Wie tief hat die vorsehung sie verwundet, theuerster Sulzer, welchen unersezlichen verlust haben sie erlitten! Wie ganz empfinde ich ihn mit ihnen! Wie sind sie zu bedauern, wenn sie ihren jammer nicht mit mehr stärke ertragen, als ich selbst einen gleichmässigen ertragen habe! Ich muß mich schuldig geben, daß erst die Zeit und der Ausgang mich auf die anbetung der immer wol ordnenden und es immer wol meinenden providenz zurükgeführt hat. Ich entdekte die gutthat, die mir durch das geschah, was ich unglük und verlust betitelte, erst durch späte betrachtungen, in welche societätische wirbel das leben meines sohnes mich verwirbelt haben würde, in geschäfte zu welchen ich schlechterdings ungeschikt bin, mit welchen die Ruhe des Körpers und des geistes nimmermehr bestehen können. Der Himmel vergebe mir meine thörigte ungeduld, die noch strafbarer dadurch ward, daß ich vergaß daß mein verstorbener in seligern gegenden und zu besserer gesellschaft gegangen war, von da ich ihn ohne Grausamkeit nicht zurükgenommen hätte. Wie gern will ich mich von Ihnen übertreffen lassen, daß sie ihren Trost nicht von dingen die ausser ihnen sind, nicht von Zerstreungen suchen müssen! Sie haben mir einmal geschrieben, daß in der allgemeinen Noth ihre eigene ihnen vorkömme, wie ein tropfen im Ocean. Ihr jammer ist sonst in tage gefallen, wo das schiksal thaten gebiehrt, die dazu bestimmt scheinen, daß sie ihre gedanken von ihrem leide auf sich ziehen. Nur wenn sie so schwach sind als ich war, so sind sie für dies alles gefühllos, und sehen sich selbst an, wie mit der dunkeln Erde vermengt, wie leblose materie, – das waren Empfindungen bey mir, und nicht bloß poetische Ausdrüke.
Wenn sie mich deßwegen verachten, so lassen sie mir nur mein Recht widerfahren. Ich unterwerfe mich ihren tadel, und vertraue ihrer großmuth, daß sie ihre theuerste Wilhelmine mit einer Mässigung beweinen, welche Ihnen bey ihr unter den höhern Geistern, mit welchen sie izt umgang hat, mehr Ehre machet, als ich meinem liebsten todten gemachet habe. Sie soll auf sie herabsehen ohne zu fürchten, daß ihr anblik durch seine unmässige Wehmuth etwas widriges in ihre himmlische Ruhe werfen möchte. – Aber wie wird die selige izt mit Mitleiden gewisse Arbeiten von meiner Muse ansehn, die sie in ihrem irdischen leben für etwas gehalten hatte! Ich hoffe doch daß sie in irdische augen nicht ganz nichtswürdig seyn, weil sie, als sie noch in dem Cörper war, Geschmak daran gefunden hat. Aber ich selbst habe seit einiger Zeit sehr klein von meinem Noah gedacht, und ich kann nicht ruhen bis daß ich ihm eine bessere gestalt gegeben habe. Hr. professor Kästner hat durch sein Epigramma dise gedanken nicht erst erweket, sondern nur vermehret.
Izt wollte ich ihnen, von dem Recueil des poesies du philos. de Sans S., von den Essais sur divers sujets de morale et de politique, von der Clementina, von der Electra, und dem Ulysses viel seltsame dinge sagen, wenn ich vollkommen vergewissert wäre, daß sie ihren Geschmak an disen sachen nicht zugleich mit dem staube ihrer geliebten und liebenswürdigsten begraben haben. Schreiben sie mir bald daß sie für ihre liebsten kinder, für ihre Freunde, für ihr wörterbuch, für die tage des friedens, des triumphes und der Ruhe, welchen wir so nahe sind, noch da sind, noch leben, noch fühlen. – Vielleicht hätte mein Ulysses nicht so natürlich geweint, wenn Bodmers Vaterherz nicht geblutet hätte.
Der Doctor Zimmermann von Bruk, dem ich die Electra geschikt, hat mir geantwortet, daß ich ihm unnöthiger weise eine falle geleget hätte, und daß er mir für die Electra des Euripides ungemein verbunden wäre. Aber es ist so fern, daß ich mir auf seine meprise etwas einbilde, daß ich vielmehr in meinen vorigen gedanken besteift werde, Hr. Zimmermann sey mit den griechischen tragicis, und überhaupt mit der tragischen Schaubühne schlecht bekannt.
Sobald Sie sich von der ersten betäubung wieder erholt haben, so lassen sie es ihren Künzli, Sulzern, Waser, Bodmern durch einige aufgewekte Zeilen wissen. Wir leiden so sympathetisch mit ihnen daß sie unser zu schonen dem Schmerzen Widerstand thun müßen. Der gute wakere Brunner hat mir herzlich geholfen, seine theure Tante, und noch mehr seinen liebsten Oncle beweinen. Ich werde den 6ten Mayens und folgende tage in Tös und Winterthur seyn, wo sie in allen unsern unterredungen mit seyn sollen. Der Dr. Geßner, mein schwager, ist izt amtmann in Tös. Ich umarme sie mit schwellendem Herzen.
Ihr ergebenster, um sie bekümmerter Freund und Diener Bo.
Z. den 9 April 1760.
H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.
A Monsieur Soulzer professeur tres célèbre presentt à Magdebourg.
Bodmer, Electra und Ulysses (beide 1760).
Blatt an Siegelstelle abgerissen. – Nachtrag von Hans Kaspar Schulthess auf der Rückseite des gefalteten Briefes: »Recevez aussi mon cher, de ma part les sentiments de la plus juste compassion/ pr la douloureuse Perte que vous avez faite: Le ciel vous aide à la supporter./ Je suis entierement a vous G Sch.« (Übers.: »Empfangen Sie, mein Lieber, auch von meiner Seite die Empfindungen des aufrichtigsten Mitleids für den leidvollen Verlust, den Sie erlitten haben: Der Himmel helfe Ihnen, diesen zu ertragen. Ich bin gänzlich Ihrer G. Sch.«)