Brief vom 10. Juni 1769, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 10. Juni 1769

Sie wollen mir, mein theürester und Verehrungswürdiger Freünd, das Stillschweigen gegen das Publicum verzeihen: aber ich habe auch noch dieselbe Gnade für das Stillschweigen gegen Sie selbst nöthig. Wegen des ersteren klage ich mich selbst nicht an, weil ich das Reden für unnöthig halte, wo die Sache selbst redet; aber wegen des anderen erkenne ich meine Schuld. Die Entschuldigung, die meine vielfältige Geschäfte und die mancherley Zerstreüungen, dadurch mir der Kopf sehr ofte verwirrt wird, mir an die Hand geben, ist nicht hinlänglich mich zu beruhigen. Daß ich schon lange den Vorsaz gehabt habe Ihnen zuschreiben, werden Sie aus dem Datum des inliegenden Briefes von unserm Wegelin sehen; daß ich es von Woche zu Woche aufgeschoben habe, komt von einer unüberwindlichen Trägheit her, die ich allemal fühle, wenn ich durch die Nothwendigkeit gezwungen worden vielerley, in keiner Verbindung mit einanderstehende Geschäfte zu thun. Dieses ist mir seit drey oder 4 Monaten nur gar zu ofte geschehen.

Was ich von unsern Kunstrichtern über die deütsche Literatur vorhergesagt, fängt an in Erfüllung zu komen. Sie fangen würklich an denen, die vorher nicht vermögend waren ihre Schwäche einzusehen, verächtlich zu werden. Kloz wird schon von vielen, die ihn für einen Großen Man gehalten hatten, verachtet; Riedel für einen ausschweiffenden Muthwilligen Menschen gehalten; Gleim fängt an sich von Klozen abzuziehen; Weiße wird roth, wenn man ihn merken läßt, daß man ihn für einen Freünd Klozens und Riedels hält. Dieses Reich, das keine innerliche Stärke hatte, fängt an zu zerfallen. Allem Vermuthen nach wird Wieland Gelegenheit geben, daß es völlig zu Grunde geht. Er wird es weder mit der Universität Erfurth noch mit seinem Freünd Riedel lange aushalten. Laßen Sie uns diesem Kinderspiel ruhig zusehen. Es wird vergehen, wie die Figuren der Abendwolken, die auf einige Augenblike so artige Formen zeigen und bald hernach wieder bloße Dünste sind. Weiße ist gegenwärtig hier. Er ist ein gutes sanftmüthiges Kind, welches man nur einmal muß gesehen haben, um zu merken, daß er weder ein gebohrner Comikus noch Tragikus ist, sondern durch Kunst und Regeln für die doppelte Schaubühne arbeitet.

Alle Anstalten sind nun gemacht, mein Critisches Wörterbuch der Preße zu übergeben. Es ist zwahr nicht ausgearbeitet, wie ich es zu thun, mir vorgenommen hatte. Gar viel Artikel sind unvollkommen. Da ich aber die Möglichkeit es so, wie ich wünschte, zu vollenden, nicht vor mir sah, so entschloß ich mich, lieber es so in die Welt zu schiken, als ganz untergehen zu laßen. Wenn ich bedenke für was für Leser man in Deütschland schreibt, so entgeht mir ofte der Muth, noch ferner Hand ans Werk zulegen. Mehr als einmal bin ich in Versuchung gerathen alles zu verbrennen.

Die Historischen Erzählungen haben bey mir den Wunsch wieder erneüert, daß unsere Landsmänner für ihr Lands Publicum und niemal für ganz Deütschland schreiben möchten. Je mehr ein Dichter und ein Moraliste auf das Locale arbeiten, je gewißer müßen sie ihren Zwek erreichen. Aber je beßer sie ihn erreicht haben, je weniger können sie denn von einem Publico, deßen Umstände ganz verschieden sind, Beyfall erwarten. Ihr Arnold von Breßcia und ihr Bruhn, sind für das Züricher Publicum vollkommene Stüke; für die deütschen wären sie, was Pindars Oden für die Franzosen.

In ein Paar Tagen gehe ich mit meiner Familie nach meiner ländlichen Hütte um den Sommer daselbst zuzubringen. Dort besuchen mich Wegelin und Müller ofte und dann ruft unsre Einbildungskraft auch unsern Bodmer zu uns. Da reinigen wir uns von dem deütschen Staub und glauben die Luft, die von den Alpen herkommt zu athmen.

Man hat mir hier sagen wollen, daß Bern in ganz verdrießliche und sehr ernsthaft scheinende Zwistigkeiten mit Frankreich gerathen sey. Sollte Lentulus die Berner dahin gebracht haben, gegen Frankreich trozig zu seyn? Zürich scheint in der Sache der Nellenburger keine Große Kenntnis des Juris Publici zuzeigen. Ich habe nicht ohne Vergnügen gelesen, was Sie mir von ihrem neüen Burgermeister schreiben. Wenn er nur auch einen Rath von paribus bilden kan. Denn ein Man macht freylich nicht allemal die Sache aus. Auch das neüe Haupt ihrer Kirche scheint zu versprechen, daß man noch nicht alle Hoffnung aufgeben müße. Haller schreibt mir, daß das Liebe Heimweh ihn mit ungemein geringem Vortheil in Bern hält, und daß der ehrliche Zimmermann in Hanover von der selben Krankheit sehr geplagt werde. Ersterer hat in seinem Brief etwas einfließen laßen, woraus ich sehe, daß er sich über ihre Thätigkeit in einem Alter, das insgemein träge macht, wahrhaftig freüt. Bey mir hat dieses außer der Freüde auch Bewundrung erwekt; da ich meinem Mittag noch so nahe, schon so ofte Anfälle der Unthätigkeit eines Hohen Alters fühle. Gott erhalte Sie, mein Verehrungswürdiger Freünd bey einem so glüklichen Alter bis Sie an ihr Ziel werden gekommen seyn. Ich umarme Sie von ganzem Herzen.

JGS.

den 10 Junij.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Nicht ermittelter Brief von Jacob Wegelin an Bodmer.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers mit rotem Stift auf der letzten Seite hinter der Datumsangabe: »69«.

Eigenhändige Korrekturen

bis Sie an ihr Ziel
bis ⌈Sie an⌉ ihr Ziel

Stellenkommentar

Kloz wird schon
Zur Klotz-Kontroverse und zum sogenannten »Antiquarischen Streit« mit Lessing vgl. Zarychta Lessings rhetorische Strategien im antiquarischen Streit 2007.
Haller schreibt mir
Nicht ermittelt.
das Liebe Heimweh
Zum Heimweh als Schweizer Phänomen und Erfindung siehe Gröf Diagnose Heimweh 2000.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann