Brief vom 20. Juni 1777, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 20. Juni 1777

Lange, mein theürester, habe ich Sie ohne Nachricht von mir gelaßen: aber eben so lange habe ich auch nur halb gelebet. Der Winter hatte mich beynahe ad vitam minimam gebracht, der Frühling und der angehende Sommer, die mich wieder stärken sollten, haben nichts vermocht, und noch izt bin ich ausgezehrt, schwach und zu jedem, auch dem kleinesten Geschäffte untüchtig. Es scheinet, daß meine Uhr bey nahe abgelauffen, und daß kein Schlüßel, sie wieder etwas aufzuziehen, zu finden sey. Ich denke also Ihnen noch zuvorzukommen, um dahin zu gelangen, wo unser Breitinger nun seit einem halben Jahr ist.

Mein Zustand wird durch die gänzliche Untüchtigkeit mich zu beschäfftigen, unangenehm. Zum Spazieren gehen fehlen mir die Kräffte; fürs Lesen habe ich keine Lust, und Schreiben ist mir eine Marter. Also bin ich nie à mon aise, als wenn ich Gesellschafft habe, die ich doch nicht den ganzen Tag haben kann. Wie viel glüklicher sind Sie mein Theürester, daß Sie sich noch beschäfftigen können. Wenn aber meine lezten Tage wenig vergnügt sind; so sind sie doch ruhig. Ich genieße doch mit Lust jeden kleinen Zeit Vertreib, der sich mir anbiethet, und die Gesellschafft hat alle Annehmlichkeit für mich, die sie in meinen besten Tagen gehabt hat. Izt erwarte ich meine Kinder und Kindeskinder aus Dreßden, in deren Gesellschafft ich den Sommer vergnügt zuzubringen hoffe. Meine Tochter hat zwey Jungen, die den Demokritus und Heraklitus vorstellen. Denn der ältere ist die Ernsthaftigkeit selbst und kann kaum dahin gebracht werden, daß er den Mund zum Lächeln verzieht, da der andre immer lacht und vergnügt ist.

Unser Haller hat mir die Ehre erwiesen dem 1 Theil der Samlung deütscher Briefe an ihn, meinen Namen vorzusezen. Ein paar Briefe von Ihnen, kommen auch in der Samlung vor, die Klopstok etwas schamroth machen werden.

Vor einiger Zeit besuchte mich der junge Kauffman aus Winterthur eben der energumene von dem das meiste in dem wunderlichen Allerley herrühret. Er hat sich eine Zeit lang in Weimar aufgehalten. Wenn ich, nicht seinen Urtheilen, an denen die Beurtheilungskrafft wenig Antheil hat, sondern seinen Erzählungen Glauben kann; so ist in dem Herzog von Weimar ein mänliches Fürstengemüth verborgen, das sich künfftig entwikeln wird, und Göthe ist der Mann, dem man diese Entwiklung wird zu danken haben. Nach eben solchen datis ist Wieland im Gesellschaftlichen Leben ein schwaches Kind. Herder aber ist ganz des Kauffmans Held. Doch konnte er mir auf ein Dilemma, das ich ihm über sein Urtheil von diesem Mann entgegen sezte, nicht antworten. Mir, sagte ich, scheinet Herder ein Narr oder ein Schalk zuseyn. Für das erste halte ich ihn, wenn er im Ernst glaubt, daß im 1. Cap. der Genesis aller der Schaz von Wahrheiten liege, die er darin zufinden versichert; und ein Schalk ist er, wenn er es nicht glaubt.

Dieser Kauffman glaubt Herder, er selbst und noch ein paar andre seyen von der Fürsehung dazu beruffen, die Menschen aus dem Verderben und der Abweichung von der Natur in welche die Vernunfft sie verleitet hat, wieder zurük zu bringen etc.

Ich schreibe Ihnen solche Poßen; weil ich sonst nichts zu schreiben weiß und Sie doch, da ich so lange nicht geschrieben habe, nicht mit wenigen Zeilen abspeisen mag. Da mir das Schreiben so sehr beschwerlich ist, Ihnen aber dieses so leichte wird, so hoffe ich, daß Sie mir Schreiben werden, wenn ich auch nicht antworte. Jeder Brief von Ihnen, macht mir wenigstens einen vergnügten Tag; und da wir beyde nur noch so kurze Zeit zu leben haben, so sollten wir billig sie noch recht im Genus der Freündschafft zubringen. Es scheinet freylich eine unverschämte Foderung von dem noch nicht 60jährigen Jünger, daß sein 80jähriger Meister das fürnehmste dabey thun soll: Aber was kann ich dafür, daß ich schwächer bin, als Sie?

Dieser elende Brieff kostet mir Müh und Schweiß, und hat nun das bisgen Krafft, das noch in mir ist, erschöpft. Doch muß ich, ehe ich ihn schließe, Sie noch bitten, ihren Neveu Hrn. Escher von mir bestens zu grüßen und ihn zu fragen, ob er die Bezahlung für Winkelmans Portrait, das ich richtig empfangen habe, für mich gethan, und im Fall es geschehen, könnten Sie mir den Betrag melden, damit ich nicht mit Schulden beladen von der Welt gehe.

Izt umarme ich Sie von ganzem Herzen und beynahe mit eben so lebhafter Empfindung, als wenn ich Sie leibhaftig in meinen Armen hätte. Erfreüen Sie bald durch einen langen Brief Ihren

JGSulzer.

den 20 Jun. 1777.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Anschrift

An Herrn Profeßor Bodmer in Zürich frco. Nrnberg

Eigenhändige Korrekturen

abgelauffen, und
abgelauffen, ist und

Stellenkommentar

Tochter hat zwey Jungen
Der 1774 geborene Carl Anton und dessen 1777 geborener Bruder Georg. Die antiken Philosophen Demokrit und Heraklit bildeten vor allem im Barock ein populäres Pendantmotiv. Demokrit wurde meist lachend und Heraklit weinend dargestellt.
Haller hat mir die Ehre erwiesen
Vgl. die Widmung in A. v. Haller (Hg.), Einiger gelehrter Freunde deutsche Briefe an den Herrn von Haller, 1777: »Dem würdigen Manne J. Georg Sulzer Mitgliede der Königl. Academie zu Berlin als ein Zeichen seiner ausnehmenden Verehrung der Herausgeber«.
Ein paar Briefe von Ihnen
Von Bodmer sind darin zwei Briefe abgedruckt. Der 48. Brief (vom 5. Oktober 1748) und der 58. Brief (vom 8. März 1750) zeigen, wie sehr sich Bodmer einst für Klopstock und dessen Messias eingesetzt hatte.
der junge Kauffman aus Winterthur
Der Winterthurer Christoph Kaufmann, den Karl Goedeke den »Apostel der Geniezeit« nannte und der sich in den Jahren 1776/77 in Dessau, Weimar und Berlin aufhielt, publizierte 1776 anonym Allerley gesammelt aus Reden und Handschriften grosser und kleiner Männer. Zum Zusammentreffen Sulzers und Kaufmanns siehe Düntzer Christoph Kaufmann 1882, 95–98. Sulzer tauschte sich auch in mehreren Briefen mit Zimmermann über den Besuch Kaufmanns aus. Vgl. Brief letter-sb-1777-12-23.html.
1. Cap. der Genesis
Anspielung auf Herders These, dass Genesis 1 die Aelteste Urkunde des Menschen des Geschlechts sei. Vgl. dazu Bultmann Herders Blicke auf Mose 2005.
Winkelmans Portrait
Welches Porträt Winckelmanns in Sulzers Besitz war, konnte nicht ermittelt werden. Vermutlich handelte es sich dabei nicht um ein Gemälde, sondern um einen Kupferstich. Zeitgenössische Kupferstiche nach den Porträts von Angelika Kauffmann sowie nach dem Profilbildnis von Giovanni Battista Casanova gab es bereits seit Mitte der 1760er Jahre. Zu den zeitgenössischen Porträts Winckelmanns vgl. Lacher Die authentischen Porträts Winckelmanns 2017.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann