Brief von September 1759, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: September 1759

Ihre Briefe vom 14. 18. 25. haben uns in dieselben Symptome gestürzt, die sie so stark beschrieben haben. Wir sind nicht alle so herzhaft gewesen wie sie; und die schönen vorstellungen, womit wir dem König beigestanden, haben nicht auf jeden von uns macht gehabt die Eindrüke der wienerischen siege zu zerstreuen. Mich haben diese mitten in einer tragischen Arbeit aufgehalten, in welcher ich Arnolden Brixiensem die Reformation des Gl. vorspielen ließ. Die sprache ward mir gehemmt daß ich meinen Oedipus, den ich einigen Freunden zu lesen versprochen, nicht recitieren konnte. Nur ein glücklicher revers kan mich wieder in Activität sezen. In dieser Verlegenheit habe ich die Meßgelegenheiten versäumt. Sie sollten Iselis versuch über die Gesezgebung, ein gutes wort für die Hexameter, Ablehnung der beschuldigung, daß die verzärtelten poeten an dem verderben der sitten schuld haben, Sophocles Oedipus von Steinbrüchel – bekommen haben. Da ich mit der Johanna Grai so gut bey ihnen angekommen bin, so hatte ich auch Gedanken ihnen meine Electra, Oedipus und Ulysses zu zeigen. Ein leser wie sie sind ⟨izt⟩ mir an statt einer menge, wie ein parterre ist.

Iseli hat Montesquieu für einen verführer erklärt, der tugend und Ehre von einander trennte. Ich habe ihn vergebens erinnert, daß er ein observator wäre. Sein werk ist eine schöne predigt, die so viel würken wird, als diese in unserm verderbten Weltalter würken. Er wollte gern die leute durch einen sprung gut und gerecht machen. Also hat er das Gymnasium Helvet. bey der Restitution der Conquêtes von 1712 anfangen wollen, wovon es eine ursache hätte werden können. –

Haben sie die Defense de la revocation de l’edit de nantes gelesen, so haben sie die Frucht der unverschämtesten bosheit gelesen.

In diesen tagen der beklemmniß ist Hutton etliche mal bey mir gewesen, einer der vertrauten Freunde des grafen von Zinzendorf und doch das liebenswürdigste Herz, lauter Menschenliebe. So hat ihn auch unser Künzli gefunden. Er ist ein Engelländer. Aber in Lausanne domicilirt und mit einer geistreichen dame von Neufchatel verheurathet. Er hat etwa 50 jahre. Er hat 1756 in London die apologie des grafen publicirt, die ein panegyricus des rechtschaffensten mannes ist.

Sie wissen schon daß Jean Jaques Rousseau mein favorit ist. Laval hat wider seinen brief an Dalembert geschrieben, ein Comödiant hat einen philosophen widerleget, hier denket die französische vernunft, dort die menschliche. Laval hat eine stelle wo er einen mann tadelt, den wir verehren: Un conquerant qui se croit tout permis, a vu la tragedie de Christierne, il l’a aplaudi malgré son penchant à l’usurpation. Il n’en a pas profité. Je voudrois qu’on la lui representat aujourdhui.

Der zweite theil von Browns Estimate of the times ist des verfassers des ersten würdig, und voller starken wahrheiten. Man dächte daß Brown und Rousseau oft mit einander abgeredet hätten. O hätte Deutschland auch Browns und Rousseaux gehabt! Ich denke nachdem dieser unselige Krieg einen ausgang hat, wird der charakter der deutschen sclavisch oder großmüthig, persecutif oder tolerant, undenkend oder woldenkend werden.

Meine Trauerspiele werden mit dem König fallen oder stehen; sie sind sehr unfranzösisch, sehr gegen die Natur dieser Nation.

Unser philocles ist kein Bruder einer betschwester, aber er ist ganz gebete und gelübde, seitdem der K. so den zufall gegen sich hat, ich darf nicht sagen, die Vorsehung. Wieland arbeitet sich zum Berner, zu welchem die natur ihn nicht gewollt hat, und ich denke die philosophie auch nicht. Er hat das haus Hrn. landvogt Sinners verlassen, weil er sich nicht überwinden konnte ein paar dumme knaben die grammatik zu lehren. Izt hat er den tisch bey einem Wilhelmini, und hat ältere Knaben in die information genommen. Wir wissen dieses durch fremde wege, er selbst hat uns noch nichts davon entdekt. Er thut lange nichts mehr nach unserm Rathe.

Wir haben den gefangenen Kleist sehr bedauert. Wolle Gott daß er nicht des Cissides schiksal bekomme. Er hat ein menschliches herz, er war gütig und dapfer. Wie wollen wir ihn umarmen, wenn er uns wieder gegönnet wird, wir sind auch um Gleim bekümmert, wiewol er dreye der freundschaftlichsten briefe, die dreye von seinen hiesigen besten Freunden ihm geschrieben haben mit Verachtung weggeworfen hat. Ramler und Lessing haben auch unsere Wünsche, ob wir gleich den ersten für keinen Genie und den andern für einen bösen Menschen halten. Ich denke Klopstok werde sich von dem sturm des Krieges in die ruhigen Gegenden seines so gesungenen Königs begeben haben. Der Dähne denket wie ein Kaufmann und der schwede wie ein Mietling.

Verzeihen sie mir die Zerstreung der materien in diesem briefe, sie kan wenigstens dienen, sie selbst einige Augenblike zu zerstreuen. Aber Gott gebe daß sie beym lesen dieser Worte nicht nöthig haben zerstreut zu werden. Ich war glücklich daß ich meine Excursion nach Winterthur noch im Julius vorgenommen habe, damals hatten wir grosse Hoffnungen, ruhige gemüther, wir waren ganz zum scherzen und unschuldigen lachen aufgeräumt. Wenn bald wieder gute tage kommen so gehe ich wider an diesen angenehmen ort, den trübsinn, der izt die Hand nach uns ausgestrekt hat, wider von mir abzuschütteln. Schreiben sie mir einmal mit welchem standhaften muth die liebe frau professorinn diese tage der schmerzen bestanden hat.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.

Eigenhändige Korrekturen

haben diese mitten
haben sie diese mitten

Stellenkommentar

Ihre Briefe vom 14. 18. 25.
Vgl. Brief letter-sb-1759-08-14.html und Brief letter-sb-1759-08-25.html. Bei dem Schreiben vom 18. August handelt es sich um den nicht erhaltenen Brief an Künzli, den Sulzer in Brief letter-sb-1759-08-25.html erwähnt. Eine Abschrift davon befindet sich im Konvolut Ms Bodmer 13a.
gutes wort für die Hexameter
[J. J. Bodmer], Ein gutes Wort für den deutschen Hexameter. In: Freymüthige Nachrichten, St. 31, 1. August 1759, S. 242–246. – St. 32, 8. August 1759, S. 250–254.
Ablehnung der beschuldigung
Nicht ermittelt.
Iseli hat Montesquieu für einen verführer erklärt
Vgl. dazu auch die Briefe Iselins an Bodmer sowie Ohne Autor Iselins Leben und die Entwicklung seines Denkens 1947, S. 408 f.
Defense de la revocation de l’edit de nantes
Vermutlich die Schrift von Jean Novi de Caveirac, Apologie de Louis XIV. et de son conseil, sur La révocation de l'édit de Nantes, 1758.
Hutton
Zu James Hutton vgl. Benham Memoirs of James Hutton 1856.
mit einer geistreichen dame
Louise Brandt. Die Hochzeit hatte Nikolaus Graf von Zinzendorf am 3. Juli 1740 in Marienborn durchgeführt.
1756 in London die apologie des grafen publicirt
Eigentlich 1755. Vgl. J. Hutton, An Essay towards giving some just ideas of the Personal Character of Count Zinzendorf, London 1755.
Laval hat wider seinen brief an Dalembert
Pseudonym des Schauspielers Paul Antoine Nolivos de Saint-Cyr. Es handelt sich hier um die Schrift P. A. Laval comédien, à M. J. J. Rousseau, citoyen de Genève. Sur les raisons qu'il expose pour refuter M. d'Alembert, qui dans le VII. Volume de l'Encyclopédie, Article Genève, prouve que l'établissement d'une Comédie dans cette Ville y feroit réunir la sagesse de Lacédémone à la politesse d'Athénes, 1758.
einen mann tadelt
Ebd. S. 16. Gemeint ist Friedrich II.
einem Wilhelmini
Vermutlich der Theologe Samuel Anton Wilhelmi.
des Cissides schiksal
Kleists Held Cissides stirbt von einem feindlichen Pfeil im Rücken getroffen vor den Mauern Athens. Vgl. [E. C. v. Kleist], Cißides und Paches, 1759, S. 38–40.
dreye der freundschaftlichsten briefe
Außer Bodmer (vgl. Brief letter-bs-1759-02-28.html) hatten auch Hirzel und Salomon Geßner am 14. März 1759 aus Zürich an Gleim geschrieben (GhH, Hs. A 1385 u. Hs. A 754).
Mietling
Tagelöhner.
tage der schmerzen
Vgl. Sulzer an Künzli, 22. September 1759: »Meine Wilhelmine ist voll zärtlicher Rührung über ihren freündschaftlichen Kummer für uns. Sie hat sich bey diesen Umständen so aufgeführt, daß sie ihrem und unserm Geschlecht zum beyspiel kann vorgestellt werden. Da der Hof nach Magdeburg flüchtete, wollte ich ihre rathen auch dahin zugehen, um an einem sichern Orte ihre ganz nahe Niederkunft zu erwarten. Unsre dortige Freünde hatten ihr bereits eine Wohnung zurechte gemacht. [...] Aber ihre Standhaftigkeit war unbeweglich, sie war entschloßen, alles ruhig zu erwarten, und in der that ohne furcht, auch im Stande vielen andern Muth zu machen.« (SWB, Ms BRH 512/73).

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann