Brief vom 16. Oktober 1759, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 16. Oktober 1759

Ihren lezten Brief vom 6 October, mein theürer Freünd, habe ich zu der Zeit erhalten, da meine Frau sich in Bereitschaft sezte mir einen Sohn zugeben. Dieser werthe Brief versüßte ihr einige schmerzhafte Minuten, und bald darauf kam der neüe Weltbürger stark und gesund an. Er hat seiner Mutter mehr Schmerzen gemacht, als seine Schwestern, und ich hoffe, daß er sie dafür auch reichlicher belohnen werde. Er hat das ernste und finstere Aussehen seines Vaters in vollem Maaße auf seinem Gesicht, aber ich hoffe, daß die Erziehung ihm die Sanftmuth und lächelnde Tugend seiner Mutter geben werde. Gönnen Sie diesem kleinen Freünd ihre Gewogenheit, wenn Gott uns vergönnet ihn groß zu ziehen, so soll seine Seele durch ihre Gesänge zur Tugend gebildet werden. Gott sey dank, daß kein Feind und kein naher Lerm des Krieges seine Ankunft in das Leben gestöhret hat.

Wir sind in der That jezo so ruhig, als wenn kein Krieg wäre, ob wir gleich noch große Begebenheiten erwarten, ehe die Heere auseinandergehen. Die Rußen ziehen sich immer nach Pohlen hin. Laudohn, der noch bey ihnen ist sucht mit Ehren wieder zu den seinigen zu kommen, aber der König versperrt ihm die Wege; Er wird einen übeln Rükzug haben, oder sich entschließen müßen mit den Rußen zu gehen. Prinz Heinrich und Daun stehen sehr nahe beysamen an der Elbe zwischen Torgau und Meißen, und keiner kann den anderen, wegen seiner Vortheilhaften Stellung angreiffen. Heüte sagt man, der Prinz habe sich etwas näher an Torgau auf eine Ebene gezogen, vermuthlich um zu versuchen, ob sein Feind die Berge auch verlaßen wolle. Der König wird von seinen Generalen ofte übel betrogen. Schmettau hat sich in Dreßden wie ein Kind aufgeführt. Er übergab die Statt in dem Augenblik, da Wunsch mit starker Hülffe vor den Thoren anlangte. Ich bin geneigt es dem König zu einem großen Fehler anzurechnen, daß er solche Vergehen, oder recht zu sagen, solche Untreü ungestraft läßt. Es ist ganz gewiß, daß ein großer Theil der Nation, durch andre Motive, als Ehr und Vaterland müßen bewogen werden.

Gott sey Dank, daß der Sieg, den Sie mir ankündigen erdichtet ist, um diesen Preis wollen wir die ganze Daunische Armee nicht erkauffen. Denn was immer die Mauberts, auch was immer W. von ihm sagen, so ist gewiß, daß die Wolfarth dieses Landes, von seinem Leben abhängt. Aber er wird von einem großen Theil seines Volks verkennt. Decipit frons prima multos, und ich dächte ein Philosoph wie W. ließe sich nichts überreden, weder durch Menschen, noch durch einen Anschein.

Ich habe die erste Gesänge des Cyrus nur erst flüchtig durchgelesen, und finde sie mehr virgilisch als Homerisch. An vielen Orten ist der Dichter mir zu wortreich, wo ich statt vieler kleinen etwas weitgedänhten Empfindungen eine einzige starke und ungekünstelte haben möchte. Einige Charaktere sind mehr nach der noch etwas Schülerhaften Einbildung eines jungen Menschen, als nach der Philosophischen Kenntnis der Welt entworffen. Ich würde mich bey dem Alter und dem eingeschrenkten Leben des Dichters nicht darüber wundern, wenn er nicht ein so starker Leser der Alten wäre.

Ich bin nicht im Stande W. verlangen nach dem Titel eines Academici genüge zu thun. Der verstorbene Præsident hat uns so mit unbekannten Namen überhäuft, daß wir lange haben werden, diese gelehrte Ehre wieder in ihren rechten Werth zu sezen. Multitudine vilescunt. Zudem haben wir keine Claße die Dichtern ein Recht zur Aufnahm gäbe, und über dem allem, bin ich von denen die ihre Stimmen zu geben haben der einzige, der W. nach seinen Verdiensten kennt; meine Collegen würden ohne Zweifel alle fragen wer ist W. ist er ein Mathematicus oder Physicus? Damit will ich aber nicht sagen, daß die Sache gar niemal angehen könne, aber man muß auf Gelegenheit warten. Ich zweifle, daß sein Aufenthalt in Bern so lange dauren wird, als er in Zürich gedauert hat.

Kleist hat seinen ersten Lobredner an Nicolai gefunden. Ramler, Leßing und Gleim haben noch nichts gethan. Eine neüe Ausgabe aller seiner Gedichte ist schon bey seinem Leben veranstaltet, aber noch nicht fertig geworden. Leßing hat 3 Bücher neüer Fabeln nebst weitläuftigen critischen Abhandlungen über dieses Gedicht herausgegeben. In beyden ist viel schönes. Aber seine Theorie der Fabel ist noch nicht vollkommen. Seine Schreibart ist da wo er von andern abgeht plump, und er scheinet sich dieses überall zur Regel gemacht zu haben, nicht höflich zu seyn. Von Gleimen habe ich seit 6 Monat gar nichts bekommen, und Ramler kenne ich kaum noch, wenn ich ihn sehe. Ich habe immer gesagt, daß dieser kein starker Kopf sey, und ich finde noch nicht, daß ich geirrt habe. In Leßing steken viele Ramler.

Ich habe den jungen Escher, von dem Sie schreiben gesprochen. Er ist gesund aus der Schlacht bey Frankf. gekommen und steht iezt gegen die Schweden. Es wär Schade, wenn er sich nicht gänzlich dem Kriegswesen widmete, zu welchem er viel Genie zeiget.

Das Gemälde, welches Sie mir von unserm Breitinger machen, hat mich sehr ergezt. Gaudeant bene nati. Mir wäre es eben so unmöglich, als Ihnen, mich so in alles zu schiken. Auch das Abschreiben eines alten Mst. wäre gar meine Sache nicht. Und weder Homer noch Plato wären bekannt, wenn sie es durch eine Copie von meiner Hand hätten werden müßen. Wie nüzlich ist es, daß Sie keinen Geschmak an mechanischen Verrichtungen haben, die das Gesellschaftliche Leben erfodert, und daß ihr Closet ihnen eine Welt ist. Was gehen alle Pfrundeinkünfte die Welt an. Ein Bogen aus dem Noah ist mir wichtiger, als alle Probsteyrechnungen. Es ist aber gut für uns Zärtlinge, daß es Leüthe giebt, die das für uns besorgen, wofür wir einen Ekel haben würden.

Warum machen Sie mich doch immer so lüstern, ohne mir etwas kosten zu laßen. Da ich noch nach dem Œdipus &c. mich vergeblich sehne, laßen Sie mir schon wieder den Arnold von Brescia von weitem sehen. Gesezt auch daß Sie mehr spielen als arbeiten. Die Spiele eines Philosophen von 62 Jahren sind keine Spiele. Die Arbeiten eines feürigen Jünglings sind es weit mehr. Ich bin ja auch kein Jüngling mehr, ob ich gleich erst seit 24 Stunden einen Sohn habe. Wenn Sie ihre neüere Beschäftigungen nicht publiciren wollen, so laßen Sie mich doch dieselben lesen. Ich werde sie Ihnen wol verwahrt wieder zuschiken; denn ich komme niemal aus der Gesellschaft ihrer Schriften unbereichert wieder zurüke.

Mein Neveu, ihr Mitbürger, wird Ihnen ein Portrait von unserm Helden einhändigen, welches ich in meinem Nahmen dem Philokles zuzustellen bitte. Die Ähnlichkeit ist zuverläßig und nach dem Leben, aber vor etlichen Jahren gemacht, da der Held noch in der ersten Blüthe des männlichen Alters war. Es sind aber dieselben Züge, die noch jezo die feinde schreken und die Freünde ergezen.

Dies ist nun genug für einen Menschen, der die halbe Nacht durch gewacht hat. Leben Sie wol, mein theürester. Meine Wilhelmine grüßt Sie zärtlich und empfiehlt Ihnen ihren Sohn.

Ich habe nicht Zeit noch Kräfte nach Winterthur zu schreiben, verkündigen Sie meinen Freünden die Ankunft des jungen Gastes.

Ich verbleibe

Ihr ergebenster S.

den 16 Oct. an meinem 40sten Geburtstage.

Vergeben Sie daß ich innliegenden Brief so späthe schike. Er hatte sich unter meine Papiere verkrochen und ist vergeßen worden. Ich hoffe daß nichts daran gelegen sey.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a. – E: Anonym Über Friedrich den Großen II 1807, S. 256–258 (Auszug).

Vermerke und Zusätze

Vermerk Bodmers auf der letzten Seite: »Ratgeb«.

Lesarten

nur
nun

Eigenhändige Korrekturen

Recht zur Aufnahm
Recht ⌈zur⌉ Aufnahm
die das für
die für das für

Stellenkommentar

einen Sohn
Sulzers Sohn Georg Wilhelm war am 15. Oktober 1759 geboren worden und verstarb wenige Monate später am 2. Januar 1760.
Decipit frons prima multos
Phaedr. Fab. IV, 2, 5–6. Übers.: »Da täuscht die Außenseite viele.« (Phaedrus, Fabeln, 1996/2014, S. 111).
verstorbene Præsident
Maupertuis war am 27. Juli 1759 gestorben.
weitgedänhten
Verschreibung Sulzers, gemeint ist »weitgedähnten«.
Mein Neveu
Sulzers in Zürich lebender Neffe Salomon war der Sohn von Sulzers Schwester Verena (1708–1751) und Hans Caspar Brunner (1682–1757). Er hatte sich seit dem Frühjahr 1759 in Berlin aufgehalten. Vgl. Sulzer an Künzli, 5. Juni 1759: »Vor einiger Zeit kam mein neveu, des seel. Dechant Brunners Sohn hieher. Er ist ein rechtschaffener Jüngling, der mir lieb und werth ist.« (SWB, Ms BRH 512/73). Brunner wurde später Pfarrer der deutschen reformierten Gemeinde in Moskau. Vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1767-09-16.html.
Portrait von unserm Helden
Bei dem Porträt Friedrichs handelte es sich um ein 1737 entstandenes Gemälde von Knobelsdorff, das den preußischen König als Kronprinzen im Profil zeigt und das Sulzer mehrfach kopieren ließ (vgl. seinen Brief an Künzli vom 5. Juni 1759, Kommentar zu Brief letter-sb-1759-07-00.html). Die an Zellweger übersandte Kopie befindet sich heute noch im Zellweger-Zimmer im Gemeindehaus in Trogen. Vgl. dazu Eisenhut Das Profilbildnis Friedrichs II. in Trogen 2007. – Tafel 19.
an meinem 40sten Geburtstage
Eigentlich Sulzers 39. Geburtstag.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann