Brief vom 10. April 1756, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 10. April 1756

Mein werthester Herr und Freund.

Ich hoffe sie werden den brief den ich unterm 17. voriges monates durch die post an sie abgeschikt habe, sicher empfangen haben. Izt sende ich Ihnen nach meiner gewohnheit durch die Meßgelegenheit etliche neuigkeiten von mir und meinen jüngern Freunden, die sie einige augenblike aufhalten können. Ich füge diese Zeilen mit der nachlässigkeit hinzu, als ob ich zu mir selbst redete. Sie sind gewohnt mir dieses zu erlauben.

In dem [→]Zweiten stücke der freym. nachrichten werden sie etwas für den verfasser der Nicolaischen briefe finden, und noch mehrers im sechsten stücke. Ich halte dafür dieser sey in der satyre mit denen Zügen bezeichnet:

Noch war einer in stentors gefolge der für sich alleine
Sieben stentors in seinem gemüth enthielt, und ein jeder
Von den sieben war schon in den jahren des jünglings ein Stentor.
Dieser sah ihn die Stentors, die in ihm lagen, entfalten,
Und erkannte, wenn er zu seiner reife gekommen,
Daß er mit siebenfältiger Dummheit ihn würde verdunkeln.
Aber wiewol er das sah, ergriff ihn darum der Neid nicht.
Sondern er freute sich ihn so stark an dummheit zu sehen,
Liebt' ihn vor andern u. nannt' ihn die Zweite Hoffnung der Dummheit.

Und vermuthlich gilt eben demselben, was in einem andern pamphlet stehet:

Aber bey ihnen war einer, den seine vater und mutter
Nicolai genannt, die poeten nur Sosius nennen;
Stentors Gesell, boshafter als er, doch verdekter, er brannte
Wider Stentor von grimmigem Zorne daß dieser der dummheit
Vor ihm Altäre gebaut und eher die deutschen verführet.
Dieses war Stentors wiz nicht, so sagt er, es war nur ein glüksfall
Weil er vor mir gelebt; und hätt ich früher gelebt,
Hätt ich zuerst der dummheit altär' und priester geweihet.
Izo folgte er Stentorn u. räucherte mit ihm der dummheit.
Aber mit heimlichem Neid; er hatte schon lange gesonnen
Wie er ihn stürzt' und sich selbst zum priester der dummheit erhebe;
Aber die dummheit blieb stentorn getreu und Stentor der dummheit.

Spizig genug, und der gottselige Hr. Conferenzrath von Bar wird sich ohne zweifel daran ärgern, wie er sich an Pops dunciade geärgert hat:

Quand pope, pope, même, est en sa dunciade
Au dessous des ses vils Rivaux
.

Ich muß meinen jüngern aufsproßlingen in dergl. dingen bisweilen den Zügel verhängen. Izt hat doch der gütige W. mit stentorn mitleiden, seitdem er sein schreiben eines unbekannten aber redlichen gelehrten aus Paris, und die Recension, so davon in commentariis lipsiensibus literariis steht gelesen hat. Wie kömmt es ihm so wohl daß die natur ihn so reichlich mit dem ding versehen, womit sie nach der anmerkung Hrn. prof. Nicolai auch Wielands und meine seele begabet hat, die das Auszischen des ganzen publici, das wir schon so großmüthig ertragen haben, nicht aus der Fassung sezen kann. Bl. 81.

Im XIV stücke der Fr: Nachr. sehen sie den Anhang zum achten Briefe Edw. Grandisons nach. Hr. prof. Mich. wird da ziemlich derb auf die finger geklopfet. Hier hat man das göttingische stük, wo Nicolais Briefe recensirt sind, noch nicht gesehen. Hr. von Haller wird schon sorgen, daß Michaelis dise zeitung zu lesen bekomme. Hr. von Haller hat weniger Ehre mit publication seiner kleinen schriften in Bern und hier aufgelesen, als sie verdienen. Vermuthlich nicht, weil dise schriftchen schlecht seyn, sondern weil man außerordentliches von ihm erwartet hat. Wer etwas vortreffliches gemachet hat, hat sich die Verbindung aufgeleget, daß er nichts schlechteres machen darf. Hr. von Voltär soll izo in Bern seyn, dasigen stand um seine protection zu sollicitiren. Er wollte gern in seinen staaten leben. Ich zweifle daß er wol werde empfangen werden. Man weiß von ihm, daß er in Lausanne unverdeckt genug jungen leuten vom deisme, und libertinage unterricht giebt, und jünger machet. Dieses pflanzet weder friedfertige noch gehorsame Unterthanen.

Es ist gut daß es Wielanden gelungen zum wenigsten eine Zeitlang verborgen zu bleiben. Ich rede von der ankündig. der dunciade. Ich kann nicht errathen woher sie ihn entdekt haben. Auf ihn rathen haben sie wol können, und das war richtiger als auf Lessingen zu rathen; von dessen Gründlichkeit ich noch eine sehr schlechte meinung habe.

Izt haben einige von meinen jungen bekannten, die sonst jedermann noch unbekannt seyn wollen, Vosen wieder ein paar stüke geschikt. Sie haben die Freiheit genommen, ihm zu sagen, wenn er nicht gut fände die sachen zu drucken, so solle er sie Ihnen m. Freund übergeben, sie wollten sich ihnen zu rechter Zeit bekannt machen. Im Fall diese Freiheit Ihnen nicht gefällt, so melden sie es mir, ich will schon vorsehung thun, daß ihnen mit dergl. geschont werden.

Es thun sich hier und dar junge leute von lebhafter Einbildungskraft hervor, die ich der belehrung und der Ermunterung werth halte. Von einem solchen ist die neue Erzählung von Inkel und Yarico. Ich weiß nicht, wie Hr. Gellert sie aufnehmen wird. Und was wird er zu der Recension davon sagen, die im achten und neunten stück der Fr. Nachrichten stehet? Diese Recension besteht gröstentheils aus Sätzen, die das Gegentheil dessen sagen, was er selbst in der vorrede zu seinen Lustspielen gesagt hat. Er wird aber dise stüke, ich meine die Recension, schwerlich vor Ostern 1757 zu sehen bekommen. Er ist ein so guter mann, und er hat so gute, so artige, Dinge geschrieben, daß ich gerne verwehren wollte, so gut ich könnte, wenn jemand ihm verdruß machen sollte. Es wird ihm aber auch nichts schaden, wenn er lernet großmüthig seyn, und die auszischungen nicht des ganzen sondern nur eines geringen theiles des publici so ertragen, daß er nicht aus der Fassung gesezet wird.

Ich zweifle nicht ich werde dise tugend noch mehrmals gelegenheit haben auszuüben. Vornemlich, wenn man meine veränderungen in der Noachide sehen wird. Man wird es wizig genug zu mißbrauchen wissen, daß ich nöthig gefunden veränderungen zu machen.

Mein zunehmendes alter hat mich erinnert, daß ich nicht lange auf eine Zweite ausgabe warten könnte. Hr. Nicolai möchte wol ein prophete seyn, daß es niemals zur zweiten ausgabe kommen könnte. Ich habe der sache nicht besser zu helfen gewust. Da es auf etwas so weniges und so ⟨äusserliches⟩ angekommen ist, daß Montesquieu mit seinem Esprit des loix nicht verdammt worden ist; da eine solche menge skarteken wider ihn gedrukt worden, als ob er unter barbaren gelebt hätte; warum sollt es mich befremden, wenn ich dises schiksal nicht vermeiden kann?

Zwischen vorhergehenden und diesen blatt hatte ich das vergnügen Hr. stadtschreiber auf meinem Zimmer zu sehen. Ich wollte daß wir auf hiesigem rathhause zweene hätten, die in politischen sachen so dächten und so handelten. Sie glauben gern, daß Sie Antheil an unserm gespräche gehabt haben.

Ich fürchte Hr. diacons Waser Übersezungen der swiftischen schriften werde wegen der Menge schweizerischer Schnizer hier und da Anstoß geben. Er hat nicht nöthig gehalten sie davon zu reinigen. Wir sind glücklich wenn man uns unter die suizerisme nicht die ungewöhnlichen Metaphern und Wendungen rechnet, welche noch so verständlich und in der Natur der sachen noch so begründet sind.

Schuldheiß ist mit seinen briefen Fizborn's gar zu eilfertig gewesen; und hat das ding mit niemand berathschlagt.

Hr. Geßner hat Idyllen herausgegeben, die in dem geschmake seines Daphnis geschrieben sind, und aus den Tagen des Theocritus scheinen. Das bäuerische schäferstük im angenehmen und nüzlichen hat unsere leute geärgert. Sie haben es für ein ernsthaft stück genommen und sehr weise gefunden, der poete sollte nur die schöne natur schildern. Sie wünschten eben so klug daß diese bäuerische natur nicht natur wäre. Niemand hat sich einfallen lassen daß Gay der verfasser wäre; was Engelland, Pope und Swift für lustigen Humour genommen haben, hat unsere kenner kalt und ekelhaft gedünket.

Wenn Vos gut findet die zwey satyrischen stücke zu drucken so soll er Ew. HochEdelg. von jedem stücke ein Duzend Abdrüke für die unbekannten verfasser zustellen. Haben Sie die güte sobald dises geschieht mich davon zu benachrichtigen.

Doctor Zimmermann sagt daß seine Gedanken von dem Erdbeben in Berlin nachgedrukt worden. Durch wessen Veranstaltung mag das geschehen seyn; und wie hat man das ding aufgenommen? Er hat seither die dunkelheit dises stückes erkannt, und ein anderes deutlicheres gedicht über dieselbe materie verfertiget. Er schmähet gern auf die Poesie, und bekennet gern seine Kleinigkeit in dieser schreibart, doch schreibt und denkt er immer. Ich zweifle daß er sich leiten lasse. Michaelis und noch einer haben ihn halbverderbt.

Hr. Escher ist seit acht tagen angekommen. Ich habe ihn aber noch nicht gesehen. Er erzählt viel sottisen, so er in Leipzig über Gottscheds Capitel vernommen und zum theil selbst von ihm gehöret.

Wissen sie nicht, aus was für personen die Gesellschaft der Freunde der schönen Wissenschaften vormals in Halle izo in Frankfurt an der Oder bestehet. Ich wollte doch gerne die Nahmen derer haben, die mich so sehr vertrillert haben. Ich darf dises wol in meines collegen sprache sagen. Ist nicht Ewald, ist nicht Kl. selber von ihnen? Der pastor Lange könnte auch wohl zu ihnen gehören.

Ich möchte wol leiden daß die Art vorrede zu der neuen Erzählung von Inkle und Yarico in Berlin gedrukt würde; wenn sie glauben daß Hr. Gellert dadurch kein unrecht geschieht. Ich glaube es nicht; aber er könnte sich für beleidiget halten durch den blossen Einfall eines andern, der sich mit ihm hat messen wollen. Vielleicht könnte ihm das ding auch würklich schaden thun.

Was sagen sie dazu, Heidegger will die besten Critischen und satirischen stüke, in prose, die von den so genannten schweizern oder Zürchern seit 1744 bis izo absonderlich, oder zerstreut, oder in den freymüthigen nachrichten herausgekommen sind, zusammendruken. Man könnte dieses werk als die fortsezung der sammlung Zürcherischer streitschriften ansehen.

Man verläst sich in Deutschland sehr darauf daß die beurtheilungen die in der Schweiz gedrukt werden, in geringer Anzahl nach dasigen gegenden kommen. Man leget den schweizern Schmähungen, Cabalen, Parteilichkeiten, zur last, deren sie nicht schuldig sind, und welche eine kurze Einsicht in ihre schriften bald zernichten würde. Ich denke das sey ein buchhändlerisches unternehmen, und ich könne unbekümmert zusehen, wie es gerathen werde.

Ich habe keine neue Arbeit vor mir, ich werde den Frühling und sommer mit den alten schwäbischen poeten zubringen, denen ich, wie Hr. Nicolai so geschikt wahrgenommen hat, so viele Wendungen zu danken habe.

Hr. von Haller klaget sich in allen Briefen, daß er um der Schweizer willen so viel leiden müsse, ungeachtet er keine partey nehme, und sich so geduldig aufführe. Er wollte vermuthlich lieber, daß wir allein verlästert würden; aber wenn er das wollte, so würde er uns nicht für sehr unschuldig halten.

Ich verbleibe mit unwandelbarer liebe

Ihr gehors. Ergebenst. Dr.
Bodmer

Zürch den 10. April 1756.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.

Eigenhändige Korrekturen

Dieses pflanzet weder
Dieses machetpflanzet⌉ weder

Stellenkommentar

Zweiten stücke der freym. nachrichten [...] im sechsten stücke
Vgl. die entsprechenden Anmerkungen in den Freymüthigen Nachrichten, St. 2, 14. Januar 1756, S. 10 f. und St. 6, 11. Februar 1756, S. 44–46.
satyre mit denen Zügen
Die folgenden Verse sind gegen Gottsched, der hier als Stentor bezeichnet wird, und Nicolai (Sosius) gerichtet.
Pops dunciade
Verse aus G. L. von Bar, Rêveries poétiques sur des sujets différens, 1755, S. 170.
schreiben eines unbekannten aber redlichen gelehrten aus Paris
Anonym, Schreiben eines unbekannten, aber redlichen Gelehrten aus Paris, an den Aufseher des Neuesten aus der anmuth. Gelehrsamkeit, 1755. In dem Schreiben wurde Gottsched angegriffen. Vgl. C. M. Wieland [Rez.], Ignoti sed boni viri Epistola ad nouissimorum ex eruditione iucunda Episcopum. In: Commentarii Lipsienses litterarii 2, Th. 1, 1755, S. 53–67.
anmerkung Hrn. prof. Nicolai
Bodmer nimmt in diesem wie in den vorhergehenden Briefen irrtümlich an, Gottlob Samuel Nicolai, Professor in Frankfurt an der Oder, sei zugleich Herausgeber und Verfasser der Briefe über den itzigen Zustand der Schönen Wissenschaften. Seine Anmerkungen gelten vielmehr Friedrich Nicolai, dem jüngeren Bruder des Professors. Zu diesem Abschnitt vgl. den Passus im siebten Brief in: [F. Nicolai], Briefe über den itzigen Zustand, 1755, S. 81: »Ich hoffe übrigens, daß Sie diesen höflichen Schweizer [Wieland], dem schönen Geschlechte, zusamt dem entzyckenden Complimente, das er demselben so unverhoft macht, empfehlen werden. Sie können es ganz sicher thun, dann es ist leicht einzusehen, daß der Zorn des ganzen schönen Geschlechts dieser edlen Selen, so wenig aus ihrer Fassung werden sezzen können, als das Auszischen des ganzen Publici, das sie schon so großmüthig ertragen haben!«
Anhang zum achten Briefe
Freymüthige Nachrichten, St. 14, 7. April 1756, S. 109–111. Bodmer zitiert hier aus Michaelis' Rezensionen und wirft diesem eine »gezierte Art« und »kalte[n] Scherz« vor.
Voltär soll izo in Bern
Voltaire wollte in dieser Zeit das Schloss Allaman bei Morges käuflich erwerben. Die Bewilligung wurde ihm von der Stadt Bern verweigert, da man fürchtete, Voltaires Ansiedlung könnte zu Aufruhr führen.
in Lausanne
Voltaire hatte 1755 das Herrenhaus Grand-Montriond zwischen Lausanne und Ouchy gepachtet.
einem solchen
Bodmers in Nordamerika situiertes und die Geschichte zwischen einem Europäer und einem Indianermädchen schilderndes Gedicht Inkel und Yariko. Der Stoff war beliebt. Gellert hatte die Verserzählung Inkle und Yariko bereits 1746 publiziert (Fabeln und Erzählungen, Bd. 1, 1746, S. 25–30). 1757 veröffentlichte sie Jacob Immanuel Wächtler im Journal Etranger in französischer Übersetzung. Salomon Geßner verfasste wenige Zeit später eine Fortsetzung zu Bodmers Gedicht in Prosa (vgl. Brief letter-bs-1756-09-29.html). Zu dem literarischen Stoff siehe I. Kunz, Inkle und Yariko, 2007.
im achten und neunten stück
Freymüthige Nachrichten, St. 8, 25. Februar 1756, S. 61. – St. 9, 3. März 1756, S. 67–69.
schäferstük im angenehmen und nüzlichen
In der von Schulthess redigierten Wochenschrift Das Angenehme mit dem Nützlichen erschien 1755 Salomon Geßners Die Viole.
Gay der verfasser
Anspielung auf John Gay, den berühmten Zeitgenossen und Freund von Swift und Pope, der vor allem pastorale Schriften wie The Shepherd's Week verfasste, aber zuweilen auch auf die Satire zurückgriff.
gedicht über dieselbe materie
J. G. Zimmermann, Die Zerstörung von Lisabon ein Gedicht, 1756. Zimmermann hatte bereits kurze Zeit nach dem Erdbeben von Lissabon vom 1. November 1755 Gedanken bey dem Erdbeben das den 9. Christm. 1755. in der Schweitz verspühret worden verfasst, welche Anfang 1756 in Zürich erschien. Ein Berliner Nachdruck dieser Schrift konnte nicht ermittelt werden.
Gesellschaft der Freunde der schönen Wissenschaften
Von Gottlob Samuel Nicolai in Halle gegründet, übersiedelte die Gesellschaft der Freunde der schönen Wissenschaften 1753 mit der Berufung Nicolais an die Viadrina nach Frankfurt an der Oder.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann