraulichen stunden gossen wir unser Herz gegen einander aus. Dises Vergnügen ist mir mit Ihnen nicht gegönnet. In Gedanken geniesse ich es doch öfters. Wir schiken Ihnen zuweilen leute, die Ihnen die geringsten Umstände von uns erzählen; von Ihnen bekommen wir dergleichen gesandten nicht. Ich möchte Einen haben, der Sie bey mir representirte! Ich umarme sie.

Ihr
B...r

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Eigenhändige Korrekturen

haben dise Männer viel
haben dise ⌈Männer⌉ viel

Stellenkommentar

daß ich Aristomenen und Thraseas
[J. J. Bodmer], Thrasea Pätus, ein Trauerspiel. In: Politische Schauspiele, Bd. 2, 1769. – [Ders.], Aristomenes von Messenien. In: Politische Schauspiele, Bd. 3, 1769.
dorf Ramsen
Dorf im Kanton Schaffhausen, einst der Landgrafschaft Nellenberg zugehörig. Im Jahr 1770 kaufte Zürich für die Summe von 150.000 Gulden die Landesherrschaft den Österreichern ab, musste sich aber vertraglich verpflichten, die katholische Religion in Ramsen in Schutz zu nehmen.
Schauspiele von römischem und von griechischem Inhalt
Bodmer hatte seine Dramen für den Sammeldruck thematisch eingeleitet. Vgl. [J. J. Bodmer], Politische Schauspiele. Zweytes Bändgen. Aus den Zeiten der Cäsare, 1769. – [Ders.], Drittes Bändgen. Von Griechischem Innhalt, 1769.
vor den Journalisten zittert
Der Verlag war Orell, Gessner und Comp. Ebenso vernichtend wie den ersten (und einzigen) Band von Bodmers Archiv der schweitzerischen Kritick (vgl. Brief letter-bs-1768-06-11.html) und dessen Neue theatralische Werke (vgl. Brief letter-sb-1768-07-09.html) besprach Klotz auch Bodmers Politische Schauspiele. Vgl. [C. A. Klotz], Politische Schauspiele, zweytes Bändchen (Rez.). In: Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften, Bd. 3, 1769, S. 395–409.
neue Romeo
Der Verfasser von Der neue Romeo und Der Hungerthurn in Pisa war nicht Leonhard Meister, sondern Bodmer selbst.
In disem plaudern nicht Kinder [...] Widersprüche
Anspielung auf [H. W. Gerstenberg], Ugolino, 1768.
parterre der Tragödie Ugolino
Das Parterre in dem Ugolino. Ein Nachspiel, eine Parodie Bodmers auf Gerstenberg, ist in zwei Abschriften (ZB, Ms Bodmer 26.4) überliefert, aber nicht publiziert worden. Vgl. Bender Bodmer und Breitinger 1980, S. 66.
ihren Neveu
Johann Conrad Sulzer. Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1768-06-11.html.
Füßli von Veldheim [...] beschuldiget ihn
Johann Konrad Füsslis (Pfarrer von Veltheim) am 13. Februar 1769 im Examinatorenkonvent eingereichte Anklagen der Irrthümer in H. Expect. Lavaters 1. Theil Aussichten in die Ewigkeit. Die Anklage und Füsslis weitere Bemühungen um eine Zensur der Schrift Lavaters blieben jedoch ohne Konsequenzen. Siehe dazu Lavater-Briner Johann Konrad Füssli 2015, S. 162.
detestiren
Übers.: »verwünschen, verabscheuen«.
R. und B.
Rat und Bürger.
ærarium
Antike römische Staatskasse, die das Volksvermögen beinhaltete.
in den briefen, die der gute Hr. Lange von mir publicirt
S. G. Lange, Sammlung gelehrter und freundschaftlicher Briefe, 1769–1770. In der in zwei Bänden erschienenen Publikation sind fünf Briefe von Bodmer aus den Jahren 1745, 1746 und 1747 versammelt (Bd. 1, S. 132–147, S. 154–170. – Bd. 2, S. 47–59).
sur le qui vive.
Übers.: »auf der Hut sein«.
in den Briefen an Geßnern
Vgl. Wieland an Salomon Geßner, 16. Februar 1769. (Wieland Briefwechsel 1973, Bd. 3, S. 581–584).
neue Bürgermeister
Johann Conrad Heidegger wurde 1768 Bürgermeister von Zürich, er war Mitbegründer der Physikalischen Gesellschaft.
Leichbegängniß unsers bürgermeisters
Hans Jacob Leu war am 10. November 1768 gestorben.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann