Berl. den 22 Sept.
Ich schike Ihnen, mein theürer Freünd, beyliegenden Brief an Hrn. Künzli offen, damit Sie darin die Nachrichten lesen können, die ich wegen Mangel der Zeit nicht noch einmal schreiben kann. Die Stunde der Mitternacht ist vorbey, und es läßt sich zu einer angenehmen Morgenröthe an. O Könnte ich doch mein bester Freünd nur einen Tag ihres Umganges genießen, um ihnen alles zu erzählen, was ich hier gesehen und gehört habe! Oder wenn ich ihre Feder hätte, um Begebenheiten und Menschen, einzele Menschen und ein ganzes Volk zu beschreiben und zu schildern! Es ist einer meiner eyfrigsten Wünsche, Sie in der Gesellschaft unsrer Freünde in Philokles Förener Hütte, oder auf den ihm benachbarten Bergen zu sehen, um Ihnen zu erzählen und mein Herz und meine Gesinnungen vor ihnen an den Tag zu bringen. Sie würden ganze Tage sizen und mir zuhören. Friederich und sein Volk und seine Feinde, welcher Stoff zu Unterredungen! Ich denke ofte daran, daß solche Beobachter der Menschen, wie Sie und Philokles sind, hier jezo an ihrem rechten Orte stühnden, sie selbst wären in ihrem Element und würden der Nachwelt merkwürdige Dinge zur Betrachtung hinterlaßen. Vielleicht bin ich so glüklich, daß mein Wunsch noch erfüllt wird.
Sie haben mir ein unbeschreibliches Verlangen nach ihrem Oedipus, ihrem Ulyßes und der Elektra erwekt. Der bloße Einfall einen Kenner der wahren Religion unter die alten Gözendiener zu sezen, ist eine fürtreffliche Erfindung, und giebt Gelegenheit die große Wahrheiten der Religion in einem einnehmenden Licht zu zeigen, zu geschweigen, daß das Phænomenum an sich selbst ausnehmend ist. Versäumen Sie doch, ich beschwöhre Sie, die erste Gelegenheit nicht mich des Versprochenen Vergnügens theilhaftig zu machen.
Iselin ist noch zu jung, sich als einen Gesezgeber zu zeigen, ein lebhafter Geist von seinen Jahren ist gar zu geneigt, die physische Möglichkeit mit der moralischen zu verwechseln. Rousseau und Brown haben bisweilen ihre Säze übertrieben. Sie sind nur da fürtrefflich, wo sie mittelmäßig sind.
Ein vertrauter Freünd des Zinzendorffs und ein liebenswürdiger Mensch zugleich, dies ist mir ein Räthsel, das ich mir nicht auflösen kann. Seyen Sie mir ein Œdipus. Ich bin auf dem Punkt die deütsche Nation zu verachten, da es so rar ist Leüthe von einer gewißen Stärke des Geistes und Gemüthes darin anzutreffen. Hier, wo ich ihre Anzal am größten glaube, sind sie so rar wie gold. Kleist ist durch seinen Tod der besten Zeit der Athenienser würdig, aber bis jezo hat er keinen beßern Lobredner gefunden, als den Frankfurter Nicolai. Friederich ist für sein Land und für seine Zeit zu groß. Die kurze Gesichter reichen nicht dahin, wo seine größe Hauptsächlich sichtbar ist.
Adieu.
H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13a. – E: Anonym Über Friedrich den Großen II 1807, S. 255 f. (Auszug).
à Monsieur Bodmer Professeur trés celébre à Zurich.
Brief an Martin Künzli.
Vermerk Bodmers am unteren Rand der Umschlagseite: »Schulmeister ... von Walliseln bittet nachzufragen ob nicht ein preussischer Officier sey nahmens Rathgeb, aus der Schwiz, von Reiden bey Wallisellen, der zuerst als Soldat in holländischen Diensten gestanden; er hat einen bruder der wirth zu Reiden ist, und eine Schwester, die in Franken dient. Er soll ein obriste oder general seyn.« – Siegelreste.