Brief vom 5. September 1754, von Bodmer, J. J. an Sulzer, J. G.

Ort: Zürich
Datum: 5. September 1754

Mein theuerster Freund.

Ihr ungewünschtes Schreiben vom 15 Junius hat den Schmerzen, den zwanzig jahre nur eingeschläfert hatten, bey mir in seinem stärksten gefühl wieder aufgeweket. Es war als ob mein so lange beweintes kind allererst mit ihrer Melissa gestorben wäre. Ich hatte das Herz nicht Ihre Klage meiner Liebsten vorzulesen damit sie nicht darüber zerflösse. Ich selbst habe mich nicht überwinden können ehender auf diese traurige nachricht zu antworten und izo noch zittere ich vor dem Gedanken, wie viel schöne hoffnungen, wie viel gegenwärtige Freuden Sie verlohren haben.

Freuden wichen von dir welche zu sehen oft
Aus den Sphæren herab Engel gestiegen sind!

Wie hat auch mich die Muse getäuscht, da sie mir verheissen hat,

Wenn nach kurzem mein geist zu leiblosen Chœren entflohen
Wyrde Sie kommen und meinen todtenhygel nur finden
Und auf das prachtlose grab neu-entfaltete rosen verstreuen –

Auch dieses Band mit der Zukunft womit ich mir beym mangel eigener Kinder geschmeichelt hatte ist mir abgeschnitten. – Wie stechend diese klagen sind, so gestehe ich mir doch mitten unter denselben daß sie ganz unbillig sind. Die theuerste Melissa ist wol aufgehoben und das gröste Übel das ihr geschehen könnte, wäre, daß unsere Nachwehen sie wieder auf diese elende Erde zurükbrächten. Es ist nur der theil von meiner seele, der tiefer in den körper verwikelt ist, welcher mir solche Klagen in den Sinn leget; und es ist zeit daß die höhere Seele ihre herrschaft wieder übernehme. Sie, mein freund und ihre theure, betrübte Wilhelmine, werden dieses etwas später thun, doch wird ihre Philosophie und Gottseligkeit Ihnen nicht so sehr entstehen, daß sie es nicht in Kurzem thun werden. Izt wünschte ich, daß ich sie zu zerstreuen, etwas vor ihre augen bringen könnte, welches ihrer aufmerksamkeit würdig wäre. Sehen sie ob die neuen Hymne dises thun können. Ihr verfasser ist izt mit Ausführung seines unterrichtungsplanes einzig beschäftigt. Vier junge menschen von gutem Hause sind ihm übergeben worden, und er bezieht von ihnen ein jährliches gehalt von Gulden 500. Er hat sein logis izt bey dem doctor Geßner, der mit meiner schwester verheurathet ist. Hr. Spalding hat ihn zu dem freiherrn von Arnimb eingeladen, und die Einladung war so entzükend daß sie einen hätte hochmüthig machen können; meiner gedenkt Hr. Spalding mit keinem worte, ausgenommen in dem umschlage, als ob er mir ihn hätte entwenden wollen. Allein Zürich hat zu viel Reize von verschiedener Art für Hrn. W. als daß er es so leicht verlassen könnte.

Ich habe keine neue epische sünde auf diese Herbstmesse geschikt. Das verlohrne Paradies ist nur eine alte, rehabilitirte sünde. Ihre moralische betrachtungen über den Noah werden mir immer nöthiger. Wissen Sie auch was für einen Fluch Gottsched und Schönaich mir zubereiten? Ein Lobgedicht von dem Teufel Adramelech, der muß mir und Wielanden und Klopstoken eine gewalt in seinem reiche versprechen weil wir geschikt wären

Ungereimet und sinnlos den Heiligen ewig zu læstern
und durch den rohen gesang verdammte gedoppelt zu quælen.

Segnen sie mich mein Sulzer für diese Lästerungen, ihr schlechtester segen wird stark genug seyn alle diese Fluche zu verwerfen. Ich bin es nicht weniger zufrieden daß Lessing mich hasset. Der ist ein wiziger Satan, und ein unflätiger Gelehrter. Sey er immer der Held der Göttinger, und verseze sie durch seine Lieder in die Entzükung in welche sie weder die sündflut noch die Zulika noch die Colombona gesezet haben. Es ist schon ein segen daß Gott uns diese leute zu Feinden gemachet hat. Ein göttingischer Recensent erkennt daß Lauder und Gottsched dem Milton unrecht gethan haben, aber er erklärt sich zugleich daß er aus werthaltung gegen den Hr. professor und seine verehrer nicht richter seyn wolle.

Ich habe keine Hoffnung daß ich die erfoderte Anzahl von erklärten liebhabern zur manessischen Handschrift bekommen werde. Ich will izt die sache auf einem andern Fuß angreifen ohne daß ich fremde Hülfe nöthig habe anzurufen.

Hr. von Hagedorn schreibt mir daß er mein portrait zur hand gebracht habe. Haben Sie ihm eine Copie gesandt?

Eben derselbe meldet daß einer von seinen liebsten freunden ihm vor Ablaufe dieses sommers Wielanden in die Arme lifern wolle. Ich weis nicht wer ihm dises könnte versprochen haben, ob Hr. Abt Jerusalem od. Hr. Spalding, und noch weniger worauf dieses versprechen gegründet ist.

Sie haben vergessen das stük von dem Bauzner Naumann beyzulegen, in welchem er sich an mir, wie Sie schreiben, rächet.

Doch was für Tristes schreibe ich Ihnen anstatt solcher Sachen die Ihre Trauer unterbrechen oder beschwören könnten. Dieses ist nicht in meiner gewalt. Ich kann nichts weiter als das andenken des liebenswürdigen Kindes so aufbehalten, wie ich in einem werke thun will, welches ich entworfen habe. Ich verbleibe ihr und Ihrer geliebten Freundinn

Ergebenster
Bodmer.

Zürich den 5 September 1754

Allererst vernehme von Hr. prov – Künzli die gerüchte von Hrn. Klopstok. Hier hat man sonst gesagt, durch seine Vermittelung sey Hr. pastor Kramer von Quedlinburg zum Hofprediger an den dähnischen Hof berufen worden. Man hat auch gesagt, Hr. Keller Klopstoks und Rahnens Camerad, habe sich mit ihnen brouillirt, und eine prediger vocation in Petersburg angenommen.

Es sollte mir herzlich leid seyn, wenn ich Hrn. von Hagedorn verliehren sollte; meinen redlichsten und einzig übrigen correspondenten von den deutschen. Er war zwar kein Mathan der unter die verkehrte welt der Dunse treten durfte, der Wahrheit ein lautes Zeugniß zu geben sondern von denen [→]qui exemplum admittent et quiescendo commune crimen facient. In der hoffnung daß er noch unter den lebenden sey, habe ich hier einen brief an ihn beigelegt den ich vor ihrer Nachricht geschrieben hatte. Wäre der wakere mann gestorben, wenn sie dieses empfangen, so behalten sie disen brief an ihn, od. machen ihn unnütze. Wo nicht, so bitte ihn für ihn auf die post zu geben.

O Busenfreundinn des Mannes
Der mein wertherer ist, der schmerz in den zärtlichen Adern
Seitdem deine Melissa nicht mehr dein Antliz beseligt,
Naget dich mit gelinderem Zahn mit ersättlicherm Hunger
Zwar mit ihr sind der Hoffnungen schönsten, die sanftesten Freuden
Deinem Gesicht entflohn, – ich bin mit den stichen des schmerzens
Auch bekannt, sie haben mir auch in dem busen gesessen;
Izt erneuert dein Leid sie in ihrem schärfsten gefühlen –
Aber wie viel du beweinst, wie viel ich selber beweine,
Lilith beweinte noch mehr, nicht ihre Mahalath alleine,
Die in deren unschuldigem Lächeln ihr Mutterherz ruhte;
O sie beweinte die elendverlohrne liebe des Schöpfers.

Beilage: Eingeschlossener Brief an Friedrich von Hagedorn

Ich habe alle hoffnung aufgegeben, subscriptionen zu der manessischen handschrift zu bekommen. Hr. Schöpfli und Hr. Schellhorn haben meine Hoffnung betrogen. Izt habe ich einen andern Entwurf das werk ohne die hülfe so vieler und so grosser Gönner zum stande zu bringen. Wenn es mir damit gelingt, so werde ich die wenigen freunde, die sich für mein ersteres Projekt bemüht haben, zu unterscheiden wissen. Hr. professor Wiedeburg hat viel guten willen für den Minnegesang, aber wenig Folge. Ich wollte daß er anstatt seiner nachrichten lieber zwanzig des Jenaischen Codicis sorgfältig und fleissig geliefert hätte. Können mir Ew. Hochwolg. nicht mit einiger gewißheit sagen, ob die dein, mein, seyn, – in dem codice argenteo so oder din, min, sin orthographiert seyen. Der Hr. Bodmer, dem sie die gütigkeit hatten nachzufragen hat eine kleine station von hiesiger vorstädte einer. Der prediger und eine reiche und noch albernere Frau beschäftigen den ganzen menschen. Er lebt schlechterdings in obscuro. Dem H Stadtvogt Renner, der mit den alten naifen poeten so genau sympathisirt, bitte gelegentlich meine Ergebenheit. Ich versichere sie nochmals daß ihre briefe bey mir wol verwahrt sind, und so sollen sie auch nach meinem leben seyn. Ich geniesse damit etwas von dem vergnügen der Eifersüchtigen und der geizigen. Damit meine briefe niemand in Versuchung führen, daß er sie publicire, druke ich gern ein solches siegel der nachlässigkeit darauf welches sie genugsam bewahren kann. Man muß solche nicht für mehrers nehmen als für gedanken, die bey einer pfeife tabak oder bey groben bier kommen; welche nichtsdestoweniger freunde wie von Hagedorn, wie Sulzer sind, gern verzeihen. Ich bleibe daher mit wahrer, nicht romantischer freundschaft

Ew. Hochedelgebohren
gehorsamster diener Bodmer.

Zürich den 6 Sept. 1754.

Die italienische Übersetzung von Popes Essai on Man durch den professor Castiglioni ist noch nicht aus der presse.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 12a.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Brief Bodmers vom 6. September 1754 an Friedrich von Hagedorn mit Einschluss von B. C. B. Wiedeburg, Ausführliche Nachricht von einigen alten teutschen poetischen Manuscripten aus dem dreyzehenden und vierzehenden Jahrhunderte welche in der Jenaischen akademischen Bibliothek aufbehalten werden.

Vermerke und Zusätze

Vermerk Sulzers am oberen rechten Rand der ersten Seite: »5 Sep. 54.«

Stellenkommentar

mir verheissen
Vgl. Bodmers anlässlich der Geburt von Sulzers Tochter Henriette Wilhelmina verfasste Verse im Brief letter-bs-1752-03-28.html.
bey dem doctor Geßner
Wieland war am 25. Juni 1754 bei Bodmer ausgezogen und in Johann Jakob Gessners Haus in der Kirchgasse eingezogen (Bodmer Tagebuch 1891, S. 193. – Wieland Briefwechsel 1963, Bd. 1, S. 205 f.). Bei Gessner, der seit 1734 mit Bodmers Schwester Esther verheiratet war, hatte er »etliche schöne Lehrzimmer« (Starnes Wieland 1987, Bd. 1, S. 73) zur Verfügung und arbeitete fortan als Privatlehrer.
Spalding hat ihn zu dem freiherrn von Arnimb eingeladen
Wieland Briefwechsel 1963, Bd. 1, S. 211.
Lobgedicht von dem Teufel Adramelech
Gottsched hatte in Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit (1754, Nr. 1, S. 122–124), darauf hingewiesen, dass ein »geschickter Dichter« (gemeint ist Schönaich) den »Versuch eines Lobgedichtes, auf die ungereimten epischen Dichter, und Anhänger des Schweizer=Parnasses« unter »der Feder« habe. In dem Gedicht sollen Teufel und Engel darüber entscheiden, ob die gereimten Dichter (denen Opitz, Canitz und Neukirch beistehen) oder die ungereimten Dichter (genannt werden Bodmer, Haller, Wieland und Klopstock), die »durch ihre ungereimte und sinnlose Gesänge die Ehre der Deutschen schändeten«, im Recht seien. Die Engel beziehen hier Position für die gereimten Dichter und den Schweizern wird von den Teufeln recht gegeben: »Adramalech und Consorten behaupten dawider, daß die ungereimten Dichter Recht hätten, und eines Schutzes würdig wären.« (S. 123). Der von Bodmer zitierte Vers findet sich am Ende des Beitrages.
göttingischer Recensent
Verfasser nicht ermittelt. Die Rezension erschien in: Göttingische Anzeigen von Gelehrten Sachen, 27. Dezember 1753, St. 156, S. 1393–1396.
zur manessischen Handschrift
Vgl. Brief letter-bs-1753-09-08.html und Kommentar.
Hagedorn schreibt mir
F. v. Hagedorn an Bodmer, Hamburg, 22. April 1754 (Hagedorn Briefe 1997, Bd. 1, S. 396 f.).
vernehme von Hr. prov – Künzli
Siehe dazu Sulzer an Künzli, Berlin, 10. August 1754 (SWB, Ms BRH 512/71): »Klopstok ist verheyrathet, Er befindet sich Krank bey seinen Ältern. Es gehen zwey sehr entgegengesezte Gerüchte von ihm herum. Der König von Dännemark habe ihm seine Pension genommen – und Er habe sie ihm verdoppelt. Das erstere kömmt aus der Gegend von Quedlinburg und das andere habe ich von Ramlern. Der Hr. von Hagedorn hat mir sagen laßen, daß es sehr schlecht um ihn stehe. Das Podagra ist bey ihm zurük getreten und hat ihm eine Wassersucht verursachet, die ihm wol das Leben kosten könnte. Geben Sie unserm Bodmer Nachricht von diesen Neüigkeiten.«
Hr. Keller Klopstoks und Rahnens Camerad
Hans Caspar Keller vom Steinbock (auch Keller von Goldbach) begleitete Klopstock und Hartmann Rahn auf ihrer Reise nach Kopenhagen. Keller war später Stadthauptmann und Mitglied des Großen Rates in Zürich.
Mathan
Zur Figur des Mathan vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1753-12-06.html.
qui exemplum admittent
Tac. his. I, 30. Übers.: »Wollt ihr ein solches Beispiel zulassen, still dabei sein und so das Verbrechen verallgemeinern?« (Tacitus, Historien, 2014, S. 46).
Aus einem entworfenen Gedichte.
Die beigefügten Verse waren an Wilhelmine Keusenhoff gerichtet.
Hr. Bodmer
Melchior Bodmer.
Stadtvogt Renner
Zu Caspar Friedrich Renner vgl. Kommentar zu Brief letter-bs-1755-12-01.html.
italienische Übersetzung
Die Übersetzung von Popes Essay on Man durch den Mathematikprofessor Giovanni Castiglioni erschien unter dem Titel Saggio Sull' Uomo erst 1760.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann