Brief vom 5. März 1763, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 5. März 1763

Die freunde, die Ihnen diese Zeilen zustellen, können ihnen mehr besondere Umstände vom heutigen Rathstag melden, als mir izo noch bewußt sind. Wir müßen zufrieden seyn, daß die Würfel für die beyden jungen patrioten gefallen sind. Izt haben sie reisegefährten, die ihnen die Abschiedsschmerzen versüßen können.

Ich hoffe daß sie uns in denselben wie gegenwärtig und durch sie repræsentirt betrachten werden. Sie laßen doch den Gedanken über S Gallen zu reisen nicht fallen; der gute professor Wegelin hat tröster und Rathgeber von ihrer freundschaft und ihrem Ansehen sehr nöthig. [→]Das ministerium von S. Gallen fluchet seinen religiösen Gesprächen; die dunkelheit, in welche er sie eingehüllt, hat ihn vor ihren Verfolgern nicht bewahret. Es scheint sie legen ihm nicht nur zur last, was seine orthodoxen personen reden, sondern auch die sätze der heterodoxen werden auf seine Rechnung geschrieben. Sie werden die schwachdenkende Stadt von diesem geschäfte angefüllt finden.

Ich bin auf den heutigen tag mit durchdenkung ihrer Anmerkungen über die Noachide zum Ende gekommen; und ich hoffe, daß ich ihnen über die mehrern in den verbeßerungen, die ich mir verbilde, werde Genüge thun können. Aber in einem der wichtigsten stück verläst mich meine poetische Ader; ich kann keine solche symbolische vorstellung erfinden, die mir dienete den Charakter der Nachkommen Japhets in starkgezeichneten kurzen Zügen auszubilden. In andern stücken, XXX in kleinen ausbildungen bin ich mit meiner sechsjährigen Muse noch wol zufrieden, und hoffe man werde finden, daß sie in disem alter noch jungfräuliche phantasien spielen könne. Alle tage kommen mir dergleichen in die Gedanken, wie wenn sie wären eingehaucht worden.

Diesen Augenblik hat Hr. Dr. Hirzel mein schreiben unterbrochen, er weiß viel particularitäten von der heutigen Judicatur; wir haben noch einsichtsvolle, aufrichtige und tapfere männer, mit und unter welchen das leben uns sicher und angenehm gemachet wird. Es ist mir ein ungemeines Vergnügen daß Hr. statthalter Hirzel einer von den unzweifelhaftesten ist.

Ich habe Mühe gehabt der Versuchung zu widerstehn, mit den wakeren freunden zu reisen, die izt zu ihnen kommen sie vor ihrer Abreise zu umarmen. Da ich die freude sie noch einige minuten zu sehen entbähre, so bin ich zugleich mit den überwiegenden schmerzen des Abschieds verschont.

Umarmen sie mich in Doctor Hirzel; künftig seyen sie in dem geist bey mir, der in ihre briefe übergehet. Leben sie munter mein theurester, und nehmen den besten segen, der in meinem herzen verwahrt ist mit sich, das wolgefallen des himmels, und die freundschaft der rechtschaffenen.

Ich verbleibe unaufhörlich
Ihr aufrichtiger diener
Bodmer

Zürich den 5ten. März 1763.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12b. –A: ZB, Ms Bodmer 20.9–11, 13a.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite: »d. 5 März 63«.

Eigenhändige Korrekturen

die ihnen
die sie inihnen

Stellenkommentar

ministerium von S. Gallen fluchet
Vgl. Wegelin an Bodmer, St. Gallen, 8. Februar 1763 (ZB, Ms Bodmer 6.7a, Nr. 68): Wegelin äußert sich darin bereits über die Beschwerden der Stadtgeistlichkeit. Zum folgenden Zensurverfahren vgl. Wegelin an Bodmer, St. Gallen, 5. März 1763 (ZB, Ms Bodmer 6.7a, Nr. 69): »Octo schreibt mir, das St-Gallische Ministerium habe sich bey dem Bücher Censor in Lindau, über die religiose Gespräche beschwäret und dadurch die Recension Hn Lavaters, an der Publication gehindert.«

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann