Brief vom 21. Oktober 1769, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 21. Oktober 1769

Zürich den 21sten Octob. 1769.

Der Ihnen, mein theuerster diese Zeilen in die Hand geben wird, ist einer von meinen Mitbürgern; dem Hr. Canonicus gesagt hat, daß er bey Ihnen mit einem briefchen von mir recht wol ankommen werde. Er heißt Meister und ist ein junger Chirurgus mit gutem Gemüth, sein Großvater war der Amtman Meister, der auf dem Amt Tös verstorben ist. Es scheint daß er ein practicus sey, und die theorie izt nach der praxi lernen will.

Wenige Tage nachdem sie dises werden empfangen haben, wird ein Franzos Ihnen ein päkgen von mir zustellen. Hr. director Schuldheiß hat mir die Gelegenheit verschaffet. In dem päkgen sind unsre neuen Arbeiten, von welchen sie etliche freilich schon haben sollen, wenn unsere Verleger ihrem versprechen nachgekommen sind.

Es ist glüklich, daß ich die humores peccantes in meinen Fingern ausgeschwizt habe; mit so vieler gefahr ist in disen lezten Zeiten das schreiben begleitet.

Die tragische Geschichte der origines des principes de la religion wißen sie. Wir haben den Autor zu Dalembert und Diderot verwiesen, bey welchem er izt lebt, die evangelische Religion zu lernen.

Ein junger Mensch, den wir auf meiner Zunft erst jüngst zum Zwölfer erwählt haben, hat eine brochure gegen die regularen Klöster geschrieben; dafür haben die Herren von Luzern ihn bey hiesiger Oberkeit für einen Schmäher ihrer allerheiligsten Religion und Friedensstörer angeklagt. Viele von unsern Zunftmeistern haben es auch so gefasset. Und der gute mensch ist noch nicht außer gefahr für einen Verräther abgestraft zu werden. Er hat in der person eines Catholiken geschrieben und das soll eine Verleugnung seiner Religion sein, zu welcher er den Zwölfereid geschworen hat.

Ein würklicher Catholik hat eine andere brochure gegen die Mönche geschrieben, die Luzerner haben Verdacht gefasset ihr Rathsherr Meyer möchte wol der Verfasser seyn, und ihn gefangen gesezt. Man kan doch nichts auf ihn beweisen.

Gegen dise beyden Schriften hat der leutpriester von Luzern eine Widerlegung geschrieben, wie unsere Colporteurs an der schifflände schreiben würden.

Unser plenipotentiaris in Wien schwizt daß er uns um 120. Tausend Gulden ein feudum francum erhalten können, das in unsern eigenthumlichen Dorfschaften Ramsen und Dörflingen bestehen soll.

Wir denken hier daß Klopstok seine Hermansschlacht für die leutenante der Reichsarmeen geschrieben habe; die ohne Zweifel nöthig durch ein Tintamare betäubet zu werden daß sie für Rechte und für vaterland streiten. Der Autor hat uns eine große hochachtung für den Mann beygebracht, der groß ist in Thaten die bald geschehen sollen. Wir fürchten dieser Lobredner hungere. Dennoch entdeken wir in dem Bardit den ganzen umfang der seelenkräfte des poeten der Messiade. Resewiz hat uns den Bardit für ein Wunder des genie angekündiget. Izt haben wir nur ein Zeugniß von Resewizen schwachen Kopf empfangen.

Lavater beweiset die zeither und von der Kanzel so gern daß die gabe Wunder zu thun den Heiligen Gottes noch nicht geweigert wird, daß wir hoffen dürfen bald ein Wunderwerk von ihm selbst zu sehen. Er stehet über Bonnet hinaus und da Bonnet am Rand gestanden, taumelt er hinunter.

Herr Spalding hat in seiner Schrift von dem Werth der Gefühle Wielanden einen stich gegeben, der ihn mit sich selbst unzufrieden machen und verbessern sollte. Wir meinen hier daß es eines Spaldings oder Crugoldens nicht unwürdig wäre, wenn sie ex professo gegen die unmoralische Poesie der Wielands, der Jacobi und anderer schrieben. Das Übel, das die licencieuse Poesie bey Herrchen und Mädchen anrichtet, ist zu jämmerlich, als daß es den größten Gottesgelehrten gleichgültig seyn könnte. Was ist es wenn die Lehre gleich gereiniget wird, und das Leben wird immer verderbter?

Hr. Dr. Zimmermann hat seine Reise nach Antoinettenburg, und seine prouesses daselbst allen seinen freunden in der Schweiz geschrieben. Das Heimweh war ihm gewiß in den stunden da er bey der herzoglichen Durchlauchtigsten Familie war, vergangen. Er bekam einen Syrup, wie der war, den Abt Conrad von St. Gallen vom König Heinrich empfangen.

Diser sommer hat uns wenig angenehme Abende an der Limmat gegeben, doch lebe ich gesund und vergnügt, und allemal vergnügter wenn ich von meines Sulzers und Wegelins Munterkeit höre.

Ich umarme Sie beyde.
Bo...

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. – A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13b.

Stellenkommentar

Meister und ist ein junger Chirurgus
Bodmer schrieb irrtümlich Meister. Gemeint ist der 1747 geborene Arzt Conrad Meyer. Sein Großvater Hans Jacob Meyer war 1720 Amtmann in Töß geworden.
tragische Geschichte
Der Verfasser Jacques-Henri Meister ging wegen der Schrift, die vom Scharfrichter verbrannt worden war, ins Exil nach Paris.
eine brochure gegen die regularen Klöster
[Heinrich Heidegger], Reflexionen eines Schweizers über die Frage: Ob es der Catholischen Eidgenoßschaft nicht zuträglich wäre, die regularen Orden gänzlich aufzuheben, oder wenigstens einzuschränken?, 1769.
würklicher Catholik hat eine andere brochure
Anonym, Widerlegung der Reflexionen eines Schweizers, 1769.
feudum francum
Ehrenlehn.
Er stehet über Bonnet hinaus
1769 veröffentlichte Charles Bonnet sein letztes Hauptwerk La Palingénésie philosophique, ou Idées sur l'état passé et sur l'état futur des êtres vivans. Darin stellte er seine religiöse und naturwissenschaftlich begründete Überzeugung von der Unsterblichkeit des Menschen und der Auferstehung der Körper in feinmaterieller Form dar. Lavater korrespondierte seit dem Frühjahr desselben Jahres mit Bonnet und bat ihn um die Erlaubnis, zunächst nur die religiös-apologetischen Schlusskapitel der zweibändigen Palingenesie zu übersetzen. Vgl. Luginbühl-Weber (Hrsg.) Briefe Lavater, Bonnet, Bennelle 1997. – J. C. Lavater, Philosophische Untersuchung, 1769. Durch Bonnets naturgeschichtlich begründete Unsterblichkeitslehre erhoffte er sich eine bessere Rezeption seiner Aussichten in die Ewigkeit, deren zweiter Teil gleichzeitig erschien. Allerdings formte er dabei Bonnets Werk an mancher Stelle theologisch um. Vgl. Kohler Lavaters Übersetzung der Palingénésie philosophique von Bonnet 2017.
licencieuse
Übers.: »unzüchtig, liederlich, ausschweifend«.
Zimmermann hat seine Reise nach Antoinettenburg
Zu Zimmermanns Reise nach Antoinettenruh, Residenz des Erbprinzen Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig, vgl. J. G. Zimmermann an Schmid (Ratsherr in Brugg), Hannover, 31. Juli 1769. In: Zimmermann Briefe an einige seiner Freunde in der Schweiz 1830, S. 106–115.
Syrup
Legende aus dem Jahr 1232, die davon handelt, dass König Heinrich dem kranken Abt Conrad von St. Gallen statt Sirup als Medizin 400 Mark Silber gegeben habe. Vgl. A. Tschudi, Chronicon Helveticum, Bd. 2, 1736, S. 129.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann