Brief vom 30. April 1775, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 30. April 1775

den 30 Aprill 1775.

Lange und nur allzu lange mein Theürester, habe ich diese Antwort auf ihren Brief vom 1 März, aufgeschoben. Diese Versäumnis rühret daher, daß ich ihn zu der Zeit bekommen habe, da ich mich rüstete die Statt zu verlaßen und meine Sommerwohnung zu beziehen. Der Winter hatte mich, so wie der vorhergehende, wider sehr geschwächt und mich verlangte des rauhen Wetters ungeachtet, nach meiner ländlichen Hütte, wo ich durch Arbeiten die den Cörper beschäfftigen, das Gemüth aber erquiken, wieder neüe Munterkeit zu erlangen hoffte. Nun bin ich seit 6 Wochen an dem Ufer der Spree, pflanze Bäume und verrichte verschiedene Arbeiten, die der Gesundheit zuträglicher sind, als die Arbeit oder der Müßiggang des Cabinets. Unter diesen Verrichtungen aber verlerne ich insgemein das Schreiben; wenigstens wird der Geschmak an dieser Beschäfftigung dabey sehr geschwächt. Von den vielen Dingen, die mir beym Empfang ihres Briefes eingefallen und davon ich Ihnen schreiben wollte, sind mir nun die meisten entfallen, so daß Sie anstatt eines langen und an Inhalt reichen Briefes, den ich mir Ihnen zuschreiben vorgenommen hatte einen kurzen bekommen werden, der wenig anderes, als das gute alte si vales bene est, ego utcunque valeo enthalten wird. Doch weiß ich, daß auch blos die zweyte Phrasis dieser Formel, Ihnen wichtig genug ist. Ich finde mich würklich schon sehr viel stärker und munterer, als ich in den besten Monaten des Winters gewesen.

Mit ausnehmendem Vergnügen habe ich von dem Husaren Hrn. Orell gehört, daß Sie mein theürester, noch die glükseelige Munterkeit haben, die in ihrem Alter so sehr selten ist; und ihr Brief bestätiget mir die Außage des Hrn Orells.

Alle Müh, Arbeit und Sorge, die mir die Ausarbeitung meiner Theorie gemacht hat, sind mir reichlich vergolten, da ich Ihnen dadurch einige angenehme Stunden gemacht habe. Därff ich Ihnen aber gestehen, daß ich diese Arbeit izt schon beynahe vergeßen habe, und daß mir von diesem Kinde meines Geistes nur ein schwaches Andenken übrig bleibet, das dem ähnlich ist, welches ein Sohn, der bald nach seiner Gebuhrt wieder gestorben ist, zurük gelaßen hat?

Nicolai müßte ein Mensch ohne menschliches Gefühl seyn, wenn ihn nicht das Compliment, das Sie ihm durch Orell haben machen laßen und das dieser auch ausgerichtet hat, bis zum Entzüken gerührt hätte.

Die Nachricht, oder vielmehr das Gerücht von Wieland, das ich Ihnen gemeldet habe, war falsch. Doch weis ich selbst nicht recht, was ich von der Sache denken soll, da die Nachricht von Personen herkam, von denen sich gar nicht vermuthen läßt, daß sie falsch berichtet gewesen, oder falsche Zeitungen haben ausbreiten wollen. Sey dem wie ihm wolle, so gehört doch Wieland nicht zu den unsrigen, und ich sehe ihn noch immer als Bodmers verlohrnen Sohn an, der vielleicht einmal, aber zu späth, zu seinem Vater zurük zu kehren wünschen wird.

Haller schreibt mir, daß der Alte von Fernex bereits Wind davon hat, daß seine questions encyclopediques sollen beleüchtet werden. Unser philosophische Dichter macht sich auch darauf gefaßt, von dem unphilosophischen Philosophen nach seiner Art behandelt zu werden.

Der Anblik eines der schönsten Frühlings Morgens, der Gesang der Vögel, der bis in meine Cammer dringt, der Anblik der neü ausgebrochenen Blüthe der Bäume, und die reizende Grüne Einfaßung des schönen Spiegels, den die stille Spree vor meinem Fenster bildet, loken mich so reizend aus meinem Zimmer, daß ich nicht zuwiederstehen vermag. Es ist mir nicht möglich mich länger von dem Genuß des schönsten Frühlings Morgens, zurük zu halten. Erleben wir beyde noch einen Winter, so will ich alles, was ich izt gegen Sie versäume gern wieder einbringen. Izt umarme ich Sie mit einem Herzen voll Frühlings Wonne.

JGSulzer.

den 30 Aprill.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Anschrift

Herrn Profeßor Bodmer in Zürich

Vermerke und Zusätze

Vermerk einer unbekannten Schreiberhand auf der Umschlagseite: »par le Canal de votre très humble, et ob. servit. Steiner de Winterthur Leipsic le 6 May 1775«.

Stellenkommentar

Haller schreibt
Nicht ermittelt.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann