Brief vom 27. Mai 1760, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 27. Mai 1760

Mein theürer Freünd.

Sie werden mirs doch vergeben, wenn ich iezt selten und nur kurz schreibe. Beydes, Leib und Geist, sind nicht zum Schreiben aufgelegt. In meinem Geblüth scheint ein Fieber herum zu schleichen, welches einen diken Nebel um meine Augen verbreitet und seit 14 Tagen hat mich auch die süße Gabe des Schlaffes, sonst die einzige Erquikung meines einsamen Lebens, ziemlich verlaßen. Ich ertrage mein Elend zwahr mit Gelaßenheit, ohne Ungeduld und ohne Murren, aber es liegt dennoch schweer auf mir. Mein Garten ist meine größte Erquikung.

Haben Sie tausendfachen Dank für ihre Elektra, und noch mehr für den erhabenen Ulyßes. Unter die Thränen, die ich dabey vergoßen mischten sich viele, die der verstorbenen Freündin zugehören. Wie sehr würde sie sich über so fürtreffliche Stüke gefreüt haben! Ich habe in Magdeburg mein Leiden dadurch zu versüßen gesucht, daß ich das edle Leben und den erhabenen Charakter der theüren Freündin entworffen. Jezo bin ich daran [→]diese Schrifft für meine Freünde nebst ihrem Portrait abdruken zu laßen. Wollen Sie noch einige Blumen auf das Grabmal der Geliebten streüen, so schiken Sie mir dieselben bald.

Der Philotas, die Vorrede zu der Übersezung des Homers und besonders die Abhandlung in den freymüthigen Nachrichten von dem Zustand des Geschmaks, haben mich äußerst vergnügt. Ich hatte in verschiedenen Artikeln meines Wörterbuchs dieselben Wahrheiten sehr laut, aber nicht so gründlich geprediget, nun will ich alles verstärken. Im Ulyßes ist es mir etwas hart vorgekommen, daß ein falsches Orakel, zukünftige Dinge würklich vorhersagen kann. Ihren verbeßerten Noah erwarte ich mit großer Ungeduld. Aber ich vermahne Sie nicht allzu strenge zu seyn. Es sind nicht viel Dinge in dem Alten, die ich mißen möchte. Sezen Sie sich so viel nöthig über den Tadel der schlechtdenkenden und niedrig fühlenden deütschen Kunstrichter mit der Freymüthigkeit, die ihren Verdiensten und ihrem Alter anstehen hinaus. Wem kommt mit mehr Recht als Ihnen zu diesen Leüthen zu sagen Anch' io son' critico? Ich bin auf eine Zusamenkunft mit Klopstok in Magdeburg oder Halberstatt eingeladen, kann aber nicht dahin gehen.

Sehen Sie doch, wie Sie den Hrn. Bürgerm. Leü befriedigen. Es ist mir jezo unmöglich es zu thun. Tragen Sie es unserm Freünd Künzli auf. Aber sagen Sie ihm dabey, daß es mir höchst zuwieder seyn würde, wenn etwas anders, als bloß Historische Umstände herein kämen. Von diesen sind folgende die merkwürdigsten. Ich bin gebohren den 16 Oct. 1720. Von 1736 bis 39. habe ich in Zürich studirt, Ao. 39 bin ich, wie wol mit vielem Wiederspruch von Seiten des verstorbenen Canon. Hirzel ad Ministerium ordinirt worden. Während dieser Zeit hatte ich der Freündschaft des Hrn. Can. Geßners sehr viel zu danken. A 41 u. 42 bin ich Vicarius zu Maschwanden gewesen und bekam in dieser Zeit die Direction der Antiquitäten Gräberey zu Lunnern. Gegen Ende 43 bin ich nach Deütschland gereist und die Jahre 44 bis halb 47. habe ich in Magdeb. zugebracht. Während dieser Zeit sollte ich Hofmeister des iezigen Erbprinzen von Bernburg werden, aber ich fand keinen Geschmak daran. Von da wurd ich durch die Vermittlung des verstorb. Præs. v. Maupertuis an das Königl. Gymnasium als Prof. Mathes. beruffen, und 50 in die Acad. aufgenomen, und in eben diesem Jahre, habe ich nach einer in das Vaterland gemachten Reise mich verheyr. und habe jezo 3 Töchter am Leben.

Von meinen Schriften kann ich Ihnen keine genaue Nachricht geben, weil ich keine einzige davon in Händen habe. Das wird unser Freünd wol thun können. Und cui bono? Aber ich möchte doch gerne Ihro Gnaden nichts abschlagen, weil ich die größte Hochachtung für dieses Haupt des Staates habe.

Hr. Wieland hat mir ein paar mal geschrieben. Ich sollte seine Clementina der Pr. von Pr. übergeben. Vorläuftig hatte ich schon davon gesprochen, aber er hat sie mir entweder nicht geschikt, oder sie ist unterwegens verlohren gegangen. Laßen Sie ihn doch dieses wißen.

Leben Sie wol mein theürester Freünd und grüßen Sie alle unsre Freünde.

den 27 May.

Laßen Sie doch ihrem Nachbar Hrn. Escher wißen, daß ich seinen Brief in Magdeburg bekomen, seinen Boten aber nicht gesehen habe. Deswegen habe ich auf die aufgetragene Commission nicht bestellen können. Ich werde ihm bald antworten.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a.

Eigenhändige Korrekturen

zugebracht. Während dieser Zeit sollte ich Hofmeister des iezigen Erbprinzen von Bernburg werden, aber ich fand keinen Geschmak daran.
zugebracht. |Während dieser Zeit sollte ich Hofmeister des iezigen Erbprinzen von Bernburg werden, aber ich fand keinen Geschmak daran.|

Stellenkommentar

Mein Garten
Zu Sulzers erstem Berliner Garten vgl. Kittelmann Botanisches und gartenbauliches Wissen in Sulzers (Brief-)Werk 2018, S. 270 f.
diese Schrifft [...] nebst ihrem Portrait
Das im April und Mai 1760 in Magdeburg verfasste Ehrengedächtniß ließ Sulzer in überarbeiteter, vermehrter Form und um ein Porträt seiner Frau, eine Titelvignette sowie eine »Klage« erweitert 1760 bei Winter in Berlin als Ehrengedächtniß der Frauen Catherine Wilhelmine Sulzer gebohrner Keusenhof drucken.
Philotas
Zu Lessings 1759 erschienenem Philotas. Ein Trauerspiel vgl.: Nisbet Lessing 2008, S. 316–325.
Vorrede zu der Übersezung des Homers
J. J. Bodmer, Vierter Gesang und sechster Gesang der Ilias. In Hexametern übersetzt, 1760, Vorrede.
die Abhandlung in den freymüthigen Nachrichten
Vermutlich der mehrteilige Aufsatz Zufällige Gedanken über einige neue Bücher. In: Freymüthige Nachrichten, 30. Januar 1760, St. 5, S. 36–38. Dann als Fortsetzung der zufälligen Gedanken über einige neue Bücher und kleine Schriften erschienen. In: ebd., 5. März 1760, St. 10, S. 77–79. – 19. März 1760, St. 12, S. 90–93. Weitere Teile erschienen im 16. und 17. St. (16. und 23. April) sowie im darauffolgenden Jahr. Vgl. Brief letter-bs-1761-03-04.html.
ein falsches Orakel
Die Handlung von Bodmers Ulysses dreht sich um einen delphischen Orakelspruch, der Ulysses zum künftigen Mörder seines eigenen Sohnes erklärt. Im Zentrum des Stücks steht die Auflösung des Orakels. Vgl. [J. J. Bodmer], Ulysses, 1760, S. 16–18.
verbeßerten Noah
Bodmers vollständige Überarbeitung des Noah erschien 1765 als Die Noachide in Zwölf Gesängen.
Anch' io son' critico
Übers.: »Auch ich bin ein Kritiker«. Vermutlich Anspielung auf das »Anch'io sono pittore!«, das einer Anekdote zufolge Correggio beim Anblick von Raffaels Vision der heiligen Cäcilie ausgerufen haben soll.
Zusamenkunft mit Klopstok
Klopstock war im Mai 1760 von Gleim eingeladen worden, sich auf dem Weg nach Pyrmont einige Zeit in Halberstadt aufzuhalten. Die anschließende Weiterfahrt hätte Gleim gern in Begleitung Sulzers gesehen, doch dieser schlug die Einladung aus. Vgl. Sulzer an Gleim, 25. April 1760 (Körte (Hrsg.) Briefe der Schweizer 1804, S. 324 f.).
wie Sie den Hrn. Bürgerm. Leü befriedigen
Hans Jakob Leu, Staats- und Finanzpolitiker, war seit 1759 Bürgermeister von Zürich und gab das umfangreiche Referenzwerk Allgemeines Helvetisches, Eydgenößisches, Oder Schweitzerisches Lexicon heraus, das von 1747 bis 1765 in 20 Bänden erschien. Für den 17. Band (Se.--T.) bat er Sulzer um eine biografische Notiz. Der dazugehörige Brief an Sulzer ist nicht überliefert. Das Lexikon wurde 1786–1795 von Hans Jakob Holzhalb um sechs Supplementbände ergänzt.
folgende die merkwürdigsten
Siehe die Ausführungen im gedruckten biografischen Artikel in Leus Lexicon: »legt den Grund seiner Studien zu Winterthur, setzt sie von An. 1736. bis 1739. in der Stadt Zürich fort, ward A. 1739. unter die Kirchen- und Schul-Diener aufgenohmen, A. 1741. Vicarius des Pfarrers von Maschwanden, A. 1743. reisete er nach Deutschland, und war bis A. 1747. Informator eines Kaufmanns Söhnen zu Magdeburg, und ward inmittelst auch zum Hofmeister des Erb-Prinzen von Anhalt Bernburg vorgeschlagen, welche Stell er aber nicht angenohmen, A. 1747. aber durch Vermittlung des Præsidenten der Königl. Academie von Maupertuis, zum Professore Matheseos in dem Collegio von Joachims-Thal zu Berlin beruffen, welche Stell er den 2. Nov. dieses Jahrs angetretten, und den 29. Oct. A. 1750. auch zu einem Mitglied der Königl. Societät der Wissenschaften in selbiger Stadt aufgenohmen worden« (H. J. Leu, Lexicon, 1762, Bd. 17, S. 745–747).
die Direction der Antiquitäten Gräberey
Vgl. SGS, Bd. 8 und darin Sulzers Schriften Ausführliche Beschreibung einer Merkwürdigen Entdeckung, verschiedener Antiquitäten, in dem, in der Herrschafft Knonau gelegenen Dorff Nider-Lunnern, in dem Jahr 1741 (1741) und Fortsetzung der Beschreibung merkwürdiger Antiquitäten, welche bei Lunneren, in der Herrschaft Knonau, sind gefunden worden (1742).
Hr. Wieland hat mir ein paar mal geschrieben
Wielands Briefe an Sulzer sind nicht überliefert. Vgl. die Rekonstruktion zweier Briefe vom 9. März und 17. April 1760 (Wieland Briefwechsel 1963, Bd. 1, S. 447–449.). An Bodmer schrieb Wieland am 9. März 1760: »Ich setze mich itzt unserm Sulzer in Berlin zu schreiben. Sein Schiksal hat meine Seele verwundet. Er schrieb mir wenige Tage vor dem Tode seiner Geliebten«. (ZB, Ms Bodmer 6.15, Nr. 26).
der Pr. von Pr. übergeben
Wieland widmete sein Drama Clementina von Porretta der »Princessin von Preussen«, Amalie von Preußen, der Sulzer in Wielands Namen ein Exemplar übergeben sollte.
seinen Brief
Hans Konrad Eschers Brief an Sulzer nicht ermittelt.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann