Brief vom 18. Januar 1755, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 18. Januar 1755

Mein Wehrtester Freund.

Gott habe Dank daß ihre Betrübniß auf den punkt niedergesessen ist, wo sie die Freuden der Welt balancirt, und Sie nicht hindert mit ihrem Zustande zufrieden zu seyn. Aber wie hat es die L. Frau professorinn? Glauben sie wol daß nach so viel verflossenen Jahren, seitdem ich mein liebstes kind habe sterben gesehen, ich mich scheue sein portrait anzuschauen, aus Furcht das Herz möchte mir brechen. Wir lassen es in Heiliger Verwahrung und werfen nur im vorübergehn stillschweigende starke blike auf das Behältniß. Nichtsdestoweniger danken wir der vorsehung die es mehr einem gefährlichen leben als uns entrißen hat. –

Izt ist Hagedorn auch bey unsern geliebten verstorbenen; der wakere mann hat mir noch mit sterbender Hand geschrieben. Er sagt, daß er nur noch an seinen bruder und an Sulzern schreiben werde. Ich bin ihm viel und das beste von der englischen Poesie schuldig. Er hat Sie mit seinem bruder in Briefwechsel gebracht. Ich hoffe dieser rechtschaffene Bruder hat ihn noch im leben angetroffen, und noch umarmet, und er sey desto männlicher gestorben. Fragen sie disen bruder, ob Bohn die Hymnen, die ich ihm für den verstorbenen zugestellt, habe übergeben lassen. Mit meinem brief, den sie in händen haben, mögen Sie nach belieben handeln. Melden sie auch dem Hrn. von Hagedorn, ich werde dem Verlangen des verstorbenen heilig nachkommen, nichts von seinen an mich geschriebenen Briefen weder ganz noch halb verrätherisch ans Licht zu bringen. Ich versichere mich der Segen dieses redlichen mannes allein, den er mir im sterben gegeben hat, sey mehr als stark genug alle flüche in der ästhetischen Nuß zu verwehen. Der boshafte autor treibt noch sein gespötte mit meiner väterlichen trauer. Ist es Schönaich? Wieland und Geßner haben Hrn. Gleim eine Bündniß wider die duncen angetragen, und ihm etliche satyrische und critische stüke gesandt, die er in Sachsen publiciren soll. Sie glauben Er werde nicht so böse auf uns seyn, daß er ihren Beystand [→]adversus communem hostem bonæ mentis ausschlagen werde. Wenn er zu ihnen stehen will so werden sie ihm noch mehr starke schriften schiken. Zu Ramlern haben wir keine hoffnung. Sein oratorio ist ein schelmisches stük. Ich sehe Ihren moralischen Gedanken über unsere Epopöen (dem probiersteine gewisser zweydeutiger schweiger) mit verlangen entgegen. Vielleicht ist es gerade izt die rechte Zeit auf die dunsen zu druken, da sie sich so schamlos bloß gegeben haben.

Man hat hier die betrübte nachricht daß Klopstok an einer auszehrung ohne hoffnung liegt. Wird Hudemann nicht sagen es sey ein Göttliches Gericht? Wie werden Gottsched und Schönaich triumphieren? Ich habe mir niemals versprochen, daß ich die Vollendung der Messiade erleben werde: dieses macht mich bey diesem Zufalle desto unempfindlicher.

Lessing soll in seiner Zeitung die ästhetische Nuß recensirt und die verborgnen Absichten des verfassers entdekt haben. Was für Absichten mögen das seyn? Womit hat Hr. von Kleist es verdient, daß er nicht in die Nuß gekommen ist? Durch die furcht vor seinem degen?

Herr Wiel. hat hier gulden 500. jährlicher Einkünfte, und nur vier Eléves, und lauter gute tage. Man hat ihm gewisse wahrscheinliche Mittel vorgeschlagen, wegen eines Rectorates in Zerbst; er hat sie aber verworfen. Hrn. Kies hat er noch nicht geschrieben. Seitdem er von mir weg ist, hat er nichts wichtiges geschrieben. Izt ist ein stük vom Weltgericht von ihm unter der Presse, welches er noch bey mir verfertigt hat.

Ich selbst schreibe nicht mehr viel; ich verbessere nur, und habe die Nuß selbst so genuzet daß ich etliche Metaphern gemässigt habe. Das ist alle Rache, die ich an dem autor übe. –

Insonderheit habe ich an einer kleinen Epopöe gefeilet, die ich schon vorm jahre verfertiget hatte. Ich werde sie Ihnen übersenden, [→]ut tuo arbitrio stet vel cadat.

Glauben Sie, daß man mich leichter bereden könnte daß meine Gedichte elend, kalt, mager, seyn, als daß Schönaichs Hermann ein gutes stük sey. Ich verzeihe es meinen Tadlern leichter als seinen bewunderern.

Die stüke, die Wiel. und Gessn. Hrn. Gleimen geschikt haben sind: Edward Grandisons Aufenthalt in Görliz; Nothwendigkeit einer Duncias; Vorbereitung zu einer solchen; des Arminius verwandlung in den Hermann; von des Tacitus und Schönaichs schilderey mit worten. Aber das behalten sie für ein geheimniß.

Ich habe mich die leztern monathe stark mit dem Esprit des loix beschäftigt. Ich habe die ehmaligen jungen Freunde Hn Klopstoks beredet, daß sie die zwo ersten stunden ihrer gewöhnlichen zusammenkünfte zur gemeinschaftlichen lesung dieses werkes wiedmen sollten. Sie haben mir de bon coeur gefolget, und zeigen in dieser arbeit viel Ernst und viel Einsichten. Sie sind nicht mehr die Jünglinge, die sie waren, und einige von ihnen sind des Regiments. Ich komme gemeiniglich in diesen stunden zu ihnen; sie berauben sich dann um meinetwillen des Tobaks, den ich nicht mehr ertragen kann. Wieland kömmt nicht zu uns, er steht mit einigen von ihnen nicht gut. –

Hat Hr. Kynzli Ihnen nichts von W. geschrieben? Er ist 10. tage im vorigen herbst um ihn und die Frau Gerichtschreiberin Greblin gewesen. Diese ist W–s Zweite Serena. Er besucht mich alle sonntage, und ist überhaupt sehr wol mit mir zufrieden, die werkeltage giebt er Serenen.

Hier ist das Leben Herrn von Haller unter der Presse, der Autor ist Zimmermann, ein Doctor der Medicin aus Bruk. Das werk soll 20. bogen stark werden. Er hat viel Neider in Bern. Man hält sich ihm nicht sehr für die dienste verbunden, die er nicht dem vaterlande gethan hat. Sein Amt ist eben nicht erhaben. Als Hr. Rathshr. Heideker von standes wegen in Bern bewirthet wurde, muste der baron der Etiquette gemäß vor die tafel stehn, und auf die gesundheit jedes anwesenden anfangen. –

Sie haben mir lange nichts mehr von Herrn Escher geschrieben? Sein Hr. Vater ist ein guter, braver mann. Hr. stadtschr. Sulzer war ein paar tage bey uns. Wir redeten viel von Ihnen. Ich sagte daß ihre trauer sich mit denselben Symptomen zeigete, die ich selbst bey einer gleichen Gelegenheit empfunden hatte. Ich war nicht stärker als meine Liebste; wiewol ich mitten im paroxysmo die unbilligk. des Schmerzens und die seligkeit meines kindes vollkommen erkannte. –

Hätte mein kind gelebt, so wäre kein Noah, keine ColombonaKlopstok wäre nicht nach Zürich gekommen, nicht Wieland; ich wäre nichts als ein Züricher – alle diese poetischen bewegungen wären nicht entstanden, welche Deutschland izt so entzweyen. –

Ich verlange sehr nach nachrichten von Ihnen. Alle ihre hiesigen freunde wünschen ihnen täglich Gutes; vor allen andern

Ihr ergebenster
Bodmer.

raptim. Den 18 Januar 1755

Hr. von Haller hat einen bogen publicirt worinn er seinen antheil an der Myliussischen Entreprise stark rechtfertiget; und so daß wenige schuld auf Sie zu fallen scheint.

Lessing hat in den Vermischten schriften des Mylius leichtfertige sachen so wol von Mylius Charakter, schriften als diesem unternehmen gesagt. Lessing dünkt mich ein zweyter Mylius, eben so determiniert zum angreiffen, eben so schlimm; aber ungleich aufgewekter, wiziger und gelahrter. Wenn er die Partey der guten sache ergriffe, und seinen Wiz für sie anwendete, so würden seine schriften eine gute gestalt bekommen; er selbst würde vermuthlich dabey mehr gewinnen zum wenigsten sich mehr Ehre machen.

Können sie ihn nicht bekehren? Er thut doch alles aus Interet; und fände er sein Interet nicht besser bey der guten Partey? Thun sie einen versuch an diesem sünder. Es fehlt freilich an einem delicaten orte, am Herzen: aber sie wissen die wege in die herzen, und die tugend hat ihre Reizungen. Vielleicht hat er die noch nie erbliket. Zeigen sie ihm dieselbigen.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Eingeschlossen in Salomon Geßners Brief an J. W. L. Gleim vom 24. Januar 1755 (GhH, Hs. A 751).

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite: »18 Jan. 55.«

Lesarten

ein schelmisches stük
ein schülerisches stük

Eigenhändige Korrekturen

in den Hermann
in ⌈den⌉ Hermann

Stellenkommentar

mit sterbender Hand
Hagedorns Brief vom 24. September 1754 (Hagedorn Briefe 1997, Bd. 1, S. 400–404).
an seinen bruder und an Sulzern schreiben
Im Wortlaut von Hagedorns Brief findet sich keine Stelle, die darauf hinweist, dass er Sulzer noch schreiben wollte, sondern dass er vielmehr einen Briefwechsel zwischen Sulzer und seinem Bruder Christian von Hagedorn angeregt hatte. Hagedorn schrieb: »Itzo ist mir niemand willkommener als eine für mich so wachsame uxor domiseda, wie ein Antiquarius sprechen würde, und wie sehr würde es mir auch ein zwar noch immer entfernter, aber desto gewünschterer Bruder seyn, welchen ich neulich mit d H Sulzer in einen kleinen Briefwechsel, wegen seines weitberühmten Cabinetts von Mahlereyen p zu bringen angefangen.« (ebd. S. 401). Die Korrespondenz zwischen Sulzer und Christian von Hagedorn ist allerdings nicht überliefert.
Bohn
Der Hamburger Verleger Johann Carl Bohn. Schreiben Bodmers an ihn nicht ermittelt.
Verlangen des verstorbenen
Vgl. Hagedorns Bitte in seinem letzten Brief: »Ehe ich schliesse, wiederhohle ich aufs inständigste meine Bitte [...], meine, in der vertrautesten Offenherzigkeit, Unordnung und Nachlässigkeit an Sie geschriebenen Briefe, keinen ausgenommen, weder gantz, noch als halb-verrätherisch, extractsweise der Gefahr bloßzustellen, ans Licht zu kommen.« (Hagedorn Briefe 1997, Bd. 1, S. 403 f.).
in der ästhetischen Nuß
Die von Christoph Otto von Schönaich 1754 anonym herausgegebene Schrift Die ganze Ästhetik in einer Nuß, oder Neologisches Wörterbuch, die vor allem gegen Klopstock, Bodmer und Haller gerichtet war.
gespötte mit meiner väterlichen trauer
Vgl. [C. O. v. Schönaich], Ästhetik in einer Nuß, 1754, S. 28: »Herr Bodmer singet daher in seiner Elegie, auf das Absterben seines Sohnes, sehr geistig. Er will sagen: Heute werde ich mit Erzaehlung dieser Sache nicht fertig. Wie malerisch druecket er diesen gemeinen Gedanken nicht aus.«
eine Bündniß wider die duncen angetragen
Vgl. Wielands ersten Brief an Gleim, Zürich, 21. Januar 1755 (GhH, Hs. A 4358). Abgedr. in: Wieland Briefwechsel 1963, Bd. 1, S. 221–224. Geßner schrieb in derselben Zeit einen Brief an Gleim, in dem er diesen konkreter um Protektion und Verlag der neuen Zürcher Schriften in Deutschland bat. Bodmers Brief an Sulzer war in dieses Schreiben eingeschlossen. Vgl. Geßner an Gleim, 24. Januar 1755 (GhH, Hs. A 751). Abgedr. in: Körte (Hrsg.) Briefe der Schweizer 1804, S. 228–231.
adversus communem hostem
Übers.: »gegen einen gemeinsamen Feind der guten Einstellung«.
daß Klopstok an einer auszehrung
Woher Bodmer diese Information über Klopstocks Krankheit hatte, konnte nicht ermittelt werden. Vermutlich bekam er sie aus dem Umfeld von Hartmann Rahn. Vom Oktober 1754 bis Januar 1755 sind keine Briefe Klopstocks überliefert.
Hudemann nicht sagen
Der Hamburgische Dichter Ludwig Friedrich Hudemann, der mit Heldengedichten und Trauerspielen in Erscheinung getreten war.
in seiner Zeitung die ästhetische Nuß recensirt
Berlinische privilegierte Zeitung, St. 98, 15. August 1754.
ein stük vom Weltgericht
Wielands Hexametererzählungen Gesicht von dem Weltgerichte und Cidli und Lazarus wurden 1755 in den gemeinsam mit Bodmer verfassten Fragmenten in der erzæhlenden Dichtart; Von verschiedenem Innhalte publiziert.
die Nuß selbst so genuzet
In Bodmers zwei Exemplaren von Schönaichs Ästhetik in einer Nuß sind keine handschriftlichen Anmerkungen enthalten. Vgl. ZB, Sign. Gal Ch 159,2 u. Sign. 25.14,5.
an einer kleinen Epopöe gefeilet
Wahrscheinlich ist damit das Kurzepos Die gefallene Zilla. In drei Gesängen gemeint, das Bodmer in vorigen Briefen unter dem ersten Namen Lilith erwähnte.
ut tuo arbitrio
Übers.: »damit es durch Dein Urteil aufrechterhalten bleibt oder fällt«.
stüke, die Wiel. und Gessn.
Die als Manuskript überschickten »stüke« Wielands entsprechen der 1755 gedruckten (und gemeinsam mit Bodmer verfassten) Schrift Edward Grandisons Geschichte in Görlitz sowie der Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen. Nebst dem verbesserten Hermann.
nichts von W. geschrieben
Wieland war im Sommer 1754 in nähere Bekanntschaft mit den Geschwistern Martin und Regula Künzli getreten und hielt sich fortan öfter in deren Haus in Winterthur auf. 1755 sprach er in einem Brief an Gleim bereits von seinem »vortrefflichen Freunde« Künzli. Bei Künzlis traf er sich auch mit der verwitweten Elisabeth Grebel, mit der ihn eine enge Freundschaft verband, die er allerdings wegen des großen Altersunterschiedes nicht ehelichte. Vgl. Hirzel (Hrsg.) Wieland und Martin und Regula Künzli 1891, S. 65–77.
W–s Zweite Serena
Wieland nannte Sophie von La Roche in seinen Briefen »Serena«.
das Leben Herrn von Haller
J. G. Zimmermann, Das Leben des Herrn von Haller, 1755. Der Verfasser Johann Georg Zimmermann, 1728 in Brugg geboren und dort zu dieser Zeit auch als Stadtarzt tätig, hatte bei Haller in Göttingen studiert und promoviert. Neben popularphilosophischen Abhandlungen wie Vom Nationalstolze und Ueber die Einsamkeit übte sich Zimmermann auch in der Dichtung und übersandte Bodmer regelmäßig seine Texte (siehe z. B. Brief letter-bs-1756-04-10.html). Zimmermann, der ab 1768 königlicher Leibarzt in Hannover war, zählte zu den wichtigsten Freunden und Korrespondenten Sulzers. Vgl. Kommentar zu Brief letter-sb-1771-12-10.html. – Bodemann Johann Georg Zimmermann 1878.
Hr. stadtschr. Sulzer
Johannes Sulzer aus Winterthur.
einen bogen publicirt
Bei D. Albrechts von Haller Director der vom Hrn. Mylius unternommenen Reise, Nachricht von derselben handelt es sich um sechs Blätter, die in Bern 1754 erschienen und in denen Haller seine Rolle an dem gescheiterten Expeditionsvorhaben von Christlob Mylius beschrieb und rechtfertigte. Mylius sollte im Auftrag der Berliner Akademie eine Forschungsreise nach Nordamerika durchführen. Die Schirmherrschaft über dieses Vorhaben übernahmen Sulzer und Haller. Aufgrund Mylius' verschwenderischem Umgang mit den finanziellen Ressourcen (Haller führte die einzelnen Beträge der Förderer auf), die aufgebraucht waren, bevor Mylius überhaupt seine Reise antreten konnte, scheiterte das Vorhaben. Sulzer und Haller sahen sich getäuscht und betrogen. Mylius war im März 1754 in London gestorben.
wenige schuld auf Sie
Haller bemerkte, dass Sulzer die »vornemste Triebfeder bei der Sache« gewesen sei und ihm Mylius empfohlen habe. Im Jahr 1751 hatte Sulzer Mylius die Redaktion der Critischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit übertragen. Vgl. Kommentar zu Brief letter-sb-1750-04-21.html.
Lessing hat in den Vermischten schriften
Lessings Vorrede und die von ihm nach Mylius' Tod zusammengestellten Briefe in dessen Vermischten Schriften, 1754. Darin ist von »feigen Thoren« die Rede, vermutlich ein Seitenhieb auf Haller.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann