Brief vom 7. Februar 1775, von Sulzer, J. G. an Bodmer, J. J.

Ort: Berlin
Datum: 7. Februar 1775

Mich drükt der harte Winter noch mehr, als das bleyerne Zeitalter Sie mein theürester drüket. Noch habe ich dies Jahr wenig gute, oder auch nur erträgliche Tage gehabt; daher ich izt mit der Sehnsucht eines Verliebten dem Frühling entgegen sehe. Es ist ein großes Glük für mich, daß meine Theorie noch im verwiechenen Herbst fertig worden; denn diesen Winter würde sie gewiß nichts gewonnen haben. Füßlis Ode auf Sie hat mich ganz mit ihm ausgesöhnet. Sonst war ich unzufrieden, daß er mich so gänzlich vergeßen, als ob ich schon längst gestorben wäre. Hartman ist beynahe eben so undankbar, gewiß eben so wild, als Füßli; wie wol mit weniger Krafft des Genies. Seinen Urtheilen über Menschen müßen Sie nicht trauen: er übertreibt alles. Ein Mensch der Schwachheiten hat, ist ihm ein Böswicht, und wer nicht so feüerig empfindet, wie er, ist ein Dummkopf. Ich habe Koppen als einen sehr liebenswürdigen und sanften jungen Man gefunden. Ein Brief darin ich Hartman seine Hize und Voreiligkeit verwiesen, hat ihn ganz außer alle Faßung gesezt, und in eben dem Grad niedergeschlagen, als er sonst pflegt aufgebracht zu werden. Ich bin dieser großen Heftigkeit seines Charakters halber in Sorgen. Übrigens denke ich denn doch daß aus dem stürmenden Jüngling ein braver Mann werden wird. Aber wenn der Jüngling sein Glük verderbt, so wird der Mann vielleicht Mühe haben, es wieder herzustellen. An seinem Charakter als homme de lettres habe ich doch auszusezen, daß er gar zu leicht ist zu glauben, daß alles, was er denkt wichtig genug ist zum Unterricht der Welt öffentlich zu erscheinen. Und doch ist ofte viel rohes, schwaches und nur halbgedachtes darin. Aber dies ist Jugend.

Sie können ohne Erröthen mit ihrer Übersezung der Ilias vor mein Gesicht kommen; denn ich bin nicht von den Zänkern, denen mans niemal recht macht. Aber bey den Jurnalisten werden sie freylich keine Gnade finden. Diese finden überall zu tadeln. Was ehedem ein hiesiger schwacher Kopf aus Dummheit an mir getadelt, thun diese Leüte aus Chicanes. Die Historie ist lustig und ich will sie Ihnen erzählen. Er brachte mir eine deütsche Übersezung eines meiner Memoires aus den Schrifften der Academie, mit Bitte zu sehen, ob er meinen Sin getroffen habe. Ich sagte ihm, daß er eine vergebliche Mühe auf sich genommen, da diese Schrifft bereits ins Deütsche übersezt und gedrukt sey. O! das weiß ich wol, war seine Antwort, aber jener Übersezer verstund weder den französischen Text, noch das deütsche, noch die Materie, wovon die Schrifft handelt. Ich hatte so viel Mitleiden mit ihm, daß ich ihm nicht einmal offenbarete, daß ich dieser Übersezer sey. So wird es Ihnen bey den meisten Jurnalisten gehen. Wo Sie den Sin noch so richtig gegeben, wo sie schlechterdings nichts gegen eine Stelle werden anführen können, wird es doch heißen – Wie weit unter der Krafft des Griechischen Textes! Und damit hat der Jurnalist bewiesen, daß er ein wahrer Kenner, Sie aber ein Pfuscher sind. Aber Sie sind schon so gegen die Stöße dieser Leüte abgehärtet, daß dieses Sie nicht abhalten kann, ihre Übersezung zu geben.

Wie fällt Ihnen doch nach so viel Jahren Ramlers Schachspiel wieder ein? Ich durffte mir keine Mühe geben es aufzutreiben, da ich es seit 27 Jahren unter den Pamphlets liegen habe, die ich als Maculatur ansehe. Es ist mir seit so viel Jahren nie wieder eingefallen einen Blik darauf zu werffen.

Von dem Gerüchte, daß Jemand sich für den Urheber der Oßianischen Gedichte ausgebe habe ich nichts gehört; es würde mich auch in meinem Glauben an Oßian nicht irre gemacht haben. Aber dieses traue ich dem bittern Haß der Engländer gegen die Schottländer zu, daß einer sich für den Verfaßer ausgäbe und, wenn es seyn könnte, die Wahrheit seines Vorgebens durch eydliche, oder meineydliche Zeügniße bestätigte. Wer von diesem erstaunlichen National Haß unterrichtet ist, wird sich die gewaltthätigste Veranstalltung irgend eines engländischen Narren, um den Ruhm eines Schottländers zu verdunkeln, nicht befremden laßen. Daß die Sitten in Lochlin nicht runisch oder scaldisch sind, macht mich nicht irre. Es fällt dennoch sehr in die Augen daß überall, wo Scandinavier bey Oßian vorkommen, ihr Charakter und ihre Sitten sehr bestimmt gegen die caledonischen abstechen.

Ich beschuldige Sie so wenig einer Weichlichkeit, wenn Sie noch immer an der Noachide feilen, daß ich diese Beschuldigung nicht einmal machen würde, wenn die Feile bloße Sylben träffe. Ich sehe eine schöne Person gern in dem schönsten Anzug, wenn er nur würkliche, nicht eingebildete Schönheiten hat. Ich möchte den Lamech wol bey seinen jungen Enkeln sehen. Lamberts Cosmologische Briefe, werden noch manchen poetischen Einfall in Ihnen erzeügen.

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Klopst. in dem Bild des Wundermans Wielanden einen Streich versezt habe. Mich dünkt, daß izt Kl. einzige Leidenschafft ein Ungeheürer Stolz ist. Dieser hat gewiß keinen Vortheilhaften Einflus auf seine Dichtergaben gehabt. Mit Vergnügen sehe ich, daß wir auch ofte in Kleinigkeiten gleich denken. Ich trete über den Socrates in Abrahams Schooß gegen Br. und St. auf ihre Seite. Der Verfaßer ist vermuthlich unser hiesige Probst Teller, wie wol er mirs, da ich ihn im Vertrauen darüber befragte, nicht gestanden hat.

Gegenwärtig machen wir uns mit dem berüchtigten Conclave lustige Viertelstunden. Das Stük ist bis zum Erstaunen boßhaft. Da wir uns aber vorstellen, daß die Heiligen Väter würklich solche Narren und Buben seyn könnten, wie hier gesagt wird, so lesen wirs ohne Ärgernis. Für uns ist das Drama noch poßirlicher, als Sie es finden werden; weil so viel Operen, woraus die Stellen genommen sind, in frischem Andenken haften und weil wir viele Arien zugleich singen können.

Ich erwarte doch, daß in Lavaters Physiognomik, nach Abzug viel chimärischen Zeüges, viel Wahres übrig bleiben wird. Der Artikel Schönheit in meiner Theorie, wird Sie überzeügen, daß ich auch etwas lavaterisch denke.

Können Sie nicht in einem Buchladen den zweyten Theil meiner theorie gegen einen ersten Theil, der einen Rthlr. weniger kostet, austauschen um ein vollständiges Exemplar zu erhalten? Ich habe so sehr viel Exemplare zu verschenken gehabt, daß ich kaum den Muth habe meinen Verleger um mehrere anzusprechen; zumal da ich merke, daß das Werk den Abgang nicht hat, den man sich versprach, welches mich immer noch in Sorge sezt, daß Reich dabey zu kurz kommen könnte. Wenn der ehrliche Mag. Nothanker Sie mit Nicolai halb ausgesöhnt hat, so werden die Freüden des jungen Werthers die Aussöhnung vollenden.

Es ist doch mehr Schande für ihre Mitbürger, als Ehre für Sie, daß man ihren Tod abwarten muß, um ihre Verdienste nach Werth geschäzt zu sehen. Aber ist es nicht eine allgemeine menschliche Schwachheit, daß wir das Gute erst alsdenn in seinem vollen Werth erbliken, wenn wir es nicht mehr haben? Ihnen fehlte allerdings, das was der Franzose den ton imposant nennt. Um diesen zu haben, muß man ofte das feinere in Gedanken und Gesinnungen etwas herunterstimmen und denn durch eine mehrere Stärke der Stimme das ersezen, was sie an innerem Werthe verlohren haben. Ohne die körperliche Beredsamkeit richtet der größte Redner nicht viel aus, und der nur wenig klügere, als der Pöbel ist, kann, wenn ein athletischer Körper dazu kommt, sehr viel ausrichten. Die Vorstellung, daß die Wahrheiten, die wir geprediget und die Gesinnungen, die wir geäußert, lange nach unserm Tode gutes würken werden, scheinet doch allerdings ein würkliches Gut des gegenwärtigen Lebens zu seyn. Ich habe bisweilen bey Deliberationen eine Meinung geäußert, die keinen Beyfall fand. Aber ich konnte sehr ruhig und so gar mit Vergnügen sehen, daß man auf ander Arten versuchte aus der Sache zu kommen; weil mir wol bewußt war, daß man doch am Ende meinen Vorschlag annehmen würde. Dies ist würklich der Fall mit mancher Lehre, die ich in meiner Theorie gegeben habe. Da ich mir ihrer Gründlickeit bewußt bin, so kann ich lächeln, wenn ich sehe, wie man sich krümet und wendet sie zu verwerffen. Ich weiß doch, wohin man am Ende kommen wird. Und dieses ist mir genug.

Wann Sie sagen, Sie haben bey einer gewißen Gelegenheit geantwortet, ihre Constitution sey gerade die angemeßenste für ihr Volk, so gebe ich Ihnen Beyfall. Ihre Antwort ist Solons Antwort, auf die Frage, ob er die besten Geseze geben: „Nicht absolute die besten, aber die besten für eüch.” Freylich müßte man eine beßere Constitution durch vorhergegangene Beßerung des National Charakters, erst möglich machen. An diesem aber wäre, pace dominorum meorum dictum sit! überall sehr viel zu beßern. Wenn ihrem Epigram auf Kästnern in der Form etwas fehlen sollte, so ist es doch im Wesentlichen völlig gut.

Werden Sie doch nicht ungeduldig, daß ich Sie zum Boten meiner Briefe an Haller mache. Sie können sie immer so lange liegen laßen, bis Sie ohnedem jemanden der sie abgeben kann, in die Statt schiken. Er ist mit den Klopstokischen Oden und besonders mit den Griechischen Sylbenmaaßen, nicht zufrieden. Ich hatte mir vorgenommen heüte auch an Wegman zu schreiben. Aber meine Kräffte sind für heüte erschöpft. Wenn Sie Gelegenheit dazu haben, so laßen Sie ihm in meinem Namen etwas verbindliches sagen. Sie haben mir nie gesagt, wie ihr Streit mit Schwyz beendiget worden. Und nun umarme ich Sie.

JGSulzer.

Berl. den 7 Febr. 75.

P. S. So eben vernehme ich zuverläßig, daß Wieland von Weimar weg ist. Seine Denkungsart gefiel nicht mehr, und man sagt noch; er habe auf eine Hohe Person Blike geworffen, die sehr beleidiget haben.

So eben habe ich in einer Gelehrten Zeitung, die in Rom herauskommt, eine Recens. des Meßias gelesen. Der Recensent, tadelt doch verschiedenes, aber das Resultat seiner Recension ist, Deütschland und unser Weltalter habe sich glükzuwünschen, einen solchen Dichter erzeüget zu haben.

Überlieferung

H: ZB, Sign.: Nachlass Ms Bodmer 5a. – A: ZB, Ms Bodmer 13b.

Einschluss und mit gleicher Sendung

Nicht ermittelter Brief an Albrecht von Haller.

Stellenkommentar

Brief darin ich Hartman
Nicht ermittelt.
ein hiesiger schwacher Kopf
Vermutlich Johann Gottfried Herder in seiner Rezension in der Allgemeinen deutschen Bibliothek, Bd. 22, 1774, S. 5–92. Vgl. dazu Brief letter-sb-1774-09-09.html.
mit dem berüchtigten Conclave
Gaetano Sertors und Friedrich Castillons Das Conclave von MDCCLXXIV. Ein Drama für die Musik, welches im Carneval des 1775sten Jahres auf dem Theater delle Dame aufgeführet werden soll.
etwas lavaterisch denke
Vgl. Sulzer, AT, Artikel »Schönheit«, darin u. a. die Passage: »Daß die menschliche Gestalt der schönste aller sichtbaren Gegenstände sey, därf nicht erwiesen werden; der Vorzug den diese Schönheit über andre Gattungen behauptet, zeiget sich deutlich genug aus ihrer Würkung, der in dieser Art nichts zu vergleichen ist. Die stärksten, die edelsten und die seeligsten Empfindungen, deren das menschliche Gemüth fähig ist, sind Würkungen dieser Schönheit. Dieses berechtiget uns, sie zum Bild oder Muster zu nehmen, an dem wir das Wesen und die Eigenschaften des höchsten und vollkommensten Schönen anschauend erkennen können. [...] Auch die Urtheile über die Häßlichkeit bestätigen unsern angenommenen Grundsaz. Was alle Menschen für häßlich halten, leitet unfehlbar auf die Vermuthung, daß in dem Menschen, in dessen Gestalt es ist, auch irgend ein innerer Fehler gegen die Menschlichkeit liege, der durch äußere Mißgestalt angezeiget wird.« (Bd. 2, 1774, S. 1040 f.).
ton imposant
Übers.: »Bestimmender Ton«.
Solons Antwort
Die Frage und die entsprechende Antwort sind in Plutarchs Lebensbeschreibung des athenischen Staatsmannes und Gesetzgebers Solon überliefert. Vgl. Plut. vit., Solon-Poplicola..
Hohe Person Blike
Vermutlich die seit 1772 verwitwete Charitas Emilie von Bernstorff, geb. von Buchwald. Vgl. Starnes Wieland 1987, Bd. 1, S. 534.
eine Recens. des Meßias
Vgl. die anonyme Rezension zu der seit 1771 erscheinenden italienischen Übersetzung des Messias durch Giacomo Zigno. In: Efemeridi Letterarie di Roma, 1774, Bd. 3, St. 3, S. 21–23. – St. 4, S. 31 f. – St. 5, S. 39 f. Die hier erwähnte Stelle findet sich auf S. 40.

Bearbeitung

Transkription: Jana Kittelmann und Baptiste Baumann
Kommentar: Jana Kittelmann