Brief vom 18. Januar 1777, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 18. Januar 1777

Ich empfinde den Verlust ihres Breitingers mit Ihnen, mein Theürester, und habe schon vorher auch für mich selbst das Nachtheilige empfunden, das ein längeres Leben mit sich bringet. Je älter man wird, je gewißer erfährt man den Verlust seiner Freünde. Da, wir nicht selbst jünger gestorben sind, mußten wir unsre Freünde, Ich Germershausen, Arnim und Stahl, Sie Künzli, der aber auch mir gestorben ist, Zellweger und Breitinger verliehren, und so werden andere uns verliehren. Es ist denn doch gut, daß man, ehe man von allen Seiten sich verlaßen findet, selbst davon zieht. Ich habe nichts dagegen, daß der Tod Sie mit der Feder in der Hand antreffe: das ist für Sie so schiklich, als es Vespasian schiklich fand, imperatorem stantem mori. Ich bin seit etlichen Jahren mit dem Tode so vertraut worden, daß ich ihn unter die Zahl meiner Bekannten und guten Freünde zähle, mit dem ich vertraulich umgehe. Vor Kurzem habe ich einen Abend, da mich plözlich eine große Schwachheit überfiel gewiß geglaubt, daß ich den folgenden Tag nicht erleben würde, und ich fand eben nichts wiedriges dabey.

Unserm ehrlichen Dr. [→] Teller hat es sehr leid gethan, daß Breitinger die Dedication, die er an ihn, an Sak und an Vernet gerichtet hat, nicht zu sehen bekommen hat. Ich bin doch bey den schlechten Aussichten wegen der izt bey ihnen und auch in anderem Sinn bey uns herrschenden Schwermerey ganz getröstet. Sie wird nicht lange mehr herrschen. Die Vernunfft, so unthätig sie auch unsern Herdern und Stollbergen scheinet, würket anhaltender, obgleich schwächer; als die Einbildungskrafft und wird zulezt doch meister.

Den guten Lavater bedaure ich von Herzen, er verdiente doch die Sclaverey nicht, in der ihn seine Empfindungen so fest gebunden halten, und ich wünschte, daß man ihn nicht noch mehr kränkte und demüthigte.

Bis izt habe ich den Winter schlecht genug, in meiner Stube eingeschloßen und ohne befriedigende Geschäffte zugebracht: denn mein Kopf scheinet so schwach, als mein Körper zu seyn. Daher muß ich mir allerhand kindischen Zeitvertreib zu machen suchen. Izt aber scheinet es doch, daß ich das Schlimste dieses Winters überstanden habe. Wenigstens nihmt die Schwachheit nicht mehr zu und schon fange ich an bisweilen einen lächelnden Blik gegen den künftigen Frühling zu richten.

Reich will eine neüe Auflage meiner Theorie veranstallten und möchte Zusäze dazu haben; aber ich habe keine Lust sie zu machen, und der wenige Dank, den man für seinen guten Willen bekommt, muntert eben auch nicht sehr auf. Gebe nun ein andrer sich eben so viel Mühe in dieser Sache, als ich mir gegeben habe, so wird man wieder einen Schritt vorwerts kommen. Ich umarme Sie von ganzem Herzen.

JGSulzer

den 18 Jan. 77.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b. – E: Körte 1804, S. 444–447.

Anschrift

An Herr Profeßor Bodmer

Eigenhändige Korrekturen

erleben
überleben

Stellenkommentar

imperatorem stantem mori
Suet. Vesp. XXV. Übers.: »dass ein Imperator stehend sterben muss«, von Sueton in dessen Kaiserbiografien überlieferter Ausspruch Vespasians.
Teller [...] die Dedication
Siehe die Widmung Tellers in der von ihm herausgegebenen Schrift des Genfer Theologen J. A. Turretini, De Sacrae Scripturae Interpretatione, 1776, S. III–VIII.
neüe Auflage
1778 und 1779 erschien eine »zweyte, verbesserte Auflage« von Sulzers AT im Verlag Weidmanns Erben und Reich. Zur Druckgeschichte der AT vgl. SGS, Bd. 3.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann